S 17 R 188/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 17 R 188/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 293/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 87/23 B
Datum
-
Kategorie
Urteil


1. Der Bescheid vom 17.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.03.2020 wird aufgehoben, soweit ein Erstattungsbetrag von mehr als 364,15 € gefordert wird. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Streitig ist die rückwirkende Anrechnung von Altersrente auf Witwenrente für den Zeitraum vom 01.06.1999 bis zum 31.01.2020.

Die 1939 geborene Klägerin ist die Witwe des im August 1996 verstorbenen Versicherten. Mit Bescheid vom 19.11.1996 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine große Witwenrente ab dem 05.08.1996 in Höhe von anfangs monatlich 1.384,71 DM (brutto; Zahlbetrag: 1.280,17 DM). Die Klägerin wurde auf ihre Mitteilungspflichten hingewiesen und es wurde dargelegt:
„Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluss auf die Rentenhöhe haben. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns das Hinzutreten oder die Veränderung von Erwerbseinkommen, das sind Arbeitsentgelt, Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, vergleichbares Einkommen oder von Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen. Erwerbseinkommen sind, auch als Kapitalleistung oder Abfindung, folgende Leistungen: ... Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, ... Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten versicherten Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung.“ Hinsichtlich des vollständigen Wortlauts wird auf den Bescheid Bezug genommen.

Mit Bescheid vom 18.03.1999 bewilligte die Beklagte der Klägerin antragsgemäß Altersrente für Frauen ab dem 01.06.1999. Der entsprechende Antrag existiert nicht mehr. Eine Mitteilung über diesen Bezug durch die Klägerin an die Beklagte unter der Versicherungsnummer des Verstorbenen, unter der die Witwenrente bewilligt wurde, erfolgte nicht. Auch eine bei der Beklagten für den Fall, dass beim Altersrentenantrag der Bezug einer anderen Rente angegeben wird, vorgesehene interne Speicherung mit der Folge einer Meldung der Bewilligung der Altersrente zum Vorgang der Witwenrente erfolgte aus nicht mehr klärbaren Gründen nicht.

Im Jahr 2019 stellte die Beklagte fest, dass die Klägerin zwei Renten ohne Anrechnung der Altersrente auf die Witwenrente bezog.

Mit Schreiben vom 04.11.2019 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass beabsichtigt sei, den Bescheid vom 19.11.1996 in der Fassung der Änderungsbescheide ab dem 01.06.1999 aufzuheben und die Überzahlung für die Zeit vom 01.06.1999 bis zum 30.11.2019 in Höhe von 59.630,93 € nach § 50 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zurückzufordern. Aufgrund der gegebenen Informationen hätte sie den Wegfall, das Ruhen bzw. die Kürzung des Rentenanspruchs kennen müssen (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X) und sie habe Einkommen erzielt, das zum Wegfall oder zur Minderung ihres Rentenanspruchs geführt habe (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X). Im Rentenbescheid sei sie darüber informiert worden, dass der Hinzutritt von anzurechnendem Einkommen mitzuteilen sei.

Mit Schreiben vom 15.11.2019 teilte die Klägerin mit, dass vom Büro der Rentenstelle der Stadt A-Stadt seinerzeit der Antrag für die Witwenrente und später auch der Antrag für ihre eigene Rente ausgefüllt worden sei. Sie sei in gutem Glauben gewesen, dass alles so in Ordnung ist. Es habe ihr ferngelegen Geld zu verlangen, das ihr nicht zusteht. Die berechnete Überzahlung von 59.030,93 € könne sie nicht leisten.

Mit Schreiben vom 21.11.2019 teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin der Beklagten mit, dass soweit sich die Klägerin daran erinnern könne, sie bei dem Antrag auf ihre eigene Altersrente angegeben habe, dass sie bereits eine Hinterbliebenenrente erhält. Sie habe daher keine Mitteilungspflichten verletzt und nicht erkennen können, dass ihre Hinterbliebenenrente ab dem Zeitpunkt des Bezugs der eigenen Altersrente teilweise zum Ruhen gekommen war. Es sei für sie auch nicht nachvollziehbar, dass sie die überzahlte Hinterbliebenenrente für einen Zeitraum von ca. 20 Jahren rückwirkend zurückzahlen soll und während des gesamten Zeitraums kein Datenabgleich innerhalb der Behörde erfolgt ist, der die Überzahlung hätte verhindern können. Die 10-Jahres-Frist sei nicht beachtet worden. Sie habe die überzahlten Rentenbeträge inzwischen verbraucht und habe keine größeren finanziellen Rücklagen bilden können.

Mit Bescheid vom 17.12.2019 berechnete die Beklagte die große Witwenrente ab dem 01.06.1999 neu. Für die Zeit vom 01.06.1999 bis zum 31.01.2020 ergebe sich eine Überzahlung von 60.177,15 €. Der überzahlte Betrag sei zu erstatten. Der Rentenbescheid vom 19.11.1996 und dessen Folgebescheide wurden hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung ab dem 01.06.1999 nach § 48 SGB X aufgehoben. Der überzahlte Betrag sei zu erstatten. Das auf die Rente gem. § 97 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) anzurechnende Einkommen habe sich geändert. Nach den Ermittlungen habe sie seit dem 01.06.1999 durchgehend eine eigene Rente bezogen, welche ab dem 01.06.1999 zur Minderung der Witwenrente führe. Sie habe den Bezug der Rente nie angezeigt. Die Aufhebung folge aus § 48 Abs. 1 Nrn. 2, 3, 4 SGB X. 

Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 06.01.2020 Widerspruch ein. Aufgrund der Vorschrift des § 48 Abs. 2 Nr. 3 SGB X dürfe grundsätzlich nur für 4 Jahre rückwirkend eine Überzahlung geltend gemacht werden. § 48 Abs. 4 SGB X verweise auf die Vorschriften des § 44 Abs. 3 und 4 bzw. § 45 Abs. 3 und 4 SGB X entsprechend, so dass eine 10-Jahresfrist gelte, wenn vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht worden sind. Ihr könne keine grobe Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden. Sie habe bei der Antragstellung für ihre eigene Altersrente angegeben, dass sie eine Hinterbliebenenrente bezieht und habe davon ausgehen können, dass diese Information bei der Berechnung ihrer Leistungen berücksichtigt wird. Sie sei davon ausgegangen, dass keine Anrechnung erfolgt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 31.03.2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Klägerin habe aufgrund der Bescheidhinweise wissen müssen, dass auch die Versichertenrente (Altersrente) Einfluss auf die Höhe der Witwenrente hat. Auch sei sie ihrer gesetzlichen Mitteilungspflicht nicht nachgekommen. Die Beklagte habe erstmals am 24.09.2019 erfahren, dass sie seit dem 01.06.1999 eine Versichertenrente bezieht. Der grundsätzliche Datenaustausch zwischen den Versicherungskonten des gesetzlichen Rentenversicherungsträgers befreie nicht von ihrer Informationspflicht. Eine rückwirkende Aufhebung sei innerhalb von zehn Jahren seit der wesentlichen Änderung in den Verhältnissen zulässig (§ 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X). Eine rückwirkende Aufhebung sei darüber hinaus auch nach Ablauf der Zehnjahresfrist zulässig, wenn die wiederkehrende Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Aufhebung laufend gezahlt wird (§ 48 Abs. 4 i.V.m. § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X).

Hiergegen hat die Klägerin am 20.04.2020 Klage vor dem Sozialgericht Marburg erhoben. Mit Beschluss vom 10.06.2020 ist das Verfahren an das Sozialgericht Gießen verwiesen worden.

Die Klägerin trägt zur Begründung im Wesentlichen vor, dass es auf Seite 4 des Rentenbescheides ausdrücklich heiße: „Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten rentenversicherungspflichten Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der Deutschen gesetzlichen Rentenversicherung“ (Blatt 53 Rückseite der Verwaltungsakte). Bereits im Anhörungsverfahren habe die Klägerin mitgeteilt, dass sie sowohl bei dem Antrag auf die Witwenrente im Jahr 1996 als auch bei der Antragstellung ihrer eigenen Altersrente für Frauen im Jahr 1999 die Hilfe des Versicherungsamtes der Stadt A-Stadt in Anspruch genommen und sich darauf verlassen habe, dass bei der Beantragung ihrer eigenen Altersrente alles Notwendige veranlasst wird. Darüber hinaus ergebe sich aus der Verwaltungsakte, dass auch die Altersrente der Klägerin von der Rentenversicherung ausgezahlt wird. Zudem habe die Klägerin ihrer Erinnerung nach bei dem Antrag auf Altersrente nochmals ausdrücklich mitgeteilt, dass sie bereits eine Witwenrente beziehe. Es sei ihr nicht erklärlich, warum diese Mitteilung nicht innerhalb derselben Versicherung weitergeleitet wurde. Die Klägerin, die ihrerseits nicht rechtskundig sei, habe somit alles Notwendige getan, um ihre Mitwirkungsverpflichtungen ausreichend auszuführen. Darüber hinaus stelle die Rückforderung des Betrages von 60.177,15 € für die Klägerin eine unbillige Härte dar, da sie den Forderungsbetrag nicht tilgen könne, ohne selber sozialhilfebedürftig zu werden. Zudem sei die Klägerin bereits 81 Jahre alt und verfüge nicht über nennenswertes Vermögen. 

Die Klägerin beantragt, 

den Bescheid vom 17.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.03.2020 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte führt im Wesentlichen aus, dass eine Rentenantragstellung bei einem Versicherungsamt den Leistungsempfänger nicht von seiner Mitwirkungs- und Mitteilungspflicht befreie. Die Klägerin habe weder die Rentenantragstellung noch den Bezug der gleichen unter der Versicherungsnummer der Witwenrente mitgeteilt. Ungeachtet dessen seien die Voraussetzungen des § 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X erfüllt. Hinsichtlich der Ausführungen der Klägerseite zum Vorliegen einer unbilligen Härte sei angemerkt, dass die Klägerin bereits seit dem 60. Lebensjahr die Altersrente bezieht. Auch könne sie aufgrund der insgesamt bezogenen monatlichen Rentenleistungen in Höhe von ca. 2.500,00 € nicht mit dem Eintritt einer Sozialhilfebedürftigkeit durchdringen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes seien wirtschaftliche Verhältnisse bei der Ermessensausübung nicht zu berücksichtigen (Urteil des Bundessozialgerichtes vom 12.02.2004 - B 13 RJ 28/03 R). In den Ausführungen der Klägerseite vom 15.09.2020 würden die Bescheidhinweise von Seite 3 des Bescheides vom 19.11.1996 außer Acht gelassen. Dort sei eindeutig und auch, wie bereits ausgeführt, für rentenrechtliche Laien verständlich ausgeführt, dass Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen Einfluss auf die Rentenhöhe haben. Es werde zudem explizit darauf hingewiesen, dass deshalb das Hinzutreten solcher Einkünfte unverzüglich mitzuteilen ist. Ausweislich des Dudens habe das Wort „hinzutreten“ die Bedeutung von „hintreten, um dabei zu sein“ und von „hinzukommen“. Demgegenüber habe das Wort „verändern“ ausweislich des Dudens die Bedeutung von „in der Erscheinung anders machen“, „umgestalten“, „anders werden“. Die „Veränderung“ setze danach also immer voraus, dass etwas besteht. Entgegen der Auffassung der Klagevertretung sei die Unterscheidung von „Hinzutreten“ und „Veränderung“ klar und deutlich. 

Am 10.11.2021 hat ein Termin zur Erörterung des Sachverhalts stattgefunden, in dessen Rahmen sich die Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Beklagtenakte Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und überwiegend begründet. 

Der Bescheid vom 17.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.03.2020 ist teilweise rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Die Kammer konnte über die Klage aufgrund des zuvor von den Beteiligten jeweils erklärten Einverständnisses hierzu ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden.

Als Rechtsgrundlage kommt § 48 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Nrn. 2, 3, 4 SGB X in Betracht. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt (Nr. 1), der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Nr. 2), nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (Nr. 3), oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Nr. 4). Gemäß § 48 Abs. 4 SGB X gelten die §§ 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 SGB X entsprechend, § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X jedoch nicht im Falle des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X.

Die Voraussetzungen von Satz 1 dieser Regelung liegen vor. Bei der mit Bescheid vom 19.11.1996 erfolgten Bewilligung von Witwenrente handelte es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Die wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bewilligungsbescheides vorlagen, liegt im Bezug der Altersrente der Klägerin, weil diese Altersrente nach § 97 SGB VI auf die Witwenrente anzurechnen war.

Zwar erfolgte die Aufhebung im Jahr 2019 gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X, der über § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X entsprechend anzuwenden ist, innerhalb eines Jahres ab Kenntnis der Beklagten von der wesentlichen Änderung der Verhältnisse. Allerdings erfolgte die teilweise Aufhebung der Bewilligungsbescheide erst nach Ablauf von zehn Jahren seit dem Eintritt der wesentlichen Änderung (hier ab Beginn des Anrechnungszeitraumes, 01.06.1999). In diesem Fall sieht § 48 Abs. 4 SGB X mit seiner Verweisung auf § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X zwar vor, dass auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren ein Bescheid über die Bewilligung laufender Geldleistungen zurückgenommen werden kann, wenn - wie hier - diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. Allerdings bezieht sich diese Regelung auf die Fälle des Satzes 3. Dort wiederum ist eine Rücknahme bis zu zehn Jahren nach Bekanntgabe nur in den Fällen der Bösgläubigkeit (vorsätzliche oder grob fahrlässige unrichtige Angaben bzw. Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit) oder bei einem - hier nicht erklärten -Vorbehalt des Widerrufs vorgesehen. Der Verweis in § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X auf § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X als Rechtsgrundverweisung (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2010, B 13 R 77/09 R in SozR 4-1300 § 48 Nr. 18) erfordert eine folgerichtige Übertragung der in Bezug genommenen Regelungen auf § 48 SGB X, mit der Konsequenz, dass bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Nr. 2 (vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung einer Mitteilungspflicht) oder der Nr. 4 (Kenntnis oder grob fahrlässige Nichtkenntnis vom Ruhen oder Wegfall des sich aus dem Verwaltungsakt ergebenden Anspruchs) des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X die Aufhebung eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsakts mit Dauerwirkung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse auch nach Ablauf der von diesem Zeitpunkt an laufenden Zehnjahresfrist in Betracht kommt, wenn ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung vorliegt und diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Aufhebung gezahlt wurde (BSG, a.a.O.). Dies bedeutet zugleich, dass das Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X (Erzielung von Einkommen) für die Aufhebung nach Ablauf der Zehnjahresfrist nicht ausreicht (BSG, a.a.O.).

Vorliegend sind zunächst die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X nicht erfüllt. Es bieten sich keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, der Klägerin wäre schon vor der Konfrontation mit der von der Beklagten durchgeführten Anrechnung (gegenüber der Klägerin erstmals mit Bescheid vom 17.12.2019) bekannt gewesen, dass ihr wegen des Bezuges der Altersrente die Witwenrente tatsächlich nicht in voller Höhe zu stand. Vielmehr ging die Klägerin, wie sich aus ihren Angaben im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes ergibt, davon aus, dass sie weiterhin zu ihrer Witwenrente noch Altersrente bekomme. Auch das Vorliegen von grober Fahrlässigkeit ist zu verneinen. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 zweiter Halbsatz SGB X vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Diese Voraussetzung erfüllt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Maßgebend sind das Einsichtsvermögen und die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit des Beteiligten sowie die besonderen Umstände des Falles (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 08.02.2001, B 11 AL 21/00 R, juris). Angesichts der Komplexität der Anrechnungsvorschriften musste die Klägerin, die über keine besonderen Kenntnisse und Fertigkeiten in Bezug auf Rentenbe- oder -anrechnungen verfügt, weder zu Beginn des Bezuges der Altersrente noch danach von sich aus erkennen, dass ihr die Witwenrente nicht in voller Höhe, sondern unter Abzug eines Anrechnungsbetrages zustand. Die Informationen in dem die Witwenrente bewilligenden Bescheid versetzen den Betroffenen nicht in die Lage, eigenständig eine auch nur annäherungsweise Anrechnung vorzunehmen, denn es wird lediglich darauf hingewiesen, dass Einkommen in Höhe von 40 v.H. des Betrages anzurechnen ist, um den das Einkommen einen dynamischen Freibetrag übersteigt. Zur Höhe dieses Freibetrages finden sich keinerlei Informationen. Dem entsprechend drängt sich für den Rentenbezieher gerade bei nicht über dem Durchschnitt liegenden Renten der Verdacht, er könne einen Freibetrag überschreiten, nicht auf. Ausgehend von der Tatsache, dass die Beklagte beide Renten zahlt, verbunden mit dem für juristische Laien und für mit Verwaltungsvorgängen bei der Beklagten nicht vertraute Versicherte nachvollziehbaren Schluss, dann werde auch die Höhe der Renten unter Berücksichtigung ggf. bestehender Anrechnungsregeln geprüft, durfte die Klägerin von der Richtigkeit der Zahlungen ausgehen, jedenfalls ohne dass ihr grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 17.05.2018 – L 10 R 3025/17).

Auch verletzte die Klägerin ihre Mitteilungspflichten nicht schuldhaft. Zwar verletzte die Klägerin objektiv Mitteilungspflichten. Denn die Klägerin war gesetzlich verpflichtet, den Bezug der Altersrente der Beklagten mitzuteilen. Dies ergibt sich aus § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I, wonach derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, u.a. Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich mitzuteilen hat. An dieser gesetzlichen Verpflichtung als solcher würde der Umstand, dass der Versicherungsträger bereits Kenntnis von der mitzuteilenden Tatsache hat, nichts ändern (BSG, Urteil vom 12.02.1980, 7 RAr 13/79 in SozR 4100 § 152 Nr. 10). Ein Verschulden der Klägerin ist jedoch zu verneinen. Bei der Beantragung der Altersrente hatte die Klägerin auch die Frage zu beantworten, ob sie eine Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht oder bezog. Im Erörterungstermin am 10.11.2021 teilte der Beklagtenvertreter mit, dass in dem Altersrentenantrag auch nach dem Bezug einer Witwenrente gefragt worden sei. Nach den Angaben der Klägerin will sie bei der Antragstellung angegeben haben, die Witwenrente zu beziehen, eine genaue Erinnerung habe sie nicht. Vor diesem Hintergrund - Abfrage des Rentenbezuges in dem von der Klägerin zur Antragstellung verwendeten Formular, Erinnerung, der Klägerin, die Witwenrente angegeben zu haben - liegt die Annahme nahe, dass die Klägerin tatsächlich den Bezug der Witwenrente im Antrag auf Altersrente angab. Eine abschließende Klärung dieser Frage ist nicht möglich, weil die Beklagte den Antrag vernichtete und die Klägerin über keine Kopie des Antrages verfügt. Nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen erwiesen sein, d. h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84 in SozR 2200 § 555a Nr. 1). Ist ein solcher Nachweis nicht möglich, geht dies zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 27.06.1991, 2 RU 31/90 in SozR 3-2200 § 548 Nr. 11). Da die Beklagte vorliegend einen Anspruch auf Aufhebung der Rentenbewilligungen und Erstattung überzahlter Rente behauptet, trifft sie die Beweislast für die entsprechenden Anspruchsvoraussetzungen, also auch für ein grob fahrlässiges Handeln der Klägerin. Da nicht nachweisbar ist, dass die Klägerin beim Antrag auf Altersrente den Bezug der Witwenrente verschwieg, sondern eher davon auszugehen ist, dass sie diesen Rentenbezug angab, lässt sich ein grob fahrlässiges Verhalten der Klägerin nicht begründen. Dies geht zu Lasten der Beklagten. Denn bei Angabe des Bezuges der Witwenrente im Antrag auf Altersrente war der Beklagten dieser Rentenbezug bekannt. Zwar entband dies die Klägerin objektiv nicht von der Pflicht, den Bezug der Altersrenten der für die Zahlung der Witwenrente zuständigen Stelle (also unter der Versicherungsnummer der Witwenrente, so zu Recht die Beklagte) mitzuteilen (s.o.). Indessen muss es einem nicht mit den internen Zuständigkeiten vertrauten Versicherten nicht einleuchten, dass ein Rentenversicherungsträger - obwohl er den Rentenbezug im Antrag abfragt und ihn entsprechend mitgeteilt bekommt - die erhaltenen Informationen nicht verwertet, also intern nicht weitergibt. Die Ausführungen der Beklagten, dass diese Mitteilung des Bezuges der Witwenrente beim Antrag auf Altersrente weder die Mitteilungspflichten in Bezug auf die Witwenrente entfallen ließ noch Fehler bei der intern vorgesehenen Datenübermittlung ausschließt, ändert nichts daran, dass der Klägerin ihr Unterlassen - mangels eigener Kenntnis der Verwaltungsvorgänge oder weil es jedem einleuchten müsste - im Sinne einer groben Fahrlässigkeit nicht vorzuwerfen ist (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 17.05.2018 – L 10 R 3025/17). Die von der Beklagten in den Bescheiden über die Bewilligung der Witwenrente erteilten Hinweise über das Bestehen von Mitteilungspflichten gerade den vorliegenden Fall betreffend, dass später eine Altersrente vom selben Versicherungsträger bewilligt wird, der auch die Witwenrente zahlt, sind unvollständig und führen zu einer nicht erfassenden Information der Klägerin. Vor diesem Hintergrund wäre der Klägerin - i. S. grober Fahrlässigkeit - selbst dann die unterlassene Mitteilung nicht vorzuwerfen, wenn sie die erteilten Hinweise sorgsam gelesen hätte. Denn auch dann wäre eine subjektive Wertung, sie habe alle Pflichten erfüllt, weil sie dem für beide Renten zuständigen Versicherungsträger den Bezug der Witwenrente im Antrag auf Altersrente angegeben habe, jedenfalls nicht grob fahrlässig, sondern aus der Sicht eines juristischen Laien nachvollziehbar (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 17.05.2018 – L 10 R 3025/17). Soweit die Beklagte weitere aus ihrer Sicht günstige Rechtsprechung der Landessozialgerichte anführt, liegen diesen Entscheidungen andere Sachverhalte zu Grunde. Vorliegend ist maßgeblich, dass die Klägerin - jedenfalls ist dies nicht auszuschließen - den Bezug der Witwenrente beim Antrag auf Altersrente angab, deshalb davon ausging, die Beklagte sei umfassend informiert und subjektiv folgerichtig von einer Mitteilung der Bewilligung der Altersrente an das für die Witwenrente zuständige Referat Abstand nahm, ohne dass ihr konkrete andere Informationen für diese spezielle Fallgestaltung erteilt worden wären (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 17.05.2018 – L 10 R 3025/17).

Eine Aufhebung und Erstattung konnte jedoch für die Zukunft gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ab dem 20.12.2019 (3 Tage nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheides vom 17.12.2019) bis zum 31.01.2020 erfolgen. Dies entsprach einem Betrag von 364,15 €, der von der Klägerin zu erstatten ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
Saved