L 8 U 2172/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 2289/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 U 2172/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 04.07.2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



I.


Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Verletztenrente im Streit.

Die 1962 geborene Klägerin erlitt am 27.11.2017 bei ihrer Beschäftigung als Arbeiterin für die A1 AG in N1 einen bei der Beklagten versicherten Arbeitsunfall. Die Klägerin stürzte an ihrem Arbeitsplatz über ein Ladekabel und stürzte auf beide Hände und ihr Kinn. Im Durchgangsarztbericht der B1 vom 24.11.2017 wurden als Erstdiagnosen eine Kontusion des rechten Handgelenks und ein Verdacht auf eine Radiusköpfchenfraktur (Bruch im ellenbogennahen Anteil des Speichenknochens) links mitgeteilt.

Nachfolgend erstellte MRT-Untersuchungen ergaben am linken Ellenbogen eine mehrfragmentäre Radiusköpfchenfraktur (15.12.2017) und eine okkulte distale Radiusfraktur mit Gelenkflächenbeteiligung am rechten Unterarm bzw. Handgelenk (20.12.2017; 15.05.2018).

Der F1 vertrat am 23.11.2018 die Auffassung, dass die Unfallfolgen am rechten Handgelenk vollständig und ohne Einschränkung abgeheilt seien. Das linke Ellenbogengelenk sei derzeit nur gering eingeschränkt, könne aber durchaus eine posttraumatische Arthrose zu einem späteren Zeitpunkt entwickeln. Die Frage nach der MdE habe sich damit erledigt.

Mit weiterer beratungsärztlicher Stellungnahme vom 27.12.2018 ordnete der D1 dem Unfallereignis vom 27.11.2017 die nicht dislozierte Fraktur des distalen Radius des rechten Handgelenks sowie die Partialruptur der Kapsel des Daumensattelgelenks und die Ruptur der SL-Ligamente sowie am linken Ellenbogen die Fraktur des Radiusköpfchens zu, da dies zeitlich plausibel sei. Alle übrigen festgestellten Schäden seien aufgrund fehlender verletzungsspezifischer Begleitverletzungen sowie aufgrund ihrer Art mit zum Teil bereits deutlich knöchernen Veränderungen dem Unfallereignis zeitlich vorzuordnen (radiokarpaler Arthrose, STT-Arthrose, Variante der Ulna mit partieller Läsion der peripheren Zone des TFCC).

Nach weiteren Ermittlungen berichtete F1 am 10.05.2019, dass eine radiale Läsion in den Befunden nicht nachweisbar sei und dass in der Summe nach der Funktionsprüfung keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Ausmaß bestehe.

D1 teilte am 23.04.2021 ergänzend mit, dass bezüglich der von der Klägerin zwischenzeitlich benannten Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) von degenerativen Veränderungen in Form von Osteochondrosen in den Segmenten HWK 4-7 auszugehen sei, welche ebenfalls aufgrund des Fehlens verletzungsspezifischer Begleitverletzungen insbesondere in den unfallnahen MRT-Aufnahmen dem Unfallereignis vom 27.11.2017 zeitlich vorzuordnen seien.

Mit Bescheid vom 18.05.2021 anerkannte die Beklagte das Ereignis vom 27.11.2017 als Arbeitsunfall mit den Unfallfolgen subjektive Beschwerden nach stattgehabtem Speichenköpfchenbruch links sowie einem körperfernen (distalen) Speichenbruch rechts und Teilzerreißung der Kapselstruktur des Daumensattelgrundgelenkes sowie Zerreißung der Bandverbindung zwischen dem Kahn- und Mondbein (SL-Band). Unabhängig von dem Arbeitsunfall lägen verschleißbedingte Veränderungen der HWS in Form von Veränderungen am Knorpelgewebe/an der Bandscheibe (Osteochondrosen) in den Segmenten der Halswirbelkörper 4-7 mit daraus resultierenden Kribbelparästhesien in der rechten Hand vor. Wegen der Folgen des Arbeitsunfalls bestehe kein Anspruch auf Rente, da beim Fehlen einer Achsenabknickung oder einer Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 80 Grad die Voraussetzungen für eine MdE um wenigstens 20 v. H. bei den Verletzungen der Klägerin nicht erfüllt seien.

Der Bevollmächtigte der Klägerin begründete den am 08.06.2021 eingelegten Widerspruch damit, das sowohl die Verletzungen im Bereich des linken Ellenbogens als auch im Bereich des rechten Handgelenks unzutreffend beurteilt worden seien. Auch seien nicht alle einschlägigen Hinweise der BG-Klinik zu weiteren Ermittlungen (Feststellungen der genauen Bewegungsmaße, Fehlen einer Begutachtung) berücksichtigt worden.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 07.09.2021 zurückgewiesen. Ausweislich der aktenkundigen Befunde bestünden nur noch subjektive Beschwerden nach Speichenköpfchenfraktur links und Speichenfraktur rechts mit Zerreißung des SL-Bandes sowie Teilzerreißung der Kapselstruktur des Daumensattelgrundgelenks. Anlässlich der ambulanten Vorstellung am 18.02.2021 hätten ein kompletter Faustschluss, eine regelrechte Motorik der rechten Hand im Seitenvergleich sowie eine seitengleiche Faustkraft festgestellt werden können. Bewegungseinschränkungen, die eine rentenberechtigende MdE rechtfertigen könnten, seien nicht festgestellt worden. Die neu aufgetretenen Kribbelparästhesien im Bereich der rechten Hand seien mit Wahrscheinlichkeit auf die verschleißbedingten Veränderungen im Bereich der HWS zurückzuführen. Die darüber hinaus verbliebenen subjektiven Beschwerden rechtfertigten ebenfalls keine rentenberechtigende MdE.

Deswegen hat der Kläger-Bevollmächtigte am 21.09.2021 Klage beim Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben, mit der er seine Kritik am Umfang der Aufklärung des Sachverhalts wiederholt und vertieft hat. Bereits zu Beginn der Behandlung nach dem Arbeitsunfall seien wesentliche Verletzungen nicht rechtzeitig dokumentiert worden. Im Übrigen habe auch im Hinblick auf einen ausgeprägten Kraftverlust der rechten Hand eine neurologische Begutachtung erfolgen müssen. Schließlich fehle es auch an einem handchirurgischen Gutachten.

Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen angehört. Die T1 hat am 25.11.2021 mitgeteilt, dass sie die Klägerin nur einmalig am 11.02.2021 neurologisch untersucht habe, wobei die vorgeschlagene membranstabilisierende Medikation von der Klägerin abgelehnt worden sei. Zu Unfallfolgen im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung könne sie keine Stellungnahme abgeben.

Der K1 hat am 09.12.2021 einen Ausdruck seiner Behandlungsdokumentation ab dem 13.09.2018 vorgelegt und insoweit insbesondere auf die vorliegenden MRT-Befunde hingewiesen; darüber hinaus könne er eine Einschätzung der Unfallfolgen nach einem erneuten, vollständigen Studium der Akte sowie einer körperlichen Untersuchung der Klägerin abgeben.

Das SG hat ein Gutachten bei dem W1 eingeholt, welcher dieser am 21.01.2022 vorgelegt hat. Die Unfallfolgen bezeichnete er wie folgt:
-  Speicherköpfchenbruch links, knöchern verheilt, ohne objektivierbare Funktionseinschränkun-
   gen
-  Handgelenksdistorsion und Prellung mit körperfernem Speichenbruch rechts, knöchern verheilt
- Teilzerreißung der Kapselstruktur des Daumensattelgrundgelenks sowie Teilzerreißung der   Bandverbindung zwischen dem Kahn- und Mondbein (SL-Band) ohne Nachweis einer persistierenden Instabilität mit anhaltende leichten Funktionseinschränkungen des rechten Handgelenks.
Alle übrigen bei der Klägerin festgestellten Schädigungen auf seinem Fachgebiet seien aufgrund fehlender verletzungsspezifischer Begleitverletzungen sowie aufgrund ihrer Art mit zum Teil bereits deutlichen knöchernen Veränderungen dem Unfallereignis zeitlich vorzuordnen:
- degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule, erstmalig am 10.03.2011 beschrieben
- arthrotische Veränderungen im Daumensattelgelenk, bereits zum Zeitpunkt des Unfallsereig-
   nisses vom 27.11.2017 beidseitig vorliegend, was auf eine schicksalshafte und nicht unfall-
   bedingte Entstehung hinweise.
Im rechten Handgelenk finde sich eine geringe Bewegungseinschränkung für die Streckung im Seitenvergleich um 15 Grad. Die Beugung sei im Seitenvergleich um 15 Grad, die Seitneigung ellenwärts um 10 Grad und die Seitneigung speichenwärts um 5 Grad limitiert. Die unfallbedingte MdE sei um die 10 v. H. zu bewerten. In der unfallmedizinischen Literatur werde eine MdE um 10 v. H. bei einem Speichenbruch mit Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 40 Grad empfohlen (Schönberger/Mertens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage, S. 581). Ein Speichenbruch mit erheblicher Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbeweglichkeit um insgesamt 80 Grad führe zu einer MdE von 20 bis 30 v. H., gleichermaßen auch eine isolierte Speichenpseudarthrose. Bei der Klägerin bestehe keine Achsenabknickung, was bei einer okkulten Fraktur nicht zu erwarten sei. Es zeige sich jedoch eine Bewegungseinschränkung um insgesamt 45 Grad im Seitenvergleich. Ferner habe sie eine begleitende Kapselbandverletzung. Insgesamt sei eine MdE um 10 v. H. angemessen. Eine MdE um 20 v. H. sei bei insgesamt geringer Bewegungseinschränkung, Fehlen einer Achsenabknickung, Fehlen von Reizerscheinungen und Fehlen einer Muskelminderung deutlich zu hoch angesetzt. Eine neurologische Begutachtung sei nicht erforderlich, da aussagekräftige neurologische Befunde vorlägen. Ferner hätten sich bei seiner gutachterlichen Untersuchung bis auf die Angabe von Gefühlsstörungen im rechten Daumen und an der rechten Kleinfingerkuppe keine neurologischen Auffälligkeiten gefunden. Die Klägerin scheine diesbezüglich auch im Alltag nicht gestört zu sein zu. Auf die Nachfrage in der Untersuchungssituation, ob die Klägerin diese Gefühlsstörungen immer habe, habe die Klägerin geantwortet, dass sie dies nicht wisse, dass sie im Alltag gar nicht darauf achte.

Der Klägerbevollmächtigte hat anschließend Einwendungen gegen das Gutachten geltend gemacht, wonach die Behauptung einer leichten Kraftminderung nicht auf objektive Messwerte etwa eines Dynamometers gestützt worden sei. Insoweit seien ergänzende Untersuchungen vorzunehmen, wobei ein auf Handverletzungen spezialisierter Chirurg vorzugswürdig sei.

Auf Aufforderung des SG hat W1 daraufhin am 06.04.2022 ergänzend ausgeführt, dass die Kraftmessung mit einem Dynamometer grundsätzlich nur semiobjektiv sei, da sie auch von der Mitarbeit des Probanden abhänge. Bei der Klägerin sei bei einer Kraftmessung mittels Dynamometer aufgrund der bei ihr vorliegenden deutlichen Daumensattelgelenks-Arthrose und der Handwurzelarthrose im STT-Gelenk grundsätzlich mit einer schwächeren Kraftentfaltung der rechten Hand zu rechnen. Diese Schädigungen bei der Klägerin seien jedoch arthrotischer Natur, beruhten also auf Verschleiß. Im Falle der Klägerin sei eine Dynamometer-Messung nicht angezeigt, da diese keine Auswirkungen auf die gutachterliche Beurteilung habe. Denn die Daumensattel-Gelenksarthrose und die STT-Arthrose der Klägerin seien unfallunabhängig entstanden. Bei der gutachterlichen Untersuchung sei eine Muskelminderung am rechten Oberarm von 1 cm festgestellt worden. Insofern habe die Klägerin am rechten Oberarm einen Muskelzuwachs erfahren, weil hier bei der Messung am 27.02.2019 noch eine Muskelminderung um 3 cm festgestellt worden sei. Am Unterarm habe sich bei der Klägerin messtechnisch eine seitengleiche Armmuskulatur gezeigt. Bei der Handkraftmessung mit einem Dynamometer spiele vor allem die Muskelkraft in der Hand und im Unterarm die entscheidende Rolle, viel weniger die Muskulatur im Oberarm. Zusammenfassend ergebe sich demnach keine abweichende Beurteilung zum Gutachten vom 21.01.2022. Die Durchführung einer Handkraftmessung mit dem Dynamometer sei nicht erforderlich, da die Kraftminderung unfallunabhängiger Natur sei. Die Kraftminderung sei zurückzuführen auf die vorbestehende Arthrose im Daumensattelgelenk und dem STT-Gelenk der rechten Hand der Klägerin. Es resultiere also auch keine abweichende Beurteilung im Hinblick auf die unfallbedingte MdE.

Auf die Anfrage des SG an die Beteiligten, ob einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG zugestimmt werde, haben beide Beteiligte ihre Zustimmung zu dieser Verfahrensweise mitgeteilt. Der Kläger-Bevollmächtigte hat zusätzlich angeführt, dass erstinstanzlich kein Antrag nach § 109 SGG gestellt werde.

Das SG hat die Klage mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 04.07.2022 abgewiesen und sich hierzu maßgeblich auf die Ausführungen in dem Gutachten und in der ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme des W1 gestützt. Dieser habe überzeugend dargestellt, dass die Klägerin unfallunabhängig an erheblichen vorbestehenden degenerativen Veränderungen im Bereich der HWS leide, welche für die Beschwerdesymptomatik im linken Arm (nächtliches Einschlafen, Sensibilitätsstörungen) verantwortlich seien. Somit spielten diese Beschwerden für die Bemessung der unfallbedingten MdE keine Rolle. Das gleiche gelte nach der beratungsärztlichen Stellungnahme durch F1 auch für eine etwa bestehende Schädigung des Nervus radialis. Im Übrigen berücksichtige die Kammer hierbei auch, dass die Klägerin bisher wohl keine Veranlassung gesehen habe, sich in eine regelmäßige nervenärztliche Behandlung zu begeben oder therapeutische Maßnahmen zu ergreifen, wozu die Kammer auf die sachverständige Zeugenaussage von T1 verwies. Eine wesentliche Symptomatik könne insoweit nicht zugrunde gelegt werden. Darüber hinaus sei nach dem Begutachtungsergebnis durch W1 davon auszugehen, dass im Bereich des linken Armes bzw. der linken Hand kein wesentliches Funktionsdefizit vorläge. Die Hauptbeschwerden der Klägerin lägen offenkundig im Bereich des rechten Armes bzw. der rechten Hand, was sich im Übrigen auch mit dem Klagevorbringen decke.  Insoweit sei zunächst festzustellen, dass mit der Einschätzung von W1 die erheblichen arthrotischen bzw. degenerativen Veränderungen im Bereich des rechten Daumens (Daumensattelgelenksarthrose, Handwurzelarthrose) nichts mit dem Arbeitsunfall vom 27.11.2017 zu tun hätten. Denn bei dem Sturz vom 27.11.2017 sei es in diesem Bereich zu keinerlei Verletzung gekommen. Vor diesem Hintergrund sei die Einschätzung, dass die entsprechende Symptomatik „schicksalshaft“ sei, ohne weiteres nachvollziehbar. Vor diesem Hintergrund stelle sich auch die von der Klägerin in das Zentrum ihrer Klagebegründung gerückte Frage, welchen Einfluss die erhebliche Kraftminderung der rechten Hand auf die Höhe der unfallbedingten MdE habe, nicht. Denn W1 habe überzeugend herausgearbeitet, dass die Kraftminderungen in erster Linie den rechten Daumen betreffe und somit nicht bzw. allenfalls in untergeordneter Bedeutung dem Arbeitsunfall vom 27.11.2017 anzulasten sei.

Entsprechend der von der Beklagten zitierten unfallmedizinischen Literatur könne bei der Klägerin lediglich von einer MdE um 10 v. H. ausgegangen werden. Denn das rechte Handgelenk weise keinen wesentlichen Achsenknick auf, da die Fraktur regelrecht verheilt sei. Zudem betrage das Gesamtausmaß des Bewegungsdefizits nur 45 Grad und sei somit als eher geringgradig einzuordnen. Schließlich träten wie dargestellt unfallunabhängig noch die degenerativen bzw. arthrotischen Veränderungen im Bereich des rechten Daumens hinzu, welche bei der Bemessung der MdE in diesem Bereich außer Betracht zu bleiben hätten. Wenn weiter berücksichtigt werde, dass die Klägerin bislang keine besondere schmerztherapeutische Behandlung in Anspruch genommen habe, und auch eine laufende nervenärztliche bzw. neurologische Therapie nicht erfolge, bestehe auch für die Annahme eines atypischen Sachverhalts, welcher ausnahmsweise eine Überschreitung des für die MdE-Bemessung maßgeblichen Regelwerts rechtfertigen könnte, keine belastbare Grundlage. Schließlich bestehe auch kein Anlass darauf einzugehen, ob bei der Behandlung der Unfallfolgen tatsächlich, wie von der Klägerin vorgetragen, ein Befunderhebungs- bzw. Diagnosefehler aufgetreten sei. Denn diese Fragestellung berühre nach inzwischen gesicherten Befunden und Diagnosen den Streitgegenstand der vorliegenden Klage nicht. Für den Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente komme es alleine darauf an, in welcher Weise sich die Unfallfolgen bei funktioneller Betrachtung auf das Erwerbsvermögen des Versicherten auswirkten. Das Urteil ist den Bevollmächtigten der Klägerin am 08.07.2022 zugestellt worden.

Am 29.07.2022 hat der Bevollmächtigte der Klägerin beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt. Das SG stütze sein Gutachten maßgeblich auf die Ausführungen des W1, obwohl hiergegen bereits erstinstanzlich mit Schriftsatz von 30.03.2022 Einwendungen erhoben worden seien. Auch sei dem Antrag, ein handchirurgisches Sachverständigengutachten einzuholen nicht gefolgt worden. Insoweit sei der Sachverhalt gemäß § 103 SGG durch Einholung eines handchirurgischen Sachverständigengutachtens weiter zu ermitteln, wobei die Klägerin sich einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigen Gutachtens gemäß § 109 SGG ausdrücklich vorbehalte.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Mannheim vom 04.07.2022
sowie unter Abänderung des Bescheides vom 18.05.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.09.2021 zu verurteilen, ihr im Anschluss an den Verletztengeldbezug ab dem 10.02.2018 wegen der noch verbliebenden Unfallfolgen vom 27.11.2017 eine Verletztenrente auf der Basis einer unfallbedingten MdE von wenigstens 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend. Aus der Berufungsbegründung ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte, die zu einer anderen Beurteilung führten. Es handele sich im Wesentlichen um den gleichen Vortrag wie bereits im erstinstanzlichen Verfahren, wozu der  W1 am 06.04.2022 eine ergänzende Stellungnahme abgegeben habe. Entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten habe sich das erstinstanzliche Gericht sehr wohl mit den erheblichen arthrotischen bzw. degenerativen Veränderungen im Bereich des rechten Daumens sowie der Kraftminderung der rechten Hand auseinandergesetzt (mit Hinweis auf S. 8 des Urteils), denn hierzu habe sich der Gerichtsgutachter ausführlich geäußert. Zur Vermeidung von weiteren Wiederholungen werde auf das angefochtene Urteil verwiesen.

Am 21.10.2022 hat der Berichterstatter in einem richterlichen Hinweis auf die wohl fehlenden Erfolgsaussichten der Berufung hingewiesen.

Am 30.01.2023 ist im LSG ein Erörterungstermin durchgeführt worden, in dem der Berichterstatter diesen Hinweis wiederholt hat. Die Klägerin hat sich in dem Termin eine Antragstellung nach § 109 SGG vorbehalten, worauf der Berichterstatter daraufhin gewiesen hat, dass die Frist für eine Antragstellung nach § 109 SGG bereits im Vorjahr abgelaufen sein dürfte. Schließlich ist den Beteiligten in dem Erörterungstermin mitgeteilt worden, dass der Senat beabsichtige, die Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG zurückzuweisen, wozu eine Äußerungsfrist bis zum 28.02.2023 eingeräumt worden ist.

Mit Schriftsatz vom 27.02.2023 (Eingang beim LSG am selben Tag) wurde klägerseits einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG entgegengetreten, da eine solche Entscheidung nicht ermessensgerecht wäre. Hierzu hat der Klägerbevollmächtigte seine bereits zuvor vorgetragene Ansicht zur Erforderlichkeit weiterer Ermittlungen von Amtswegen wiederholt und zudem gemäß § 109 SGG beantragt, ein handchirurgisches Sachverständigengutachten bei C1 einzuholen. Die Sachverständige habe sich auf telefonische Anfrage bereit erklärt, das Sachverständigengutachten zu erstellen. Die vorliegende entscheidungserhebliche Unterscheidung zwischen unfallabhängigen und unfallunabhängigen Schädigungen, gerade in Bezug auf das Daumensattelgelenk stelle eine Frage dar, die einem spezialisierten Gutachter aus dem Bereich der Handchirurgie gestellt werden und von diesem beurteilt werden solle und müsse. Der medizinische Sachverhalt sei ihm Hinblick auf die Unfallfolgen nicht abschließend ermittelt.

Mit Verfügung des Berichterstatters vom 27.02.2023 ist dem Kläger-Bevollmächtigten mitgeteilt worden, das im Hinblick auf seinen Schriftsatz vom 27.02.2023 weiterhin eine Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG beabsichtigt sei.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG und des LSG sowie die darin enthaltenen Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.


II.

Die nach den §§ 143 f. SGG zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Die Beklagte und das SG haben zu Recht entschieden, dass der Klägerin ein Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente aufgrund des Ereignisses vom 27.11.2017 nicht zusteht.
 
Der Senat hat über die Berufung der Klägerin gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG durch Beschluss entschieden, weil er das Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Klägerin wurde im Erörterungstermin vom 30.01.2023 persönlich zu ihren Berufungsanträgen angehört. Im Anhörungsverfahren (vgl. auch den schriftlichen Hinweis zu den Erfolgsaussichten vom 21.10.2022) haben sich keine Gesichtspunkte ergeben, die eine Abweichung von einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG angezeigt sein lassen könnten. Sofern der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 27.02.2023 gerügt hat, dass eine solche Entscheidung nicht ermessensgerecht wäre, begründet er dies nicht mit den Voraussetzungen von § 153 Abs. 4 SGG, sondern mit der aus seiner Sicht bestehenden Notwendigkeit weiterer Ermittlungen (hierzu weiter unten).

Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3, 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls i. S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis - geführt hat und das Unfallereignis einen Gesundheits(-erst-)schaden oder den Tod des Versicherten verursacht (haftungsbegründende Kausalität) hat. Die Entstehung länger andauernder Unfallfolgen aufgrund des Gesundheits(-erst)schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (ständige Rechtsprechung, vgl. stellvertretend BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, B 2 U 40/05 R = UV-Recht Aktuell 2006, 419-422, B 2 U 26/04 R = UV-Recht Aktuell 2006, 497-509, alle auch in juris).

Nach der im Sozialrecht anzuwendenden Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (st. Rspr. vgl. stellvertretend BSG vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 15, jeweils RdNr. 11). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76).

Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adä-quanztheorie (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R –, BSGE 96, 196-209, SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, sowie zu den Unterschieden BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr. 91) auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen.

Bei mehreren Ursachen ist sozialrechtlich allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende (Mit-)Ursache auch wesentlich war, ist unerheblich. Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) "wesentlich" und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts. Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Bei der Abwägung kann der Schwere des Unfallereignisses Bedeutung zukommen (ständige Rechtsprechung; vgl. stellvertretend zum Vorstehenden insgesamt BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R, SozR 4 2700 § 8 Nr. 17; B 2 U 40/05 R, UV Recht Aktuell 2006, 419; B 2 U 26/04R, UV Recht Aktuell 2006, 497; alle auch veröffentlicht in Juris).

Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der je nach Fallgestaltung ggf. aus einem oder mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs - der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität - genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit (st. Rspr. BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 a. F. RVO; BSGE 32, 203, 209 = SozR Nr. 15 zu § 1263 a. F. RVO; BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr. 38, BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr. 1). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R und B 2 U 26/04 R - a.a.O. m.w.H.). Dagegen müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß i. S. des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden (BSG SozR 3-5670 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 2 m. w. N.).

Die Klägerin hat am 27.11.2017 einen bei der Beklagten versicherten Arbeitsunfall erlitten, als sie an ihrem Arbeitsplatz über ein Ladekabel stolperte und hierdurch auf beide Hände und ihr Kinn stürzte. Dieses auf den Schilderungen der Klägerin beruhende Unfallgeschehen steht zur Überzeugung des Senats fest; Gründe für eine andere Beurteilung des Unfallgeschehens sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Durch diesen Unfall hat die Klägerin nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens einen Speicherköpfchenbruch links ohne objektivierbare Funktionseinschränkungen erlitten, der knöchern verheilt ist, sowie eine ebenfalls knöchern verheilte Handgelenksdistorsion und Prellung mit körperfernem Speichenbruch rechts, und eine Teilzerreißung der Kapselstruktur des Daumensattelgrundgelenks sowie Teilzerreißung der Bandverbindung zwischen dem Kahn- und Mondbein (SL-Band) ohne Nachweis einer persistierenden Instabilität mit anhaltenden leichten Funktionseinschränkungen des rechten Handgelenks. Diese Unfallfolgen stellt der Senat aufgrund der schlüssigen und überzeugenden Ausführungen in dem Sachverständigengutachten des W1 vom 21.01.2022 fest. Ebenfalls stellt der Senat mit W1 fest, dass degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule bereits lange vor dem Unfall am 10.03.2011 beschrieben worden sind, welche auch aufgrund des konkreten Unfallereignisses nicht als Unfallfolge bewertet werden können. Gleiches gilt für arthrotische Veränderungen im Daumensattelgelenk, welche bereits zum Zeitpunkt des Unfallsereignisses vom 27.11.2017 beidseitig vorbestanden. Die später aufgetretenen Kribbelparästhesien im Bereich der rechten Hand sind mit Wahrscheinlichkeit auf die verschleißbedingten Veränderungen im Bereich der HWS zurückzuführen.

Die Ausführungen von W1 decken sich im Wesentlichen mit den Feststellungen der anderen involvierten Ärzte, insbesondere auch der F1 und D1 der Beklagten. Die zeitnah erstellten MRT-Untersuchungen am linken Ellenbogen vom 12.05.2017 (mehrfragmentäre Radiusköpfchenfraktur) und vom 20.12.2017 (ergänzt am 15.05.2018: okkulte distale Radiusfraktur mit Gelenkflächenbeteiligung am rechten Unterarm bzw. Handgelenk) bestätigen die Schlussfolgerungen des W1.

Anhaltspunkte für eine wesentlich abweichende ärztliche Auffassung lassen sich den vollständig beigezogenen Akten nicht entnehmen. Auch die im Klageverfahren als sachverständige Zeugen gehörten behandelnden Ärzte der Klägerin, die T1 und der K1, haben insoweit keine wesentlichen neuen oder abweichenden Befunde mitgeteilt.

Zur weiteren Begründung hinsichtlich der vorliegenden Unfallfolgen verweist der Senat auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung, die er sich nach eigener Überprüfung der Sach- und Rechtslage zu Eigen macht (§ 153 Abs. 2 SGG). Das Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren führt zu keinem anderen Ergebnis.

Die Notwendigkeit, von Amts wegen nach § 103 SGG ein weiteres Gutachten, etwa auf neurologischem oder handchirurgischem Fachgebiet, einzuholen, bestand nicht. Der W1 hat die entscheidungserheblichen Beweisfragen umfassend und schlüssig beantwortet. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 06.04.2022 ist er ebenso schlüssig auf die von dem Klägerbevollmächtigten vorgebrachte Kritik an seinem Gutachten eingegangen. Insbesondere war auch keine Kraftmessung mittels eines Dynamometers angezeigt, da aufgrund der einschlägigen Vorschäden der Klägerin (arthrotische Veränderungen im Daumensattelgelenk) das Ergebnis einer solchen Untersuchung nicht hinreichend aussagekräftig gewesen wäre. Insgesamt konnten damit die verbliebenen Unfallfolgen aufgrund der bisher erhobenen Beweise vollständig und ohne verbleibende Restzweifel aufgeklärt werden. Eine weitere Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen war daher nicht veranlasst. W1 ist als erfahrener Orthopäde und Unfallchirurg auch in der Lage, die Art der Verletzungen der Klägerin zuverlässig zu beurteilen, weil diese seine Fachgebiete betreffen.

Anhaltspunkte für einen besonders schwierigen Fall, der die Hinzuziehung eines Handchirurgen als Gutachter erforderlich machen könnte, sind nicht ersichtlich. W1 hat die Beweisfragen ohne verbleibenden Restzweifel beantworten können und auch nicht von sich aus auf Zweifel oder die Erforderlichkeit der Einholung eines weiteren Gutachtens hingewiesen. Bezüglich der neurologischen Fragestellung hat der W1 ausdrücklich festgestellt, dass eine neurologische Begutachtung nicht erforderlich sei, da aussagekräftige neurologische Befunde vorlägen. Ferner hätten sich bei seiner gutachterlichen Untersuchung bis auf die Angabe von Gefühlsstörungen im rechten Daumen und an der rechten Kleinfingerkuppe keine neurologischen Auffälligkeiten gefunden.

Auch die Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG war nicht mehr zu veranlassen. Der Klägerbevollmächtigte ist bereits mit richterlicher Verfügung vom 21.10.2022 darauf hingewiesen worden, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg haben dürfte und weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht beabsichtigt seien. Noch im Erörterungstermin vom 30.01.2023 hat der Klägerbevollmächtigte jedoch keinen Antrag nach § 109 SGG gestellt, sondern sich diesen Antrag lediglich vorbehalten; ein prozessordnungsgemäßer Antrag nach § 109 SGG ist erstmalig am 27.02.2023 und damit mehr als 4 Monate nach dem Hinweis auf die fehlenden Erfolgsaussichten erfolgt. Der Senat war nicht verpflichtet, diesem Antrag auf Begutachtung nach § 109 SGG zu folgen. Nach § 109 Abs. 2 SGG kann das Gericht einen solchen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Vorliegend geht das Gericht davon aus, dass eine Verzögerung durch eine weitere Begutachtung in dem entscheidungsreifen Rechtsstreit eintreten würde. Der Antrag ist auch aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden, da das Verstreichen von 4 Monaten nach dem unmissverständlichen Hinweis des Berichterstatters – ohne jegliches Vorbringen von Gründen für diese Verspätung – mit der erforderlichen prozessualen Sorgfalt nicht zu vereinbaren ist. Grobe Nachlässigkeit ist insofern das Versäumen jeder prozessualen Sorgfalt. Sie liegt in der Regel vor, wenn der Kläger den Antrag auf gutachterliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG nicht in angemessener Frist stellt, nachdem er erkennt oder erkennen muss, dass die von Amts wegen durchzuführende Beweisaufnahme beendet ist (BSG, Urteil vom 10.12.1958 – 4 RJ 143/58 = SozR Nr 24 zu § 109 SGG; BSG, Urteil vom 24.03.1961 – 10 RV 303/57 –, juris). Die Stellung eines Antrags nach § 109 SGG erst 4 Monate nach dem Hinweis auf die Beendigung der Beweisaufnahme von Amts wegen liegt hier grob fahrlässig außerhalb der angemessenen Frist für eine entsprechende Antragstellung. Fehlt es wie vorliegend an einer Fristsetzung, ist von grober Nachlässigkeit dann auszugehen, wenn der Verfahrensbeteiligte nach Erkennbarkeit länger als einen Monat untätig bleibt (Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 109 SGG (Stand: 05.07.2022), Rn. 34, mit weiteren Nachweisen).

Die sich aus den vorliegend festgestellten Unfallfolgen ergebenden funktionellen Einschränkungen sind lediglich mit einer MdE um 10 v.H. zu bewerten und erfüllen damit nicht die Voraussetzungen der Gewährung einer Verletztenrente.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vom Hundert mindern, § 56 Abs. 1 SGB VII. Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann (§ 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben (§ 62 Abs. 2 SGB VII).

Die Bemessung der MdE wird vom BSG in ständiger Rechtsprechung als Tatsachenfeststellung gewertet, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten (BSG SozR 4-2700 § 56 Nr. 2; BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8, S 36 mwN). Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG SozR 2200 § 581 Nr 22, 23; BSGE 82, 212 = SozR 3-2200 § 581 Nr. 5). Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE geschätzt werden (BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind deshalb bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der tägliche Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (BSG a.a.O; BSG Urteil vom 22.06.2004 - B 2 U 14/03 R - SozR 4-2700 § 56 Nr. 1). Die Erfahrungswerte bilden in der Regel die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet, sie sind aber nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend (BSG SozR 2200 § 581 Nr. 23 und 27; BSGE 82, 212 = SozR 3-2200 § 581 Nr. 5; BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8; BSG, Urteil vom 18.03.2003 - B 2 U 31/02 R -; BSGE 93, 63 = SozR 4-2700 § 56 Nr. 1). Die Feststellung der Höhe der MdE als tatsächliche Feststellung erfordert stets die Würdigung der hierfür notwendigen Beweismittel im Rahmen freier richterlicher Beweiswürdigung gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG (BSG, Urteil vom 13.09.2005 - B 2 U 4/04 R – juris, m. H. auf BSG, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8; Urteil vom 18.03.2003 a.a.O.).


Nach diesen Maßstäben ist das Sozialgericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nicht vorliegen. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auch insoweit auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG). Die von dem W1 überzeugend dargestellte Einschränkung der Beweglichkeit um 45 Grad ist nach der unfallmedizinischen Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, Seite 181), die im Regelfall für einen Speichenbruch mit Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegung um 40 Grad nur eine MdE um 10 v.H. annimmt, höchstens mit einer MdE um 10 v.H. zu bewerten. Anhaltspunkte dafür, dass hiervon im Falle der Klägerin abgewichen werden muss, sind mit den zutreffenden Ausführungen des SG nicht ersichtlich. Der W1 hat hierzu ausgeführt, dass die Klägerin im Alltag nicht wesentlich durch Schmerzen oder die von ihr angegebenen Gefühlsstörungen gestört zu sein scheint. Auf Nachfrage des Gutachters hat die Klägerin bei der Untersuchung geantwortet, dass sie nicht wisse, ob sie die die Gefühlsstörungen immer habe, da sie im Alltag gar nicht darauf achte.

Auch die lediglich einmalige Vorsprache bei der T1 im Februar 2021 und die von der Neurologin hierbei erhobenen Befunde („Neurologischer Befund: Keine Schmerzprovokation bei Okklusionsmanöver, kein radikuläres Syndrom. Hoffmann-Tinel-Zeichen über Karpaltunnel und Sulcus-ulnaris beidseits negativ. Neurologisch keine Auffälligkeiten, Normalbefund“) führen nicht dazu, dass die MdE aufgrund der Besonderheiten im Falle der Klägerin abweichend vom Regelfall höher bewertet werden müsste.

Im Ergebnis ist in den streitgegenständlichen Entscheidungen daher ein Anspruch auf Verletztenrente zu Recht verneint worden, weswegen die Berufung der Klägerin zurückzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.





 

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