L 11 SB 167/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 12 SB 84/20
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 167/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Die vorzunehmende Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei müssen die Instanzgerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 16. Dezember 2021 - B 9 SB 6/19 R – juris).
  2. Die Bildung eines GdB von 45 ist nicht möglich (vgl. zum Problem auch BSG, Urteil vom 14. Februar 2001 – B 9 V 12/00 R – juris). Denn gemäß § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Auch gemäß Teil A Nr. 2 e) der Anlage zu § 2 VersMedV sind nur Zehnerwerte anzugeben.
  3. Eine Aufrundung des GdB von 45 auf 50 ist auch deshalb nicht möglich, weil dies einer Rechenmethode entspräche, die nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet ist.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 11. Mai 2022 wird zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch nicht für das Berufungsverfahren zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.

 

Zugunsten des 1961 geborenen Klägers hatte der Beklagte mit Bescheid vom 7. Oktober 2010 den GdB mit 40 wegen eines Kniegelenkersatzes rechts (Einzel-GdB 30) und einer Funktionsstörung des linken Hüftgelenkes (Einzel-GdB 20) festgestellt. Am 4. September 2019 beantragte der Kläger bei dem Beklagten einen höheren GdB und das Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr). Der Beklagte ermittelte medizinisch und zog insbesondere einen Entlassungsbericht der  F-Klinik über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme des Klägers vom 24. Mai bis 14. Juni 2019 bei mit den Diagnosen einer periprothetischen Femurfraktur rechts bei Implantatversagen der femuralen Komponente und Osteolyse des Femurkondyle, Zustand nach Knie-Totalendoprothese (TEP) rechts 2007, Knie-TEP-Wechsel rechts auf eine zementierte Knie-TEP sowie Reposition und Fixation mittels 2-facher Drahtcerclage am 1. März 2019 und Zustand nach Hüft-TEP links 2010.

 

Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 9. Dezember 2019 einen höheren GdB als 40 und das Merkzeichen „G“ ab, wobei er je mit einem Einzel-GdB von 20 eine Funktionsstörung des linken Hüftgelenkes, eine Funktionsstörung des rechten Kniegelenkes und einen Kniegelenkersatz rechts berücksichtigte. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. April 2020 zurück, wobei er das Kniegelenksleiden unverändert bewertete, aber eine Funktionsstörung des rechten Hüftgelenkes und einen Hüftgelenkersatz links je mit Einzel-GdB von 10 bewertete.

 

Hiergegen hat der Kläger am 21. April 2020 Klage erhoben, die er auf die Feststellung eines höheren GdB beschränkt hat.

 

Das Sozialgericht hat Befundberichte bei dem Chirurgen S, dem Orthopäden Dr. Dr. P und dem Praktischen Arzt Dr. B eingeholt.

 

Das Sozialgericht hat bei dem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. H ein orthopädisch-unfallchirurgisches Sachverständigengutachten vom 11. Januar 2022 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung des Klägers am selben Tag erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei dem Kläger sei mit 50 festzustellen. Bei dem Kläger bestünden ein Zustand nach Implantation einer Primärendoprothese des rechten Kniegelenkes 2007, eine periprothetische Fraktur 2019, ein Prothesenwechsel auf eine gekoppelte Knie-TEP rechts im März 2019, ein chronischer Reizzustand des rechten Kniegelenkes und ein Lymphödem, des Weiteren eine mediale Gonarthrose links, ein Zustand nach Hüftkopfnekrose links 2010 mit Implantation einer Hüft-TEP links 2010, eine Coxarthrose rechts im Stadium III nach Kellgren und Lawrence und eine Ruptur der langen Bizepssehne beidseits. Die Einzel-GdB würden 10 für das Hüftgelenk rechts und 20 für das Hüftgelenk links betragen. Rechts liege nach Revisionsendoprothetik des rechten Kniegelenkes 2019 ein ungünstiges funktionelles Ergebnis mit dauerhaftem Reizzustand vor, hierfür sei nach Teil B Nr. 18.12 der versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) ein Einzel-GdB von 30 angemessen. Der Reizzustand und die Funktionseinschränkung des linken Kniegelenkes rechtfertigten einen Einzel-GdB von 10. Die Ruptur der langen Bizepssehne beidseits rechtfertige keinen Einzel-GdB.

 

Der Beklagte hat eine ärztliche Stellungnahme zu dem Gutachten zu den Gerichtsakten gereicht, wonach der Einschätzung hinsichtlich der Einzel-GdB gefolgt werden könne, nicht aber hinsichtlich des Gesamt-GdB.

 

Die auf einen GdB von mindestens 50 gerichtete Klage hat das Sozialgericht durch Urteil vom 11. Mai 2022 abgewiesen. Der Einzel-GdB für die Kniegelenksendoprothese rechts sei nach Teil B Nr. 18.12 VMG mit 30 zu bewerten. Der Mindest-GdB betrage 20, er sei aufgrund eingeschränkter Versorgungsqualität zu erhöhen, denn es bestehe bei dem Kläger ein chronischer Reizzustand, der mit einer Schwellung mit Umfangsdifferenz von + 7cm im Seitenvergleich einhergehe. Zwar bestehe kein Streckdefizit, aber die Beugung sei auf 90° eingeschränkt. Die Hüftgelenksendoprothese links sei nach Teil B Nr. 18.12 VMG mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Der Mindest-GdB von 10 sei aufgrund eingeschränkter Versorgungsqualität zu erhöhen, denn bei dem Kläger bestehe eine Insuffizienz der beckenstabilisierenden Muskulatur und ein Druckschmerz. Die Funktionsbeeinträchtigungen des linken Kniegelenkes seien nach Teil B Nr. 18.14 VMG mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Insoweit bestehe kein Streckdefizit, nur die Beugung sei auf 120° etwas eingeschränkt. Auch die Funktionsbeeinträchtigungen des rechten Hüftgelenkes sei mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten, weil die Hüftbeugung auf 90° beschränkt und die Innenrotation aufgehoben sei. Ein Gesamt-GdB von mehr als 40 könne nicht gebildet werden. Die Erhöhung des höchsten Einzel-GdB von 30 um 10 auf 40 sei leidensgerecht, eine noch weitere Erhöhung komme nicht in Betracht. Der Kläger laufe ohne Hilfsmittel in Konfektionsschuhen und barfuß mäßig raumgreifend. Nach eigenen Angaben könne er zwei bis drei km zurücklegen. Das Treppensteigen sei ihm am Geländer möglich. Zehen- und Fersenstand seien ohne Einschränkungen möglich. Es erfolge keine Dauermedikation, vielmehr würden Schmerzmittel der Stufe I nach WHO bei Bedarf verwendet.

 

Gegen das ihm am 13. Juni 2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 7. Juli 2022 Berufung eingelegt. Er rügt, dass das Sozialgericht nicht dem aus seiner Sicht überzeugenden Sachverständigengutachten gefolgt sei.

 

Der Senat hat auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bei dem Chirurgen Prof. Dr. G ein unfallchirurgisches Sachverständigengutachten vom 12. Januar 2023 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 9. Januar 2023 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei dem Kläger sei mit 45 festzustellen. Dabei sei eine gering- (Halswirbelsäule) bis leichtgradige (thorakolumbale Wirbelsäule) funktionelle Auswirkung der degenerativen Wirbelsäulenerkrankung mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Das inkonstante und leichtgradige sensible Nervus ulnaris-Syndrom mit Einschlafen der Finger 4 und 5 beider Hände sowie die Schmerzhaftigkeit der endgradigen Bewegung beider Schultern sei mit einem Einzel-GdB von 5 zu bewerten. Im Bereich der unteren Extremitäten bestehe eine schmerzhafte Varusgonarthrose links, eine schmerzhafte Coxarthrose rechts und ein Zustand nach endoprothetischem Gelenkersatz des linken Hüftgelenkes sowie des rechten Kniegelenkes, dies relativ unkompliziert für das linke Hüftgelenk (eingeschränkte Hüftrotation), aber kompliziert für das rechte Kniegelenk, da dort einhergehend mit einem chronischen Reizzustand, einer Instabilität und einer relevanten Beinverkürzung sowie Bewegungseinschränkung. Der Einzel-GdB für das linke Kniegelenk (Kombination aus Varusstellung der Beinachse) betrage 15, der für das rechte Hüftgelenk mit einer Arthrose und einer geringfügigen Bewegungseinschränkung ebenfalls 15. Der Einzel-GdB für das linke Hüftgelenk betrage 20, da außer dem endoprothetischen Gelenkersatz die Rotation relevant eingeschränkt sei. Der Einzel-GdB für das rechte Kniegelenk betrage bei endoprothetischem Gelenkersatz einhergehend mit einem chronischen Reizzustand, einer Beinverkürzung, einer Bewegungseinschränkung und einer Instabilität 30. Der Gesamt-GdB betrage nicht 50, wenn man den jeweils mit GdB von 50 zu bewertenden Verlust einer kompletten Hand oder eines kompletten Unterarms oder von mehr als fünf Fingern oder eines Beines im Unterschenkel bei genügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes und der Gelenke dagegenhalte, weil der Kläger unter objektiven, die funktionellen Belange berücksichtigenden Gesichtspunkten, besser gestellt sei. Der GdB liege knapp darunter und sei mit 45 zu bewerten.

 

Der Kläger weist darauf hin, dass es einen GdB von 45 nicht gebe und dieser auf 50 aufzurunden sei.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 11. Mai 2022 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2020 zu verurteilen, zugunsten des Klägers den Grad der Behinderung mit 50 festzustellen.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ausweislich einer zuletzt vorgelegten ärztlichen Stellungnahme betrage der GdB sogar nur 30.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 SGG.

 

Die Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist zutreffend. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 9. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 40.

 

Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) in seiner seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind seit dem 1. Januar 2009 die in der Anlage zu § 2 VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ zu beachten, die durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928), vom 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124), vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I Seite 2153) und vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122) sowie durch Gesetze vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I Seite 3234), vom 17. Juli 2017 (BGBl. I Seite 2541) und vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I Seite 2652) Änderungen erfahren haben.

 

Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Grundsätzen als Grad der Behinderung in Zehnergraden zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 152 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV).

 

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist der GdB hier seit Antragstellung am 4. September 2019 mit 40 zu bewerten. Dies folgt aus einer Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H, das auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers sowie einer kritischen Würdigung der sonstigen medizinischen Unterlagen beruht und sowohl auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehre als auch im Einklang mit den versorgungsmedizinischen Grundsätzen erstattet worden ist. Die Abweichung von der Einschätzung von Dr. H bei der Gesamt-GdB-Bewertung begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Denn die vorzunehmende Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei müssen die Instanzgerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 16. Dezember 2021 - B 9 SB 6/19 R – juris).

 

Das Sozialgericht hat unter Bezugnahme auf das Gutachten von Dr. H die Einzel-GdB für die jeweiligen Funktionsbeeinträchtigungen zutreffend ermittelt. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffende Entscheidung des Sozialgerichts, vgl. § 153 Abs. 2 SGG.

 

Der Senat geht von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und Einzel-GdB aus:

 

  • Kniegelenksendoprothese rechts bei nicht bestmöglichem Behandlungsergebnis (30 nach Teil B Nr. 18.12 der Anlage zu § 2 VersMedV),
  • Hüftgelenksendoprothese links bei nicht bestmöglichem Behandlungsergebnis (20 nach Teil B Nr. 18.12 der Anlage zu § 2 VersMedV),
  • Funktionsbeeinträchtigungen des linken Kniegelenkes (10 nach Teil B Nr. 18.14 der Anlage zu § 2 VersMedV),
  • Funktionsbeeinträchtigungen des rechten Hüftgelenkes (10 nach Teil B Nr. 18.14 der Anlage zu § 2 VersMedV).

 

Entgegen der Einschätzung von Prof. Dr. G liegt bei dem Kläger kein mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewertendes Wirbelsäulenleiden vor (vgl. Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV). Die von ihm erhobenen Befunde tragen eine solche Bewertung nicht. Allerdings würde sich auch ein Einzel-GdB von 10 nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB auswirken.

 

Der Gesamt-GdB beträgt 40. Der höchste Einzel-GdB von 30 für das Kniegelenksleiden rechts ist durch den Einzel-GdB von 20 für das Hüftgelenksleiden links auf 40 zu erhöhen. Eine weitere Erhöhung durch die Einzel-GdB von je 10 kommt nicht in Betracht. Zwar kann sich nach Teil A Nr. 3 d) bb) der Anlage zu § 2 VersMedV eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirken, was vor allem der Fall ist, wenn Funktionsbeeinträchtigungen an paarigen Gliedmaßen oder Organen - also z. B. an beiden Armen oder beiden Beinen oder beiden Nieren oder beiden Augen - vorliegen. Allerdings führen, von Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Die Annahme eines Ausnahmefalles ist auch unter Berücksichtigung, dass hier paarige Gliedmaßen betroffen sind, nicht gerechtfertigt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieser Gesichtspunkt bereits insoweit in die Wertung eingeflossen ist, als sich – wie bereits dargelegt – der Einzel-GdB von 20 für das Hüftgelenksleiden links erhöhend auf den höchsten Einzel-GdB auswirkt. Zudem sind die von Dr. H nach der Neutral-Null-Methode erhobenen Messbefunde für das linke Kniegelenk auch für die allein betroffene Streckung/Beugung mit 0-0-120° annähernd normgerecht (Prof. Dr. G hat mit 0-0-130° sogar einen Normbefund erhoben) und eine relevante Teilhabebeeinträchtigung im Alltag geht davon praktisch nicht aus. Auch die Funktionsbeeinträchtigungen des rechten Hüftgelenkes sind mit einem Einzel-GdB von 10 ausreichend bewertet und rechtfertigen nicht die Annahme, dass sich die von ihr ausgehenden Teilhabebeeinträchtigungen erhöhend auf den Gesamt-GdB wirken. Die Einschätzung, dass der Gesamt-GdB mit 40 ausreichend bewertet ist, wird durch die in Teil A Nr. 3 b) der Anlage zu § 2 VersMedV vorgesehene Wertung bestätigt. Danach sind bei der Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen unter Berücksichtigung aller sozialmedizinischen Erfahrungen Vergleiche mit Gesundheitsschäden anzustellen, zu denen in der Tabelle feste GdB-Werte angegeben sind. Insoweit sind die Ausführungen von Prof. Dr. G überzeugend, wenn er ausführt, dass ein behinderter Mensch mit den von ihm benannten Verlusten von Gliedmaßen – der Hand, des Unterarms, von fünf Fingern einer Hand, des Beines im Unterschenkel bei genügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes und der Gelenke – schlechter steht als der Kläger.

 

Im Übrigen folgt der Senat dem Gutachten von Prof. Dr. G nicht, weil hier ohne weiteres ein GdB von 40 vorliegt. Die Bildung eines GdB von 45 ist darüber hinaus nicht möglich, worauf der Kläger zu Recht hinweist (vgl. zum Problem auch BSG, Urteil vom 14. Februar 2001 – B 9 V 12/00 R – juris). Denn gemäß § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Auch gemäß Teil A Nr. 2 e) der Anlage zu § 2 VersMedV sind nur Zehnerwerte anzugeben. Nach dieser Vorgabe sind auch die sehr wenigen in der GdB-Tabelle noch enthaltenen Fünfergrade auf ganz eng umschriebene Gesundheitsstörungen bezogen, die selten allein und sehr selten genau in dieser Form und Ausprägung vorliegen, wobei sich diese Ausnahmeregelung nur auf Einzel-GdB bezieht, sie also dem Verbot der Bildung eines Gesamt-GdB genauer als in Zehnergraden nicht entgegen steht (vgl. Mecke, SGb 2023, 220, 224). Folgerichtig sieht Teil A Nr. 3 c) der Anlage zu § 2 VersMedV bei der GdB-Bildung nur die Erhöhung des höchsten Einzel-GdB um 10, 20 oder mehr vor und liegt gemäß Teil A Nr. 7 a) der Anlage zu § 2 VersMedV eine wesentliche Änderung im Ausmaß der Schädigungsfolgen oder der Behinderung nur vor, wenn der veränderte Gesundheitszustand mehr als sechs Monate angehalten hat oder voraussichtlich anhalten wird und die Änderung des GdB wenigstens 10 beträgt. Auch soweit Prof. Dr. G bei den Einzel-GdB mehrfach Fünfergrade bildet, ist ihm daher nicht zu folgen. Zum einen handelt es sich jeweils um keine Behinderungen, für die Teil B der Anlage zu § 2 VersMedV ausnahmsweise einen Fünfergrad ermöglicht. Zum anderen ermöglichen die von ihm erhobenen Befunde zwanglos Zehnergrade und zwar für das linke Knie- und das rechte Hüftgelenk je 10 und für die oberen Extremitäten 0. Die vom Kläger geforderte Aufrundung des GdB von 45 auf 50 ist zudem auch deshalb nicht möglich, weil dies einer Rechenmethode entspräche, die nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet ist.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

 

 

 

 

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Aus
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