L 5 R 293/21

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 17 R 188/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 293/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 87/23 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Eine grob fahrlässige Verletzung der Mitwirkungspflicht im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X liegt regelmäßig dann vor, wenn während des laufenden Bezugs von Witwenrente trotz korrekter Belehrung durch den Rentenversicherungsträger der Hinzutritt der Altersrente aus eigener Versicherung nicht zum Versicherungskonto des verstorbenen Versicherten mitgeteilt wird. Dies gilt im Regelfall auch dann, wenn die eine Witwenrente bzw. Witwerrente beziehende Person diese Rente im Antrag auf Altersrente aus eigener Versicherung beim selben Versicherungsträger angegeben hat. (Abgrenzung zu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Mai 2018, L 10 R 3025/17)
2. Ebenso ist regelmäßig eine grob fahrlässige Unkenntnis vom (teilweisen) Wegfall des Anspruchs im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X in dieser Konstellation anzunehmen. 
3. Zum Vorliegen eines atypischen Falls im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X und der Frage von mitwirkendem Verschulden bei unterbliebenem Datenaustausch des Rentenversicherungsträgers zwischen den Versicherungskonten.


I.    Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 26. November 2021 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

II.    Die Beteiligten haben einander in beiden Instanzen keine Kosten zu erstatten.

III.    Die Revision wird nicht zugelassen.


Tatbestand

Im Streit zwischen den Beteiligten steht die Rechtmäßigkeit der teilweisen Aufhebung einer Hinterbliebenenrente sowie die Erstattung von noch insgesamt 59.831,00 €.

Die 1939 geborene Klägerin ist die Witwe des 1933 geborenen und 1996 verstorbenen Versicherten D. A., mit dem sie seit 20. Februar 1959 bis zu seinem Tod verheiratet war. Die Klägerin hat nach ihren Angaben keine Berufsausbildung absolviert und hat bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben als Sachbearbeiterin bei einer Versicherung gearbeitet. Sie war mit einfach gelagerten Fällen und der Prüfung u.a. von Angaben in Antragsformularen betraut.

Mit Bescheid vom 19. November 1996 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine große Witwenrente ab dem 5. August 1996 mit einem monatlichen Zahlbetrag in Höhe von 1.280,17 DM. Die Klägerin wurde im Bescheid wie folgt auf ihre Mitteilungspflichten hingewiesen:

„Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluss auf die Rentenhöhe haben. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns das Hinzutreten oder die Veränderung von Erwerbseinkommen, das sind 
-    Arbeitsentgelt, 
-    Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, 
-    vergleichbares Einkommen 
oder von Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen. 

Erwerbseinkommen sind, auch als Kapitalleistung oder Abfindung, folgende Leistungen: 
(...) 
-    Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, 
(...)
Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten versicherten Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung.
(...)
Soweit Änderungen Einfluss auf den Rentenanspruch oder die Rentenhöhe haben, werden wir den Bescheid - auch rückwirkend - ganz oder teilweise aufheben und zu Unrecht erbrachte Leistungen zurückfordern.
Größere Überzahlungen können vermieden werden, wenn Sie uns entsprechend den Mitteilungspflichten umgehend benachrichtigen.“ 

Des Weiteren wies die Beklagte auf folgendes hin: 

„Trifft eine Witwenrente oder eine Witwerrente mit Erwerbs- oder Erwerbsersatzeinkommen des Berechtigten zusammen, so ist auf die Rente Einkommen in Höhe von 40 v.H. des Betrages anzurechnen, um den das monatliche Einkommen einen dynamischen Freibetrag übersteigt.“ 

Mit Bescheid vom 18. März 1999 bewilligte die Beklagte der Klägerin aus eigener Versicherung antragsgemäß Altersrente für Frauen ab dem 1. Juni 1999 mit einem Zahlbetrag in Höhe von 2.517,53 DM. Der Rente liegen 57,0558 persönliche Entgeltpunkte zugrunde. Das Antragsformular des am 24. August 1998 gestellten Antrags konnte weder die Beklagte noch die Klägerin (als Duplikat) vorlegen. Eine Mitteilung über den Altersrentenbezug der Klägerin an die Beklagte unter der Versicherungsnummer des Versicherten, unter der die Witwenrente bewilligt wurde, erfolgte nicht. 

Anlässlich eines Suchlaufs beim Renten-Service über den Rentenzahlbestand erlangte die Beklagte am 24. September 2019 Kenntnis davon, dass die Klägerin zeitgleich eine Hinterbliebenenrente und eine über dem Freibetrag liegende Versichertenrente aus eigener Versicherung bezog. 

Nach interner Überprüfung hörte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 4. November 2019 dazu an, dass sie beabsichtige, den Bescheid vom 19. November 1996 in der Fassung der Folgebescheide ab dem 1. Juni 1999 aufzuheben und die Überzahlung für die Zeit vom 1. Juni 1999 bis 30. November 2019 in Höhe von 59.630,93 € zurückzufordern. Aufgrund der gegebenen Informationen hätte die Klägerin den Wegfall, das Ruhen bzw. die Kürzung des Rentenanspruchs kennen müssen und sie habe Einkommen erzielt, das zum Wegfall oder zur Minderung ihres Rentenanspruchs geführt habe. Im Rentenbescheid sei sie zudem darüber informiert worden, dass der Hinzutritt von anzurechnendem Einkommen der Beklagten mitzuteilen sei.

Die Klägerin führte daraufhin aus, dass die Rentenstelle der Stadt A-Stadt seinerzeit den Antrag für die Witwenrente und später auch den Antrag für ihre eigene Rente ausgefüllt habe. Sie sei in gutem Glauben gewesen, dass alles in Ordnung gewesen sei. Soweit sie sich erinnern könne, habe sie in dem Antrag auf ihre Altersrente angegeben, dass sie bereits eine Hinterbliebenenrente erhalte. Sie habe daher keine Mitteilungspflichten verletzt und nicht erkennen können, dass ihre Hinterbliebenenrente ab dem Zeitpunkt des Bezugs der eigenen Altersrente teilweise zum Ruhen gekommen sei. Es habe ihr ferngelegen, Geld zu verlangen, das ihr nicht zustehe. Auch sei für sie nicht nachvollziehbar, dass sie die überzahlte Hinterbliebenenrente für einen Zeitraum von ca. 20 Jahren rückwirkend zurückzahlen solle und während des gesamten Zeitraums kein Datenabgleich innerhalb der Behörde erfolgt sei, der die Überzahlung hätte verhindern können. Die Zehnjahresfrist sei nicht beachtet worden. Sie habe die überzahlten Rentenbeträge inzwischen verbraucht und habe keine größeren finanziellen Rücklagen bilden können. Die berechnete Überzahlung könne sie nicht leisten.

Mit Bescheid vom 17. Dezember 2019 berechnete die Beklagte die große Witwenrente ab dem 1. Juni 1999 neu. Ab dem 1. Februar 2020 belief sich der monatliche Zahlbetrag auf 598,65 €. Für die Zeit vom 1. Juni 1999 bis 31. Januar 2020 ergebe sich eine Überzahlung in Höhe von insgesamt 60.177,15 €. Der überzahlte Betrag sei zu erstatten. Den Rentenbescheid vom 19. November 1996 und dessen Folgebescheide hob die Beklagte hinsichtlich der Rentenhöhe teilweise mit Wirkung ab dem 1. Juni 1999 auf. Nach den Ermittlungen der Beklagten habe die Klägerin seit dem 1. Juni 1999 durchgehend eine Rente aus eigener Versicherung bezogen. Das auf die Witwenrente anzurechnende Einkommen stelle eine wesentliche Änderung der Verhältnisse dar. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung für die Vergangenheit lägen vor. Die Klägerin habe Einkommen erzielt, das zum Wegfall oder zur Minderung ihres Rentenanspruchs geführt habe (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i. V. m. Satz 3 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch <SGB X>). Sie habe überdies aufgrund der ihr gegebenen Informationen den Wegfall, das Ruhen bzw. die Kürzung des Rentenanspruchs gekannt bzw. kennen müssen (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X). Schließlich sei die Klägerin ihrer gesetzlichen Mitteilungspflicht, auf die sie im Bescheid vom 19. November 1996 hingewiesen worden sei und die sie folglich kannte, nicht nachgekommen (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X). Zwar finde grundsätzlich ein maschineller Datenabgleich statt, was die Klägerin jedoch nicht von ihren Mitteilungspflichten entbinde. 

Hiergegen erhob die Klägerin am 6. Januar 2020 Widerspruch. Es werde nicht in Abrede gestellt, dass es bei einer Aufhebung aufgrund der Erzielung von Einkommen nicht auf Verschulden ankomme. Es dürfe jedoch grundsätzlich nur für vier Jahre rückwirkend eine Überzahlung geltend gemacht werden. Einer Aufhebung rückwirkend für einen Zeitraum von zehn Jahren und länger stehe schon entgegen, dass ihr keine grobe Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden könne. Sie habe bei der Antragstellung für ihre eigene Altersrente angegeben, dass sie eine Hinterbliebenenrente beziehe und habe davon ausgehen können, dass diese Information bei der Berechnung ihrer Leistungen berücksichtigt werde. Sie sei davon ausgegangen, dass keine Anrechnung erfolge. Das Fehlen einer internen Kommunikation bei der Beklagten sei mindestens ebenso fahrlässig wie ihr eigenes Verhalten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 31. März 2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Mit Ablauf des Monats Mai 1999 sei eine wesentliche Änderung durch den Bezug von Altersrente für Frauen ab dem 1. Juni 1999 eingetreten, die als Einkommen bei der Witwenrente anzurechnen sei. Auch lägen die Voraussetzungen von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, 3 und 4 SGB X für die Aufhebung für die Vergangenheit vor. Die Klägerin habe aufgrund der Hinweise im Bescheid vom 19. November 1996 wissen müssen, dass die Versichertenrente (Altersrente) Einfluss auf die Höhe der Witwenrente habe. Auch sei sie ihrer gesetzlichen Mitteilungspflicht nicht nachgekommen. Die Beklagte habe erstmals am 24. September 2019 erfahren, dass die Klägerin seit dem 1. Juni 1999 eine Versichertenrente beziehe. Der grundsätzliche Datenaustausch zwischen den Versicherungskonten des gesetzlichen Rentenversicherungsträgers befreie die Klägerin nicht von ihrer Informationspflicht. Ein atypischer Fall liege nicht vor, so dass kein Ermessen auszuüben sei. Insbesondere ergäben sich keine Anhaltspunkte für einen groben Behördenfehler. Ein Mitverschulden auf Seiten der Beklagten am Entstehen der Überzahlung liege ebenfalls nicht vor, da die Bescheidhinweise auch für einen rentenrechtlichen Laien eindeutig seien. Eine rückwirkende Aufhebung sei innerhalb von zehn Jahren seit der wesentlichen Änderung in den Verhältnissen zulässig. Eine rückwirkende Aufhebung sei darüber hinaus auch nach Ablauf der Zehnjahresfrist zulässig, wenn die wiederkehrende Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Aufhebung laufend gezahlt werde. Die Rückforderung des ohne Rechtsgrund erhaltenen Betrags in Höhe von 60.177,15 € stehe nicht im Ermessen der Beklagten. 

Hiergegen hat die Klägerin am 20. April 2020 Klage bei dem Sozialgericht Marburg erhoben. Mit Beschluss vom 10. Juni 2020 ist das Verfahren an das örtlich zuständige Sozialgericht Gießen verwiesen worden.

Klagebegründend hat die Klägerin in Ergänzung zu ihrem bisherigen Vorbringen im Wesentlichen vorgetragen, dass es in dem Rentenbescheid vom 19. November 1996 ausdrücklich heiße: „Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten rentenversicherungspflichten Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung“. Darüber hinaus werde auch ihre Altersrente von der Beklagten ausgezahlt. Ihrer Erinnerung nach habe sie bei dem Antrag auf Altersrente nochmals ausdrücklich mitgeteilt, dass sie bereits eine Witwenrente beziehe. Es sei ihr nicht erklärlich, warum diese Mitteilung nicht innerhalb derselben Versicherung weitergeleitet worden sei. Sie sei nicht rechtskundig und habe alles Notwendige getan, um ihre Mitwirkungsverpflichtungen ausreichend zu erfüllen. Darüber hinaus stelle die Rückforderung des Betrages von 60.177,15 € für sie eine unbillige Härte dar, da sie den Forderungsbetrag nicht tilgen könne, ohne selbst sozialhilfebedürftig zu werden. Zudem sei sie bereits über 80 Jahre alt und verfüge nicht über nennenswertes Vermögen. 

Die Beklagte hat im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Rentenantragstellung bei einem Versicherungsamt den Leistungsempfänger nicht von seiner Mitwirkungs- und Mitteilungspflicht befreie. Die Klägerin habe weder die Rentenantragstellung noch den Bezug derselben unter der Versicherungsnummer der Witwenrente mitgeteilt. Ungeachtet dessen habe die Klägerin nach Erlass des Hinterbliebenenrentenbescheides Einkommen erzielt, das zur Minderung des Anspruchs auf Hinterbliebenenrente geführt habe. Von einer unbilligen Härte sei nicht auszugehen, da die Klägerin bereits seit dem 60. Lebensjahr Altersrente beziehe. Auch könne sie aufgrund der insgesamt bezogenen monatlichen Rentenleistungen in Höhe von ca. 2.500,00 € nicht mit dem Eintritt einer Sozialhilfebedürftigkeit durchdringen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts seien wirtschaftliche Verhältnisse bei der Ermessensausübung nicht zu berücksichtigen. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin seien die Hinweise im Bescheid vom 19. November 1996 hinsichtlich der Mitwirkungspflichten eindeutig und auch für rentenrechtliche Laien verständlich gewesen. Es sei klar ersichtlich, dass das „Hinzutreten“ von u.a. Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen gewesen sei, während eine „Veränderung“ bestimmter Einkommensarten nicht hätte mitgeteilt werden müssen. 

Durch Urteil vom 26. November 2021 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 17. Dezember 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2020 aufgehoben, soweit ein Erstattungsbetrag von mehr als 364,15 € gefordert worden ist. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Nach den gesetzlichen Vorgaben sei es zwar möglich, dass auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren ein Bescheid über die Bewilligung laufender Geldleistungen zurückgenommen werden könne, wenn - wie hier - diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt worden sei. Dies gelte jedoch nur in den Fällen der Bösgläubigkeit (vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige Angaben bzw. Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit). Der Verweis in § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X auf § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X als Rechtsgrundverweisung erfordere eine folgerichtige Übertragung der in Bezug genommenen Regelung auf § 48 SGB X mit der Konsequenz, dass bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X sowie des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X eine über die Zehnjahresfrist hinausgehende Aufhebung in Betracht komme. Jedoch lägen diese Voraussetzungen nicht vor. 

Im Hinblick auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X böten sich keine Anhaltspunkte für die Annahme, der Klägerin wäre schon vor der Konfrontation mit der von der Beklagten durchgeführten Anrechnung im Bescheid vom 17. Dezember 2019 bekannt gewesen, dass ihr wegen des Bezugs der Altersrente die Witwenrente tatsächlich nicht in voller Höhe zugestanden habe. Die Klägerin sei nach ihren Angaben davon ausgegangen, dass sie zu ihrer Witwenrente noch Altersrente bekomme. Es läge überdies keine grobe Fahrlässigkeit vor. Angesichts der Komplexität der Anrechnungsvorschriften habe die Klägerin, die über keine besonderen Kenntnisse und Fertigkeiten in Bezug auf die Rentenberechnung oder -anrechnung verfüge, weder zu Beginn des Bezugs der Altersrente noch danach von sich aus erkennen müssen, dass ihr die Witwenrente nicht in voller Höhe, sondern unter Abzug eines Anrechnungsbetrages, zugestanden habe. Die Informationen in dem die Witwenrente bewilligenden Bescheid versetzten den Betroffenen nicht in die Lage, eigenständig eine auch nur annäherungsweise Anrechnung vorzunehmen. Dementsprechend dränge sich für den Rentenbezieher - gerade bei nicht über dem Durchschnitt liegenden Renten - nicht der Verdacht auf, sein Einkommen könne den Freibetrag überschreiten. 

Auch habe die Klägerin ihre Mitwirkungspflichten nicht im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X schuldhaft verletzt. Zwar habe sie objektiv ihre Mitteilungspflicht verletzt. Es fehle aber an einem Verschulden. Die Klägerin wolle bei der Antragstellung ihrer Altersrente angegeben haben, die Witwenrente zu beziehen, eine genaue Erinnerung habe sie jedoch nicht. Eine abschließende Klärung dieser Frage sei nicht möglich, weil die Beklagte den Antrag vernichtet habe und die Klägerin über keine Kopie verfüge. Nach den allgemeinen Regeln der Beweislast gehe dies zulasten der Beklagten, die einen Anspruch auf Aufhebung der Rentenbewilligung und Erstattung überzahlter Rente behaupte. Zwar habe die Angabe der Witwenrente im Altersrentenantrag die Klägerin objektiv nicht von der Pflicht entbunden, den Bezug der Altersrente der für die Zahlung der Witwenrente zuständigen Stelle (also unter der Versicherungsnummer der Witwenrente) mitzuteilen. Indessen müsse es einem nicht mit den internen Zuständigkeiten vertrauten Versicherten nicht einleuchten, dass der Rentenversicherungsträger die erhaltenen Informationen nicht verwerte, also intern nicht weitergebe. Der Klägerin sei ihr Unterlassen nicht im Sinne einer groben Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Die in dem Witwenrentenbescheid erteilten Hinweise über das Bestehen von Mitteilungspflichten seien vorliegend bezogen auf den Fall der Klägerin unvollständig. Vorliegend sei maßgeblich, dass die Klägerin - jedenfalls sei dies nicht auszuschließen - den Bezug der Witwenrente beim Antrag auf Altersrente angegeben habe, deshalb davon ausgegangen sei, die Beklagte sei umfassend informiert und subjektiv folgerichtig von einer Mitteilung der Bewilligung der Altersrente an das für die Witwenrente zuständige Referat Abstand genommen habe, ohne dass ihr konkrete andere Informationen für diese spezielle Fallgestaltung erteilt worden wären.

Eine Aufhebung und Erstattung habe jedoch für die Zukunft gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ab 20. Dezember 2019 (drei Tage nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheides vom 17. Dezember 2019) bis zum 31. Januar 2020 erfolgen können. Dies habe einem Betrag von 364,15 € entsprochen, der von der Klägerin zu erstatten sei.

Gegen das ihr am 13. Dezember 2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 30. Dezember 2021 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt. 

Sie ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X als auch von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X vorliegen würden. 

Die Klägerin habe ihre Mitteilungspflichten im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X verletzt. Der hier in Rede stehende Hinweis auf die Mitteilungspflicht enthalte hinsichtlich der Art des mitzuteilenden Einkommens keine Einschränkung, gelte also klar erkennbar auch für eine von der Beklagten gezahlte Altersrente. Die unmissverständliche Belehrung über die Mitteilungspflicht begründe bei ihrer Verletzung grobe Fahrlässigkeit. Mit Blick auf den klaren Wortlaut des Hinweises auf die Mitteilungspflicht habe die Klägerin keinen Anlass zu der Vermutung gehabt, dass der Hinzutritt einer von der Beklagten gezahlten Altersrente davon nicht erfasst werde. Statt den klaren und unmissverständlichen Hinweisen im Rentenbescheid zu folgen und eine schlichte Meldung an den Rentenversicherungsträger zu machen, habe sich die Klägerin in der komplizierten Materie des Sozialrechts auf Vermutungen verlassen und deshalb grob fahrlässig gehandelt. Überdies habe sich der Klägerin aufdrängen müssen, dass sie mit der Angabe der Witwenrente im Antrag auf Altersrente ihrer Mitteilungspflicht über die Bewilligung der Versichertenrente noch nicht nachgekommen sei, da sie denknotwendig erst nach Erteilung des entsprechenden Bescheides ihre Mitteilungsverpflichtung habe erfüllen können. Auch sei es nicht Aufgabe des Rentenversicherungsträgers, sich Kenntnisse zu verschaffen, vielmehr seien diese durch den Versicherten zuzuführen. Der Vorgang einer Altersrente sei ein getrennter, unabhängiger Vorgang zu dem einer Witwenrente. 

Auch die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X lägen vor. Mit Bescheid vom 19. November 1996 habe die Beklagte der Klägerin mitgeteilt, dass bei einem Zusammentreffen einer Hinterbliebenenrente mit Einkommen, wie z.B. einer Versichertenrente, dieses Einkommen in Höhe von 40 v.H. des Betrages anzurechnen sei, um den es einen Freibetrag übersteige. Dieser Hinweis zur Einkommensanrechnung sei ausführlich, klar und einfach zu verstehen. Daher habe die Klägerin wissen müssen, dass zwischen der Höhe der Witwenrente und dem Bezug von Versichertenrente ein unmittelbarer Zusammenhang dergestalt bestehe, dass die Versichertenrente auf die Witwenrente anzurechnen sei. Es sei nicht erforderlich gewesen, dass die Klägerin komplexe Rentenberechnungen oder Anrechnungsvorschriften habe nachvollziehen können. Es reiche aus, dass die Klägerin mit einfachen Mitteln habe feststellen können, dass ihre Versichertenrente bei der Witwenrente immer unberücksichtigt geblieben sei, was sich schon daraus ergebe, dass sie nach der Bewilligung der Versichertenrente keinen Bescheid bekommen habe, mit dem ihre Witwenrente aufgrund des Hinzutretens der weiteren Rente neu berechnet worden sei. Auch habe die Versichertenrente der Klägerin weit über dem Durchschnitt gelegen, so dass eine Unterschreitung des Freibetrages sich vorliegend nicht aufgedrängt habe.

Auch vermöge sie keinen atypischen Fall zu erkennen. Es sei bereits nicht nachgewiesen, dass die Klägerin bei Beantragung der Altersrente den Bezug der Witwenrente angegeben habe. Dies könne ihr - der Beklagten - nicht zum Nachteil gereichen, denn sie sei zur Vernichtung des Altersrentenantrages gesetzlich befugt gewesen. Selbst wenn die Klägerin bei Beantragung der Altersrente den Bezug der Witwenrente angegeben hätte, wäre dies aber ohne Bedeutung, da unbeachtlich sei, welche Angaben die Klägerin im Rahmen eines Antrags auf Gewährung von Altersrente gemacht habe, da es sich um einen getrennten, unabhängigen Vorgang handele. Überdies sei der erstinstanzliche Vortrag verspätet, da es vorliegend auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides ankomme. Im Übrigen sei nicht erkennbar, welches Mitverschulden der Beklagten angelastet werden könne. Insbesondere begründe es keinen atypischen Fall, dass keine Datenverknüpfung erfolgt sei zwischen dem Versicherungskonto der Klägerin und dem Versicherungskonto des Versicherten. Selbst bei Annahme eines Mitverschuldens bestünde keine Ermessensfehlerhaftigkeit, da die Klägerin die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Nur bei einem groben Fehler der Verwaltung liege regelmäßig eine atypische Fallgestaltung vor. Ein solch grober Fehler der Beklagten sei vorliegend jedoch nicht erkennbar. Ein relevantes Fehlverhalten der Behörde liegen nur vor, wenn es „wesentlich mitwirkend“ für die Entstehung der Überzahlung gewesen sei.

Die Beklagte beantragt, 

das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 26. November 2021 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen. 

Die Klägerin beantragt, 

die Berufung zurückzuweisen. 

Sie verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. 

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze und auf die von der Beklagten vorgelegte Rentenakte des Versicherten Bezug genommen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist. 


Entscheidungsgründe

Die statthafte Berufung (§§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) der Beklagten ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 Abs. 1 SGG). 

Sie hat auch in der Sache Erfolg.

Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 26. November 2021 kann nicht aufrechterhalten bleiben, soweit es den Bescheid vom 17. Dezember 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2020 aufgehoben und soweit es den Erstattungsbetrag auf lediglich 364,15 € festgesetzt hat. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 17. Dezember 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2020 (§ 95 SGG) ist auch im Übrigen zu Recht ergangen und beschwert die Klägerin nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG

Dem Senat erschließt sich zwar in Anbetracht des bei der Rentengewährung geltenden Monatsprinzips (§ 64, § 118 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch <SGB VI>) nicht, auf welcher Grundlage das Sozialgericht eine Aufhebung des Bescheides vom 19. November 1996 bereits ab dem 20. Dezember 2019 für rechtmäßig erachtet und folgerichtig einen anteiligen Erstattungsbetrag für die Zeit vom 20. Dezember 2019 bis 31. Januar 2020 in Höhe von 364,15 € errechnet hat. Da die Rente in monatlichen Beträgen gezahlt wird, beginnt nämlich die „Zukunftswirkung“ des Aufhebungsbescheides nicht bereits mit dem Tag nach seinem Zugang, sondern erst mit dem Beginn des nächsten Leistungszeitraums (vgl. BSG, Urteil vom 24. April 1997, 13 RJ 23/96, juris Rdnr. 50 m.w.N.). Ungeachtet dessen ist vorliegend allerdings die teilweise Aufhebung des genannten Bescheides für den benannten Zeitraum sowie des genannten Erstattungsbetrags nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens. Denn die hierdurch alleine beschwerte Klägerin hat keine Berufung eingelegt, so dass das Urteil des Sozialgerichts insoweit in Rechtskraft erwachsen ist. 

Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass der ursprüngliche Rentenbewilligungsbescheid vom 19. November 1996 und die Folgebescheide hinsichtlich der Rentenhöhe unverändert Bestand haben und dass die ihr dem Grunde nach unstreitig zustehende Witwenrente ohne Berücksichtigung der von ihr in der Zeit vom 1. Juni 1999 bis 20. Dezember 2019 bezogenen Altersrente aus eigener Versicherung berechnet wird. Die Beklagte durfte den Rentenbewilligungsbescheid vom 19. November 1996 sowie die Folgebescheide (teilweise) hinsichtlich der „Rentenhöhe“ rückwirkend aufheben, weil in den für die Rentenbewilligung maßgeblich gewesenen Verhältnissen (nachträglich) bezüglich des streitigen Zeitraums eine wesentliche Änderung eingetreten ist und weil einer Aufhebung dieser Bescheide kein schützenswertes Vertrauen der Klägerin entgegensteht. 

Der angegriffene Bescheid vom 17. Dezember 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2020 ist formell rechtmäßig ergangen, insbesondere hat die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 4. November 2019 gemäß § 24 Abs. 1 SGB X angehört. 

Die Beklagte hat überdies ihre streitgegenständliche Aufhebungsentscheidung gegenüber der Klägerin zutreffend auf § 48 SGB X gestützt. 

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Ein Verwaltungsakt soll gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit u.a. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Nr. 2), nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs führen würde (Nr. 3), oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Nr. 4). Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt dabei in den Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum aufgrund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraums (§ 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X).

Durch Bescheid vom 19. November 1996 gewährte die Beklagte der Klägerin eine große Witwenrente ohne Anrechnung von Einkommen ab 5. August 1996. Bei diesem Rentenbescheid handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Die Klägerin hatte zwar grundsätzlich einen Anspruch auf Witwenrente. In den Verhältnissen, die der Bewilligung zugrunde lagen, ist jedoch wegen des Bezugs einer eigenen Altersrente für Frauen ab dem 1. Juni 1999, der eine Anrechnung nach § 97 SGB VI bewirkt, eine wesentliche Änderung eingetreten. Maßgeblich ist insoweit die bereits seit 1. Januar 1986 bestehende gesetzliche Regelung (§ 1281 Reichsversicherungsordnung <RVO>/§ 58 Angestellten-Versicherungs-gesetz <AVG> bzw. § 97 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI bzw. ab 1. Juli 2015 § 97 Abs. 1 Satz 1 SGB VI in der Fassung des Fünften Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze <5. SGB IV-ÄndG> vom 15. April 2015, BGBl I, 583), wonach das Einkommen (§§ 18a bis 18e Sozialgesetzbuch, Viertes Buch <SGB IV>) von Berechtigten, das mit einer Witwenrente oder Witwerrente zusammentrifft, hierauf angerechnet wird. Nach § 18a Abs. 1 bzw. § 114 Abs. 1 SGB IV ist bei einer Rente wegen Todes insbesondere Erwerbseinkommen (Nr. 1) und Erwerbsersatzeinkommen (Nr. 2) zu berücksichtigen. Erwerbsersatzeinkommen umfasst unter anderem auch Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen Alters (§ 18a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 114 Abs. 3 Satz 1 SGB IV). Anrechenbar ist grundsätzlich das Einkommen, das monatlich das 26,4-fache des aktuellen Rentenwerts übersteigt (§ 97 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI bzw. seit 1. Juli 2015 § 97 Abs. 2 Satz 1 SGB VI i.d.F. des 5. SGB IV-ÄndG). Dies zugrunde gelegt, ergab sich folglich ab 1. Juni 1999 - bezogen auf den Bescheid vom 19. November 1996 also nicht anfänglich - ein geringerer Zahlbetrag der Witwenrente. Die Bestimmung der Höhe des in den einzelnen Monaten anzurechnenden Einkommens und die Anrechnung in den einzelnen Monaten selbst wurde von der Klägerin nicht substantiiert angegriffen. Auch für den Senat ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit dieser Berechnung, weshalb auf die entsprechenden Anlagen zum Bescheid vom 17. Dezember 2019 Bezug genommen wird.

Die Beklagte war auch berechtigt, den Witwenrentenbescheid mit Wirkung zum 1. Juni 1999 nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X aufzuheben. 

Zur Überzeugung des Senats ist der Klägerin zunächst jedenfalls der Vorwurf zu machen, dass sie unter Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße nicht wusste, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X). Ob eine betroffene Person die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, ist nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen, d.h. es ist bei der Beurteilung ein subjektiver Maßstab anzulegen (BSG, Urteil vom 5. September 2006, B 7a AL 14/05 R). Der in § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X umschriebene Verschuldensmaßstab entspricht der groben Fahrlässigkeit. Grob fahrlässig handelt nach der Legaldefinition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, 2. Halbsatz SGB X, wer die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchtet; dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff; BSG, Urteile vom 26. August 1987, 11a RA 30/86; vom 8. Februar 2001, B 11 AL 21/00 R m.w.N. - ständige Rechtsprechung). Auf dieser Ebene besteht die erforderliche Kenntnis, wenn der Begünstigte weiß oder wissen muss, dass ihm die zuerkannte Leistung oder anderweitige Begünstigung so nicht zusteht (vgl. Schütze in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 45 Rdnr. 65). Daher kann einem Leistungsempfänger immer nur dann grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, wenn ihm der Fehler bei seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten aus anderen Gründen geradezu "in die Augen springt". Das ist der Fall, wenn er aufgrund einfachster und ganz naheliegender Überlegungen sicher die Rechtswidrigkeit hätte erkennen können (vgl. BSG, Urteil vom 26. August 1987, 11a RA 30/86) oder er das nicht beachtet hat, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1980, 7 RAr 13/79). Augenfällig im vorstehenden Sinne sind Fehler zunächst, wenn die Begünstigung dem Verfügungssatz nach ohne weitere Überlegungen als unzutreffend erkannt werden kann. Darüber hinaus ist der Begründung des Verwaltungsaktes nach ein Fehler augenfällig, wenn die Fehlerhaftigkeit dem Adressaten unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit ohne weitere Nachforschungen und mit ganz naheliegenden Überlegungen einleuchten und auffallen muss (vgl. Schütze, a.a.O., § 45 Rdnr. 69). Für den Versicherten besteht eine Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, B 13 R 77/09 R). Denn die Beteiligten haben sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren (vgl. BSG, Urteile vom 8. Februar 2001, B 11 AL 21/00 R; vom 1. Juli 2010, B 13 R 77/09 R; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 12. März 2002, L 12 RJ 32/01).

Daran gemessen ist der Klägerin zur Überzeugung des Senats unter den gegebenen Umständen eine Sorgfaltspflichtverletzung in besonders schwerem Maße vorzuwerfen, wenn sie den teilweisen Wegfall des Hinterbliebenenrentenanspruchs nicht erkannt haben sollte. Sie hat die gebotene Sorgfalt, die von ihr erwartet werden konnte und musste, in besonders schwerem Maße verletzt, weil sie einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt hat, sondern vielmehr davon ausgegangen ist, dass die Auszahlung ihrer bewilligten Witwenrente in der bisherigen Höhe trotz der Bewilligung einer Altersrente weiterhin zu Recht erfolgt ist. Die Klägerin hätte zur Überzeugung des Senats zumindest wissen müssen, dass erzieltes Einkommen auf die Witwenrente angerechnet wird. Aus dem Rentenbescheid vom 19. November 1996 ergibt sich ohne weiteres der Hinweis, dass ein Zusammentreffen der Hinterbliebenenrente mit Erwerbs- oder Erwerbsersatzeinkommen - insbesondere in Form einer Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung - zur Anrechnung von Einkommen führen kann. Überdies enthält der genannte Bescheid den weiteren Hinweis, dass Erwerbs- oder Erwerbsersatzeinkommen bei einem Hinzutreten zur Witwenrente auf diese in Höhe von 40 v. H. des Betrags anzurechnen ist, um den das monatliche Einkommen einen dynamischen Freibetrag übersteigt. Vorliegend kann sich die Klägerin nicht darauf berufen - wie das erstinstanzliche Gericht meint -, dass sie aufgrund der Komplexität der Anrechnungsvorschriften ohne spezifische rentenrechtliche Kenntnisse nicht erkennen konnte, ob ihr die Witwenrente in voller Höhe zugestanden hat oder nicht. Ebenso wenig trägt das Argument, dass sich der Klägerin mangels Mitteilung der Höhe des dynamischen Freibetrags nicht der Verdacht aufdrängen musste, dass ihr Einkommen diesen Freibetrag übersteigt. Vielmehr ist die Klägerin durch die gegebenen Hinweise unschwer in die Lage versetzt worden zu erkennen, dass der Bezug der Altersrente rentenschädliche Auswirkungen in Bezug auf die ihr bewilligte Hinterbliebenenrente haben muss. Es wird dabei von einem juristischen Laien bzw. einer in sozialversicherungsrechtlichen Angelegenheiten unbedarften Person nicht verlangt, die sicherlich komplexen Regelungen zur Ermittlung des dynamischen Freibetrags der Einkommensanrechnung im Sinne von § 97 SGB VI bis ins letzte Detail zu durchdringen. Die im Bescheid vom 19. November 1996 erteilten Hinweise, dass beim Zusammentreffen der Witwenrente mit Erwerbs- oder Erwerbsersatzeinkommen ein bestimmter Betrag des Einkommens auf die Witwenrente anzurechnen ist und sich Auswirkungen auf die Rentenhöhe ergeben können, sind ausführlich, klar und einfach zu verstehen. Es ist einem dynamischen Freibetrag immanent, dass er Veränderungen unterliegt und damit gerade keine statische, allgemeinverbindliche, bezifferte Angabe seiner Höhe im Bescheid möglich ist. Wenn die Klägerin - wie es bei Beachtung der einem in jedem Sozialrechtsverhältnis Beteiligten obliegenden Sorgfalt geboten ist - die entsprechenden Hinweise sorgfältig zur Kenntnis genommen hätte, dann hätte ihr klar sein müssen, dass beim Bezug einer Rente aus eigener Versicherung hinsichtlich ihrer Berechtigung zum Bezug der Witwenrente ein sogenannter Anrechnungsfall vorliegen könnte und dieser - aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Altersrente aus eigener Versicherung - auch in ihrem konkreten Fall eingreift. Die Klägerin durfte bei Beachtung der ihr obliegenden Sorgfaltspflichten gerade nicht von der Richtigkeit der Höhe der Zahlungen der Witwenrente auch nach dem 1. Juni 1999 ausgehen. Dies ergibt sich auch keinesfalls daraus, dass die Klägerin sowohl die Witwenrente als auch die Altersrente für Frauen von der Beklagten und damit von einem einzigen Versicherungsträger erhalten hat. Denn die Sorgfaltspflichten im Sozialrechtsverhältnis gelten unabhängig davon, ob es sich um denselben oder um unterschiedliche Versicherungsträger handelt. Eine Vermutung dahingehend, dass bei zwei Ansprüchen gegen denselben Versicherungsträger die jeweilige Berechnung der Richtigkeit entspricht, kennt die Sozialrechtsordnung nicht. Auch hat die Klägerin unschwer erkennen müssen, dass eine Anrechnung ihrer Altersrente auf die Witwenrente nicht erfolgte, hat sie doch zu keiner Zeit einen Bescheid über die Neuberechnung der Witwenrente erhalten, der das Einkommen unter dem Gesichtspunkt seiner Anrechenbarkeit berücksichtigt hätte. Etwaigen Zweifeln hinsichtlich der Rechtslage hätte die Klägerin in einfacher Weise dadurch begegnen können und müssen, indem sie den ihr seitens der Beklagten im Bescheid vom 19. November 1996 gegebenen Hinweisen gefolgt wäre und ihrer Verpflichtung, der Beklagten das Hinzutreten von Erwerbsersatzeinkommen in Gestalt einer Versichertenrente (Altersrente für Frauen) unverzüglich mitzuteilen, entsprochen hätte (vgl. Hessisches LSG, a.a.O., juris Rdnr. 57). 

Ebenso ist die Klägerin zur Überzeugung des Senats im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X zumindest grob fahrlässig ihrer Pflicht zur Mitteilung des Bezugs ihrer Altersrente für Frauen ab dem 1. Juni 1999 nicht nachgekommen. Für die sich aus § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) ergebende Pflicht zur Mitteilung von Änderungen in den für die Leistungsgewährung wesentlichen Verhältnissen, auf welche die Klägerin im Bescheid vom 19. November 1996 hingewiesen worden ist, kommt es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1980, 7 RAr 13/79 = SozR 4100 § 152 Nr. 10; Urteil vom 29. November 1989, 7 RAr 138/88 = BSGE 66, 103) nicht darauf an, ob der Rentenversicherungsträger bereits auf anderem Wege - hier durch die unter der eigenen Versicherungsnummer der Klägerin erfolgte Bewilligung der Altersrente - Kenntnis von der Änderung der Verhältnisse hatte. Dies wird damit begründet, dass es gerade Zweck der Mitteilungspflicht des Leistungsempfängers ist, auch eine - von der Kenntnis des Amtes unabhängige - Überprüfung des Leistungsfalls zu veranlassen (Hessisches LSG, a.a.O., juris Rdnr. 58). Dieser ihr obliegenden Mitteilungspflicht ist die Klägerin zum Versicherungskonto des verstorbenen Versicherten, aus dem sie die Hinterbliebenenrente bezieht, nicht nachgekommen. Das ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Nach dem Vorgesagten ist die Klägerin ihrer Mitwirkungspflicht ebenso wenig dadurch nachgekommen, dass sie - als wahr unterstellt - bei der Beantragung ihrer eigenen Altersrente für Frauen am 24. August 1998 angegeben hat, dass sie eine Witwenrente nach ihrem verstorbenen Ehemann bezieht. Denn es handelte sich weder um eine zielgerichtete Mitteilung der Klägerin an die Beklagte über eine Änderung der Verhältnisse bezogen auf die gewährte Witwenrente noch handelt es sich um Renten aus einem einzigen Versicherungskonto.

Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts muss sich die Klägerin auch bezüglich der Verletzung ihrer Mitwirkungspflichten zumindest grobe Fahrlässigkeit vorwerfen lassen, welche wiederum dem Verschuldensmaßstab nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, 2. Halbsatz SGB X entspricht. Auch die Belehrung über die Mitwirkungs- und Mitteilungspflichten im Bescheid über die Bewilligung der Witwenrente sind umfassend, klar und unmissverständlich gefasst. So ergibt sich eindeutig aus dem Bescheid vom 19. November 1996, dass eine Mitteilung über das Hinzutreten u.a. von Erwerbsersatzeinkommen aus einer Versichertenrente - also aus eigener Versicherung - aus der gesetzlichen Rentenversicherung zur bereits gewährten Hinterbliebenenrente aus dem Versicherungskonto des verstorbenen Versicherten an dieses unverzüglich zu erfolgen hat. 

Soweit die Klägerin anführt, dass es zu den Mitwirkungspflichten in dem Bewilligungsbescheid vom 19. November 1996 heißt, dass sich die Meldung von Veränderungen bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung erübrige, ändert dies nichts an der Klarheit und Unmissverständlichkeit der im selben Bescheid getroffenen Aussage, dass das Hinzutreten von u.a. Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen ist. Abgesehen davon, dass sich die von der Klägerin in Bezug genommene Formulierung erkennbar nur auf "Veränderungen" in Bezug auf bereits bekannte Anrechnungskonstellationen und nicht auf ein - hier vorliegendes erstmaliges - "Hinzutreten" von Erwerbs- oder Erwerbsersatzeinkommen bezieht (vgl. Hessisches LSG, a.a.O., juris Rdnr. 59 ff.), kommt es hierauf nicht streitentscheidend an. Denn die Klägerin hat selbst eingeräumt, gewusst zu haben, dass sie hinsichtlich ihrer Altersrente eine Mitteilungspflicht gegenüber der Beklagten trifft. Nach ihrem Vortrag ist sie dieser ihr obliegenden Pflicht lediglich an unzutreffender Stelle bei Beantragung ihrer eigenen Altersrente nachgekommen. 

Auch lassen sich den Bescheidhinweisen über die Mitwirkungspflichten gerade keine besonderen Umstände entnehmen, bei deren Vorliegen die Klägerin hätte berechtigterweise annehmen dürfen, dass ihre Mitteilungspflichten entfielen, wenn sie umgekehrt bei der Beantragung ihrer Altersrente aus eigener Versicherung den Bezug der Witwenrente angegeben hat. Dies gilt auch für den Fall, dass beide Versicherungskonten von demselben Versicherungsträger geführt werden. Es kann insbesondere auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass es für die Klägerin offensichtlich gewesen ist, dass es sich bei den an sie geleisteten Renten um zwei gänzlich unterschiedliche und getrennt voneinander gewährte Leistungen handelt, die sie gesondert beantragt hat, die gesondert beschieden wurden und die aus getrennten Versicherungskonten erbracht werden (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 27. Juni 2022, L 5 R 310/20). Dass die Klägerin nicht in der Lage gewesen sein könnte, dies zu erkennen, zumal sie als Versicherungssachbearbeiterin nach ihren eigenen Angaben gerade mit der Prüfung von Formalien in Versicherungsanträgen betraut war, ist nicht ersichtlich. Auch entbindet sie die Antragstellung und die Auskunft der Rentenstelle bei der Stadt A-Stadt, über die sie nach ihren Angaben beide Rentenanträge bei demselben Sachbearbeiter gestellt hat, nicht von ihren höchstpersönlichen Mitwirkungspflichten. Dies folgt schon daraus, dass sich diese Pflichten jedenfalls aus dem Bescheid vom 19. November 1996 an sie persönlich gerichtet ergeben und im Übrigen nicht an die Antragstellung, sondern das Hinzutreten der weiteren Rente durch Bewilligungsbescheid vom 18. März 1999 ab 1. Juni 1999 geknüpft sind. 

Schließlich hat die Klägerin auch Einkommen erzielt, welches aufgrund der Anrechnungsvorschrift des § 97 SGB VI zum teilweisen Wegfall des Hinterbliebenenrentenanspruchs geführt hat, so dass überdies der verschuldensunabhängige Tatbestand des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X erfüllt ist. Da die Voraussetzungen von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X ebenfalls einschlägig sind (siehe oben), kommt der Frage, inwieweit vorliegend eine Deckung zwischen der zum Wegfall des Anspruchs führenden Leistung mit dem weggefallenen Anspruch gegeben ist (vgl. BSG Urteil vom 23. März 1995, 13 RJ 39/94 = SozR 3-2200 § 1248 Nr. 11 m.w.N.; Hessisches LSG, Urteil vom 30. Januar 2015, L 5 R 390/12, juris Rdnr. 55), keine streiterhebliche Bedeutung zu. Aufgrund der Tatsache, dass die Altersrente der Klägerin aus eigener Versicherung jeweils höher ist als der nach Maßgabe von § 97 Abs. 2 SGB VI als eigenes Einkommen auf die Witwenrente anzurechnende Teil dieser Altersrente, geht der Senat allerdings von einem offenkundigen Fall einer Doppelleistung aus. Selbst wenn einzig die Voraussetzungen von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X erfüllt wären, griffe folglich keine Beschränkung des Aufhebungsrechts für die Vergangenheit zu Gunsten der Klägerin ein (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1986, 7 RAr 33/85 = BSGE 60, 180 = SozR 1300 § 48 Nr. 26). 

Somit sind die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, 3 und 4 SGB X erfüllt. 

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bedeutet das „soll“ in § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X, dass der Rentenversicherungsträger den Verwaltungsakt im Regelfall („typischer Fall“) rückwirkend aufzuheben hat. Liegt jedoch ein Ausnahmefall („atypischer Fall“) vor, so ist eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang von der gegebenen Aufhebungsmöglichkeit abgesehen werden kann. § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X enthält damit nicht für alle, sondern nur für „atypische“ Fälle eine Verpflichtung zur Ermessensausübung. Die Prüfung, ob ein solcher „atypischer Fall“ vorliegt, ist nicht Teil der Ermessensentscheidung, sondern gerichtlich in vollem Umfang nachprüfbar. Das Gericht darf den angefochtenen Bescheid wegen fehlender Ermessensausübung aufheben, wenn die Prüfung ergibt, dass ein „atypischer Fall“ gegeben ist (vgl. BSG, Urteil vom 6. November 1985, 10 RKg 3/84 = SozR 1300 § 48 Nr. 19; BSG, Urteil vom 11. Februar 1988, 7 RAr 55/86 = SozR 1300 § 48 Nr. 44; BSG, Urteil vom 25. April 1991, 11 RAr 21/89 = SozR 3-4100 § 63 Nr. 2).

Wann ein „atypischer Fall“ vorliegt, in dem die Behörde eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen hat, ob der Verwaltungsakt mit Dauerwirkung rückwirkend aufgehoben wird, hängt von dem jeweiligen Zweck der Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X und den Umständen des Einzelfalles ab. Diese müssen vom (typischen) Regelfall signifikant zum Nachteil des Betroffenen abweichen (vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 1986, 7 RAr 55/84 = SozR 1300 § 48 Nr. 22). Das ist etwa dann anzunehmen, wenn der Leistungsempfänger durch die mit der Aufhebung verbundenen Nachteile, insbesondere die aus § 50 Abs. 1 SGB X folgende Pflicht zur Erstattung der erbrachten Leistungen, in besondere Bedrängnis gerät (vgl. BSG, Urteil vom 6. November 1985, a.a.O.), wenn er sonst für den von der Aufhebung betroffenen Zeitraum Anspruch auf eine andere Sozialleistung, etwa auf Sozialhilfe, gehabt hätte (vgl. BSG, Urteil vom 23. März 1995, 13 RJ 39/94 = SozR 3-1300 § 48 Nr. 37) oder wenn er entreichert ist (vgl. BSG, Urteil vom 24. März 1983, 10 RKg 17/82 = SozR 5870 § 2 Nr. 30). Auch ein mitwirkendes Fehlverhalten des Versicherungsträgers kann bei grobem Verschulden einen „atypischen Fall“ rechtfertigen (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juni 1986, 7 RAr 126/84 = SozR 1300 § 48 Nr. 25). 

Das Vorbringen der Klägerin ist unter Anlegung dieser Maßstäbe ungeeignet, eine „Atypik“ anzunehmen. 

Die mit jeder Erstattung verbundene finanzielle Belastung ist für sich genommen nicht geeignet, einen „atypischen“ Fall zu begründen (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 10. Februar 2012, L 5 R 207/11; Urteil vom 23. Mai 2014, L 5 R 197/12, juris, m.w.N.). Die hiermit einhergehende Härte mutet das Gesetz jedem Betroffenen zu, weil dies dem Rechtsgrundsatz der unbeschränkten Vermögenshaftung entspricht. Vielmehr ist die Verpflichtung zur Erstattung überzahlter Rentenleistungen einer Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit immanent, mithin in derartigen Fällen geradezu typisch. Dass die Klägerin im Vergleich zu anderen Betroffenen durch die mit der Aufhebung verbundene Erstattungspflicht schwerwiegender getroffen wäre und hierdurch in eine „besondere Bedrängnis“ im Sinne der vorstehenden Rechtsprechung geraten würde, hat sie weder konkret aufgezeigt noch ist dies sonst ersichtlich geworden. Allein ihre pauschalen Angaben, sie könne den Forderungsbetrag nicht tilgen und verfüge über kein nennenswertes Vermögen begründet folglich keine Atypik. Es besteht in der Konstellation wie der vorliegenden auch keinesfalls die Gefahr, dass die Klägerin auf unabsehbare Zeit mit den ihr gewährten Rentenleistungen unter dem Niveau der Grundsicherung auskommen müsste. Denn selbst wenn die Beklagte mit ihrer Erstattungsforderung gegen die laufenden Rentenleistungen der Klägerin aufrechnen würde, müsste sie jedenfalls die Vorgaben des § 51 SGB I beachten, nach dessen Absatz 2 es der Klägerin unbenommen bleibt, nachzuweisen, dass sie durch die Aufrechnung hilfebedürftig im Sinne des Sozialhilferechts würde. Aufgrund dieses Aufrechnungsschutzes bliebe der Klägerin dann also immer noch das zum Lebensunterhalt Notwendige, so dass ihre Interessen bereits hierdurch hinreichend gewahrt sind. Eines weitergehenden Schutzes bedarf es daneben nicht. Ferner ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin im Falle einer erfolgten Anrechnung der Altersrente auf die Witwenrente in der Vergangenheit (vermehrt) grundsicherungs- bzw. sozialhilfebedürftig gewesen wäre. Denn offensichtlich lag die überdurchschnittliche Rente der Klägerin zuzüglich des anrechnungsfreien Anteils der Witwenrente über dem Sozialhilfesatz. Auch ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin uneigennützig entreichert sein könnte. Auch hierzu hat sie keine substantiierten Angaben gemacht. Die Verwendung der gezahlten Rentenleistungen zum Bestreiten des laufenden Lebensunterhalts steht jedenfalls ein entsprechender Gegenwert gegenüber, der einer Entreicherung entgegensteht. 

Soweit die Klägerin darauf verweist, dass ein mitwirkendes Verschulden der Beklagten vorliegt, ist der Klägerin zuzugeben, dass nach den Ausführungen des Terminsvertreters der Beklagten im sozialgerichtlichen Erörterungstermin am 10. November 2021 grundsätzlich ein Datenaustausch zwischen den Versicherungskonten stattfindet. Nur vor diesem Hintergrund und mit dieser Intention ist auch die Abfrage und Erforderlichkeit dieser Angabe im Altersrentenantrag zu verstehen. Es kann vorliegend dahinstehen, welche konkreten Angaben die Klägerin im Antrag auf Altersrente für Frauen vom 24. August 1998 tatsächlich gemacht hat und zu wessen Lasten die diesbezügliche Unaufklärbarkeit geht, denn ein grobes Behördenverschulden und damit das Vorliegen eines atypischen Falles lässt sich hieraus nicht ableiten. Eine Verpflichtung zum Datenabgleich oder zum Datenaustausch zwischen einzelnen Versicherungskonten lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Nach der gesetzlichen Konzeption obliegen der Klägerin die im Witwenrentenbescheid vom 19. November 1996 konkretisierten Mitwirkungs- und Mitteilungspflichten. Für die Beklagte besteht dagegen kein verpflichtender Anlass, eine Rückkopplung der Witwenrente zum eigenen Versicherungskonto der Klägerin vorzunehmen. Denn die primäre Verpflichtung zur Einkommensanzeige oblag der Klägerin. Daraus, dass die Beklagte in anderen Fällen eine ihr mögliche Vorkehrung zur Einkommensüberwachung mit dem Ziel der Überzahlungsvermeidung erlässt, kann die Klägerin daher kein für sie günstigeres Ergebnis herleiten (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 2. Juli 2013, L 2 R 51/13, juris Rdnr. 34 unter Verweis auf LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19. Januar 2012, L 1 R 36/09, juris). 

Mangels „atypischen Falles“ stand die Aufhebung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X nicht im Ermessen der Beklagten. Weder kann sie daher denknotwendig ermessensfehlerhaft gehandelt haben, noch kommt es vorliegend auf die Zulässigkeit des Nachschiebens von Ermessensgründen an. 

Die Beklagte war auch berechtigt, die Aufhebung rückwirkend bis 1. Juni 1999 vorzunehmen. Nach § 48 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X kann eine Rücknahme bis zum Ablauf von zehn Jahren nach Eintritt der Änderung der Verhältnisse erfolgen. Sofern es sich um eine laufende Geldleistung handelt, die bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde, ist eine Rücknahme auch noch nach Ablauf von zehn Jahren möglich (§ 48 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X). Letzteres war vorliegend der Fall. Die Beklagte zahlte der Klägerin die Witwenrente bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens (und darüber hinaus). Da die Klägerin grob fahrlässig und damit bösgläubig im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X gehandelt hat, kann dahinstehen, ob es sich bei § 48 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. § 45 Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB X um eine Rechtsfolgen- oder eine Rechtsgrundverweisung handelt (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, B 13 R 77/09 R = SozR 4-1300 § 48 Nr. 18, juris Rdnr. 37 ff.; Urteil vom 2. November 2015, B 13 R 27/14 R = SozR 4-1300 § 48 Nr. 32, juris Rdnr. 24; Brandenburg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., Stand: 1. Dezember 2017, § 48 Rdnr. 116; Steinwedel in: BeckOGK, Stand: 1. Dezember 2020, § 48 SGB X Rdnr. 77a). Darüber hinaus hat die Beklagte auch ohne Zweifel die einjährige Handlungsfrist gewahrt (§ 48 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X), hat sie doch nach Kenntnis des schädlichen Altersrentenbezugs bezogen auf das Versicherungskonto des verstorbenen Versicherten am 24. September 2019 und nach anhörungsbedingter Äußerung der Klägerin am 22. November 2019 mit Bescheid vom 17. Dezember 2019 die Aufhebung verfügt. 

Die Erstattungsforderung über weitere 59.831,00 € stützt sich auf § 50 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 SGB X und begegnet in dieser Höhe keinen durchgreifenden Bedenken. Solche hat die Klägerin auch nicht vorgebracht.

Nach alledem konnte die Berufung der Beklagten nicht ohne Erfolg bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
 

Rechtskraft
Aus
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