S 13 KR 211/21

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 13 KR 211/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze

1. Eine mittels EGVP-Nachricht erhobene Klage ist unzulässig.

2. Für eine vollständige Rechtsmittelbelehrung im Widerspruchsbescheid genügt der Hinweis, genügt der vollständige Hinweis auf die zulässigen Übermittlungswege und der Verweis auf frei verfügbare Internetangebote im Übrigen.

3. Eine Rechtsmittelbelehrung, der der Hinweis auf die Möglichkeit die Klage mittels De-Mail zu erheben fehlt, ist unzulässig.

4. Klageerhebung ist das unbedingt erklärte, ernsthafte Begehren, gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen.

5. Das Gericht ist nicht gehindert zum Zwecke der Auslegung eines späteren, formwirksamen Klageschriftsatzes auch weitere Umstände – hier insbesondere eine frühere nicht formgerechte Klageerhebung – heranzuziehen.

6. Eine vergrößerte männliche Brust wirkt grundsätzlich nicht entstellend. 
 


Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Kostenübernahme für eine operative Brustverkleinerung als Leistung nach dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V).

Der 1986 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er leidet an ausgeprägter Gynakomastie beidseitig, links mehr als rechts bei einem Gewicht von 100 kg und einer Köpergröße von 188 cm. 

Unter dem 5. Mai 2020 beantragte er bei der Beklagten durch die Ärztin Prof. h.c. Dr. E. die Kostenübernahme für eine subkutane Mastektomie beidseits.

Mit Bescheid vom 3. Juni 2020 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. In der vertraglichen Versorgung stehe die beantragte Maßnahme grundsätzlich nicht zur Verfügung. Ein Ausnahmefall sei vorliegend nicht ersichtlich. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn eine massive Funktionseinschränkung des Körpers vorliege.

Der Kläger legte daraufhin nochmals ärztliche Atteste vor. Mit weiterem Bescheid vom 14. September 2020 wiederholte die Beklagte ihre Entscheidung vom 3. Juni 2020.

Am 14. September 2020 legte der Kläger hiergegen unter weiterer Vorlage ärztlicher Atteste Widerspruch ein. Prof. Dr. E. teilte – ohne weitere Konkretisierung – mit, es bestünden Funktionsbeeinträchtigungen mit massiven Schmerzen. Das Resektionsgewicht betrage 200g. Prof. Dr. H. bescheinigte, der Kläger leide neben einer psychischen Grunderkrankung unter einer Gynäkomastie beidseits (Grad II), welche einen sozialen Rückzug begünstige und zu einer deutlichen psychischen Belastung führe. Konservative Maßnahmen einschließlich eines Ausschleichens der antipsychotischen Medikation zeigten keinen ausreichenden Erfolg. In einem endokrinologischen Befundbericht wird von anhaltenden Kopfschmerzattacken mit Schlaflosigkeit berichtet. Eine endokrinologische Ursache der Gynäkomastie werde nicht gesehen. Es sei vielmehr von einer persistierenden Pubertätsgynäkomastie auszugehen. Eine Kontraindikation für eine Mastektomie bestehe deshalb nicht. 

Die Beklagte beauftragte den Medizinischen Dienst mit der Begutachtung. Unter dem 4. November 2020 kam der Arzt im Medizinischen Dienst Dr. C. in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Gynäkomastie keinen Krankheitswert habe. Sie sei nicht so ausgeprägt, dass eine Entstellung vorliege. Hinweise auf Malignität oder andere somatische Störungen bestünden nicht. Die beschriebenen Schmerzen seien morphologisch nicht nachvollziehbar. Der kosmetische Hintergrund der Operation stehe daher deutlich im Vordergrund. Psychische Beeinträchtigungen müssten mit den Mitteln der Psychotherapie behandelt werden.

In Kenntnis des Gutachtens legte der Kläger Fotos vor. Die Beklagte hielt dennoch im Widerspruchsbescheid vom 9. April 2021 an ihrer Ausgangsentscheidung fest und wies den Widerspruch des Klägers zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 7. Mai 2021 in Form einer EGVP-Nachricht Klage erhoben. Am 10. Januar 2022 hat der Kläger sich handschriftlich und mit handschriftlicher Unterschrift in einem Schriftsatz geäußert. In diesem Schriftsatz hat er bestimmte Ärzte von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden. 

Der Kläger bezieht sich zur Klagebegründung auf die bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegten ärztlichen Atteste. 

Er beantragt schriftlich und sinngemäß,
die Bescheide der Beklagten vom 3. Juni 2020 und vom 14. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. April 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten einer subkutanen Mastektomie beidseits zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Befundberichte bei den Ärzten Dr. M., Prof. Dr. H. und Prof. Dr. E. eingeholt. Nach einem Dezernatswechsel hat das Gericht am 14. November 2022 auf die Unzulässigkeit der Klageerhebung in Form einer EGVP-Nachricht hingewiesen.

Mit Schreiben vom 23. Dezember 2022 hat das Gericht die Beteiligten zu seiner Absicht, durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung entscheiden zu wollen, angehört.

Wegen des Inhalts der eingeholten Befundberichte und zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagte.


Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung und ohne die Beteiligung ehrenamtlicher Richterinnen und Richter durch Gerichtsbescheid gem. § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, weil der Sachverhalt geklärt ist und der Rechtsstreit keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist. Die Beteiligten sind hierzu gehört worden.

Die Klage ist zulässig.

Gem. § 90 SGG ist die Klage bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erheben. Gem. § 65a SGG können vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen, schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen der Beteiligten sowie schriftlich einzureichende Auskünfte, Aussagen, Gutachten, Übersetzungen und Erklärungen Dritter als elektronische Dokumente bei Gericht eingereicht werden. § 65a Abs. 3 SGG sieht als Ersatz der handschriftlichen Unterschrift im elektronischen Rechtsverkehr vor, dass das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden muss. Ferner ist die Klage gem. § 65a Abs. 2 SGG i.V.m. § 2 Elektronische Rechtsverkehrsverordnung – ERVV – im Dateiformat PDF einzureichen.

Im vorliegenden Fall waren bei Klageerhebung am 7. Januar 2021 die Voraussetzungen des § 65a Abs. 3 SGG nicht erfüllt. Die Klage war ausweislich des Transfervermerks (Bl. 2 der Gerichtsakte) nicht qualifiziert elektronisch signiert. Sie wurde ferner nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg, sondern mittels eine nicht absenderauthentifizierten Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) übersandt, wie sich am Fehlen eines Vertrauenswürdigen Herkunftsnachweises (VHN) ersehen lässt.

Das Gericht musste hierauf nicht gem. § 65a Abs. 6 SGG unverzüglich hinweisen, denn das Fehlen der Voraussetzungen des § 65a Abs. 3 SGG ist keine Frage der in § 65a Abs. 6 SGG geregelten Bearbeitbarkeit des elektronischen Dokuments, sondern ein Mangel in der Übermittlung (BSG v. 09.05.2018 - B 12 KR 26/18; BSG v. 20.03.2019 - B 1 KR 7/18; BAG v. 15.08.2018 - 2 AZN 269/18; Müller in: jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 65a SGG (Stand: 18.07.2023), Rn. 376). 

Der Kläger hat allerdings durch seinen Schriftsatz vom 10. Januar 2022 noch innerhalb der Klagefrist formwirksam Klage erhoben. 

Klageerhebung ist das unbedingt erklärte, ernsthafte Begehren, gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen. Der Beteiligte muss in seinem Schriftsatz den unbedingten Willen zum Ausdruck bringen, dass eine Verwaltungsentscheidung bzw. ein Verwaltungshandeln nochmals durch ein Gericht überprüft werden soll (LSG Baden-Württemberg v. 25.04.2023 - L 11 R 863/22). Durch sein handschriftliches Schreiben hat er hinreichend bekräftigt, gegen die ablehnenden Bescheide der Beklagten weiter vorgehen zu wollen. Auch, wenn sich der Schriftsatz inhaltlich (nur) auf die Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht bezieht, zeigt der Kläger doch damit, dass er gewillt ist, weiter gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Gericht ist nicht gehindert zum Zwecke der Auslegung eines Klageschriftsatzes auch weitere Umstände – hier insbesondere nicht formgerechte Klageerhebung mittels EGVP-Nachricht – heranzuziehen. Aus dem Zusammenhang beider Schriftsätze ist aber der Erklärungswert, gerichtlich gegen die Verwaltungsentscheidungen vorgehen zu wollen, eindeutig erkennbar.

Durch den handschriftlichen Schriftsatz, den der Kläger per Post, nicht elektronisch, übermittelt hat, hat er die Form des § 90 SGG gewahrt.

Der Schriftsatz vom 10. Januar 2022 ging bei Gericht fristgerecht ein. Es war nicht auf die Monatsfrist des § 87 SGG abzustellen, sondern auf die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG, denn die Rechtsmittelbelehrung der Beklagten im Widerspruchsbescheid war unvollständig. 

Zunächst wies die Rechtsmittelbelehrung im Widerspruchsbescheid der Beklagten nur auf die Möglichkeit hin, die Klage auch unter Nutzung des EGVP zu erheben, nicht aber auf die weiteren Anforderungen des § 65a Abs. 3 SGG. Ein solcher Hinweis war aber durch die Wegweiserfunktion der Rechtsbehelfsbelehrung unter Beachtung des sog. Überfrachtungsverbots nicht zwingend geboten (vgl. VGH Mannheim v. 21.05.2021 - 6 S 2181/20). Eine über die grundsätzliche Möglichkeit der elektronischen Einreichung mittels EGVP hinausgehende Darstellung in Form einer Belehrung über die weiteren (insbesondere elektronischen) Voraussetzungen wäre allein aufgrund ihres Umfangs geeignet, den weniger erfahrenen Rechtsuchenden zu verwirren oder von vornherein abzuschrecken. Eine solchermaßen überfrachtete Belehrung würde den mit § 66 Abs. 1 SGG verfolgten Zweck, nämlich die Ermöglichung der fristgerechten Rechtswahrnehmung, ins Gegenteil verkehren. Wegen Einzelheiten kann deshalb bspw. – wie hier geschehen - auch auf ein frei verfügbares Internetportal verwiesen werden (Müller in: jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 66 SGG (Stand: 18.07.2023), Rn. 24_1 unter Bezugnahme auf BSG v. 9.3.2023 – B 4 AS 104/22 BH). 

Die Rechtsmittelbelehrung war aber dennoch nicht vollständig, weil jedenfalls der Hinweis auf die Möglichkeit, die Klage mittels De-Mail zu erheben, fehlte. Dies erweckt entgegen § 4 Abs. 1 ERVV fälschlich den Eindruck, dass nur eine Klageerhebung mittels EGVP möglich sei. 

Die Klage ist allerdings nicht begründet.

Als Anspruchsgrundlage kommt vorliegend nur § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V in Betracht. Danach gilt: Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Vorliegend liegt in körperlicher Hinsicht bereits keine Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne vor. Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne ist ein regelwidriger, vom Leitbild eines gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder Arbeitsunfähigkeit bedingt (BeckOK SozR/Knispel, 63. Ed. 1.12.2021, SGB V § 27 Rn. 5; Bundessozialgericht - BSG, Urteil vom 9. Juni 1998 - B 1 KR 18/96 R). Hier fehlt es im Hinblick auf die körperliche Situation der Klägerin an der Regelwidrigkeit. 

Für die Feststellung der Regelwidrigkeit des Körperzustandes im Sinne des Krankheitsbegriffs der gesetzlichen Krankenversicherung ist vom Leitbild des gesunden Menschen auszugehen, der zur Ausübung normaler körperlicher oder psychischer Funktionen in der Lage ist. Eine Abweichung von dieser Norm führt zur Regelwidrigkeit des körperlichen, seelischen oder geistigen Zustandes. Es muss aber eine erhebliche Abweichung vorliegen. Geringfügige Störungen, die keine wesentliche funktionelle Beeinträchtigung zur Folge haben, reichen zur Annahme eines regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes nicht aus. Der krankenversicherungsrechtliche Begriff der Krankheit unterscheidet sich von dem medizinischen Krankheitsbegriff, wonach die Krankheit eine Erkrankung mit bestimmten Symptomen und Ursachen ist. Er ist ferner abzugrenzen von dem Begriff der Behinderung, mit dem eine Abweichung von der normalen körperlichen, geistigen oder seelischen Verfassung beschrieben wird. Demgemäß genügen auch nicht Abweichungen von einer morphologischen Idealnorm, die noch befriedigende körperliche und psychische Funktionen zulassen. Daher fallen körperliche Anomalien regelmäßig nicht unter den Begriff der Krankheit oder Behinderung (BSG, Urteil vom 6.8.1987, Az: 3 RK 15/86).

Vorliegend geht die Kammer nicht davon aus, dass diese Schwelle zum Krankheitswert vorliegend erreicht ist. Die Kammer stützt sich insoweit auf das schlüssige und nachvollziehbare Gutachten des Medizinischen Dienstes im Verwaltungsverfahren (Bl. 7 ff. der Verwaltungsakte der Beklagten). Zutreffend verweist der Arzt im Medizinischen Dienst Dr. C. darin darauf, dass weder Hinweise auf Malignität noch auf andere somatische Störungen gegeben sind. Die vorgetragenen und durch die vorgelegten ärztlichen Befunde nicht weiter substantiierten Schmerzen des Klägers sind gestützt auf das Gutachten auch für die Kammer morphologisch nicht nachvollziehbar.

Die hier beantragte Operation ist nach diesem Verständnis deshalb keine notwendige Maßnahme zu Heilung einer Krankheit im Sinne des § 27 SGB V

Der persönliche, insbesondere psychische Leidensdruck des Klägers ist für die Kammer dagegen glaubhaft und nachvollziehbar. Hierauf - und auch darauf, ob die psychische Situation des Klägers Krankheitswert hat - kommt es aber für das vorliegende Verfahren nicht an. Im Hinblick darauf ist die beantragte Operation nämlich nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts keine notwendige Krankenbehandlung. Eine Krankenbehandlung durch ärztliche Leistungen hat grundsätzlich unmittelbar an der Krankheit anzusetzen (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004, B 1 KR 9/04 R; Landessozialgericht - LSG - Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Februar 2005, L 4 KR 3936/03). Dies bedeutet, dass den psychischen Leiden des Klägers mit den Mitteln der Psychotherapie begegnet werden muss. Zwar schließt dies nicht aus, dass auch andere Maßnahmen zur Erreichung des Behandlungsziels erforderlich sein können, doch bedarf die konkrete Art der eingesetzten Maßnahme dann einer speziellen Rechtfertigung, wenn diese sich – wie vorliegend der Fall – nur als mittelbare Behandlung darstellt, weil nämlich beabsichtigt ist, in ein funktionell intaktes Organ einzugreifen, das verändert werden soll. Die therapeutischen Bemühungen setzen dann nämlich dort an, wo für sich genommen eine Behandlung nicht erforderlich ist. Es bedarf deshalb einer besonders umfassenden Abwägung zwischen voraussichtlichem medizinischem Nutzen und möglichem gesundheitlichem Schaden, in die auch Art und Schwere der Erkrankung, die Dringlichkeit der Intervention sowie etwaige Folgekosten für die Krankenversicherung einzubeziehen sind (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Februar 2005 - L 4 KR 3936/03 Rn. 19 f.). Auf dieser Grundlage ist der im Streit stehende operative Eingriff nicht hinreichend gerechtfertigt.

Der Begriff des Funktionsdefizits kann andererseits insbesondere in den Körperbereichen, die normalerweise nicht von Kleidungsstücken bedeckt sind, nicht allein daran gemessen werden, ob die Ausübung körperlicher Funktionen in dem betroffenen Teilbereich noch möglich ist. Der/die einzelne Versicherte kann nämlich nicht nur für sich allein betrachtet werden, es müssen vielmehr auch seine Beziehungen zu seiner Umwelt, insbesondere den mit ihm verkehrenden Mitmenschen berücksichtigt werden. Versicherten als kommunikativ handelnde Wesen sind auf die Achtung und den Respekt durch seine Mitmenschen angewiesen. Daher können insbesondere Entstellungen im Gesichtsbereich trotz normaler körperlicher Funktionen ein Funktionsdefizit hervorrufen, das einen Anspruch auf Maßnahmen der Krankenbehandlung begründen kann. Eine solche Entstellung liegt insbesondere vor, wenn die Entstellung bei Menschen, die nur selten Umgang mit behinderten Menschen haben, üblicherweise Missempfindungen wie Erschrecken oder Abscheu oder eine anhaltende Abneigung gegenüber dem Behinderten auszulösen vermag (siehe dazu ausführlich LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 2. Mai 2002 – L 5 KR 93/01). Die Rechtsprechung hat eine Entstellung bei einer Frau ohne natürliches Kopfhaar (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f; anders beim Mann: BSG SozR 2200 § 182b Nr 18 S 50 f), bei einer Wangenatrophie (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 2. Mai 2002 – L 5 KR 93/01) oder bei Narben im Lippenbereich (BSG SozR 3-1750 § 372 Nr 1) angenommen bzw. erörtert (vgl. zu den Fallbeispielen auch BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 9/04 R). Im vorliegenden Fall dürfte eine Entstellung in diesem Sinne allerdings ausscheiden, schon weil die betroffenen Körperteile regelmäßig durch Kleidung bedeckt ist, die Anomalie mithin im alltäglichen Leben leicht kaschierbar ist.

Die Kammer ist unter Berücksichtigung dieses Maßstabs davon überzeugt, dass nicht von einem entstellenden Zustand ausgegangen werden kann. Zwar hat das Bundessozialgericht mit Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 3/21 R (Müller, NZS 2022, 828) entschieden, dass über den bislang vertretenen Begriff der Entstellung hinaus auch körperlichen Anomalien ein Krankheitswert zugemessen werden kann, die sich in Bereichen befinden, die regelmäßig von Kleidung bedeckt sind. In diesen Bereichen müssen die Auffälligkeiten aber besonders schwerwiegend sein. Erforderlich ist, dass selbst die Offenbarung im privaten Bereich die Teilhabe an der Gesellschaft, etwa im Rahmen der Sexualität, nahezu ausschließen würde. Hierbei ist nicht das subjektive Empfinden des Betroffenen maßgeblich, sondern allein die objektiv zu erwartende Reaktion. Die Auffälligkeit muss evident abstoßend wirken. Ein solcher, extremer Ausnahmefall ist vorliegend nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen.

Die Klage konnte deshalb keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
 

Rechtskraft
Aus
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