1. Im Streit über den Anspruch der leistungsberechtigten Person gegen den Leistungsträger auf stationäre Gesundheitsleistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG ist der Träger des Krankenhauses nicht nach § 75 Abs 2 SGG notwendig beizuladen.
2. Die Kenntnis von den Voraussetzungen für die Leistung i.S. des § 18 SGB XII ist bei Gesundheitsleistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG im Regelfall zu bejahen, wenn der Leistungsträger Kenntnis von einer (Grund-)Erkrankung bzw. einem gesundheitswidrigen Zustand hat (z.B. Diabetes mellitus, HIV, psychische Beeinträchtigungen, körperliche Beschwerden); in diesen Fällen ist das Einsetzen der Leistung nicht von der Kenntnis der konkreten Behandlungsbedürftigkeit oder der im Einzelfall beabsichtigten Behandlung abhängig.
3. Die Abgrenzung der Gesundheitsleistungen nach § 4 Abs 1 S 1 AsylbLG und § 6 AsylbLG erfolgt danach, ob die Behandlung Schmerzzustände bzw. eine akute, also eine plötzlich auftretende, schnell und heftig verlaufende Erkrankung betrifft (Anwendungsbereich des § 4 Abs 1 S 1 AsylbLG) oder eine chronische, also eine langsam sich entwickelnde oder langsam verlaufende Erkrankung (Anwendungsbereich des § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG).
4. Zur Beurteilung, ob Leistungen zur Sicherung der Gesundheit iSd § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG unerlässlich sind, sind als Kriterien einzubeziehen zB die Qualität des betroffenen Rechtes (Grundrechtsrelevanz), Ausmaß und Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung sowie die voraussichtliche und bisherige Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland. Hierbei kommt der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 eine besondere Bedeutung zu (Festhalten an LSG Celle-Bremen vom 01.02.2018 - L 8 AY 16/17 B ER = juris RdNr 27 sowie vom 06.10.2022 - L 8 AY 46/20 - und - L 8 AY 47/18). In diesem Zusammenhang sind auch europarechtliche Vorgaben für die medizinische Behandlung von Personen mit besonderen Bedürfnissen zu beachten. Die Kosten einer medizinischen Behandlung sind für die Beurteilung, ob sie unerlässlich iSd § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG ist, nicht entscheidend.
5. Die Leistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG müssen allgemeinen Grundsätzen des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts entsprechen, insbesondere hat die Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig zu erfolgen (vgl § 28 Abs 1 S 1 SGB V). Sie muss wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (vgl § 12 Abs 1 SGBV). Eine vollstationäre Krankenhausbehandlung muss insbesondere den speziell geregelten Aspekt des Wirtschaftlichkeitsgebots nach § 39 Abs 1 S 2 SGB V beachten.
6. Die Ablehnung einer nach den hiesigen Lebensverhältnissen medizinisch an sich erforderlichen Behandlungsmaßnahme für Kinder bzw. minderjährige Grundleistungsberechtigte als nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässliche Leistung iSd § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG bedarf einer besonderen Rechtfertigung.
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 28. April 2022 und der Bescheid des Beklagten vom 16. Dezember 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2020 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, der I. GmbH, Osnabrück, 20.047,39 € für die stationäre Behandlung der Klägerin vom 4. bis zum 15. September 2019 zu zahlen.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Im Streit ist die Freistellung von Kosten für eine Krankenbehandlung (stationäre Entfernung einer Gallengangzyste) in Höhe von etwa 20.000,00 €.
Die 2014 geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige und reiste gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern im Februar 2019 nach Deutschland ein. Nachdem sie (mit ihren Familienangehörigen) beim Verwaltungsgericht Hannover Klage (3 A 1652/19) gegen die Ablehnung ihres Asylantrages (Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19.3.2019) erhoben hatte, wurde sie mit ihrer Familie Ende April 2019 der im beklagten Kreis gelegenen Gemeinde J. (im Folgenden Gemeinde) zugewiesen (Bescheid der Landesaufnahmebehörde - LAB - Niedersachsen vom 29.4.2019). Da die Familie ihren Lebensunterhalt nicht mit eigenen Mitteln sicherstellen konnte, bezog die Klägerin während des Asyl- bzw. Klageverfahrens von der insoweit vom Beklagten herangezogenen Gemeinde sog. Grundleistungen nach § 3 AsylbLG.
Nachdem die Klägerin auf Veranlassung ihrer Kinderarztpraxis im Juli und August 2019 Termine in der kinderchirurgischen Sprechstunde des K., Klinik für Kinderchirurgie und Kinderurologie, wahrgenommen hatte, übersandte dessen Chefarzt, Herr Dr. med. L. (R), der Gemeinde einen ambulanten Brief vom 13.8.2019 mit der Diagnose einer Gallengangzyste (Choledochuszyste Typ IVa) verbunden mit - nach Angaben der Eltern - einer früheren Gelbsuchterscheinung im Heimatland (Ikterus); er empfahl eine operative Entfernung der Zyste, um (derzeit nicht bestehende) symptomatische Beschwerden zu vermeiden und eine häufig vorkommende maligne Entartung nicht zuzulassen. Der am 19.8.2019 bei der Gemeinde eingegangene Brief benennt unter „Empfehlung:“ einen Operationstermin am 5.9.2019 mit einer Vorstellung der Klägerin am Vortag (zur Darmvorbereitung) und dem Hinweis, dass vom Krankenhaus erneut berichtet werde. Am 24.10.2019 ging bei der Gemeinde die Schlussrechnung vom 22.10.2019 über den stationären Aufenthalt der Klägerin (vom 4. bis zum 15.9.2019) mit der Bitte um Ausgleich der Gesamtforderung von 20.047,39 € ein. Die Rechnung ist bis heute nicht beglichen.
Nach Einholung einer amtsärztlichen Stellungnahme des Dr. med. M. (N) vom 3.12.2019, nach der bei fehlenden Beschwerden und Beeinträchtigungen keine akute Erkrankung i.S. des § 4 AsylbLG vorliege und auch die Gefahr einer malignen Entartung mit einer Wahrscheinlichkeit von 2 % (auf Lebenszeit) kein sofortiger bzw. notfallmäßiger Operationsbedarf bestanden habe, lehnte der Beklagte die Übernahme der Kosten gegenüber der Klägerin ab (Bescheid vom 16.12.2019). Auf deren Widerspruch und einer Stellungnahme des Dr. R vom 13.1.2020, in der dieser - neben der hohen Wahrscheinlichkeit einer malignen Entartung der Zyste - auf die Gefahr immer wiederkehrender und bei der Operation auch festgestellter Entzündungen sowie auf medizinische Probleme bei einem Hinauszögern der Operation hingewiesen hatte, holte der Beklagte eine weitere Stellungnahme des Dr. N vom 31.1.2020 ein. Dieser bejahte die grundsätzliche Notwendigkeit der Operation wegen des Risikos einer malignen Entartung von 2 % bis 20 % (auf Lebenszeit), hielt aber eine spätere Krankenbehandlung für verantwortbar, insbesondere zu einem Zeitpunkt, in dem die Klägerin womöglich gesetzlich krankenversichert ist (nach Ablauf der Wartezeit i.S. des § 2 Abs. 1 AsylbLG von 18 Monaten). Ein medizinischer Notfall, der ein sofortiges unaufschiebbares Handeln erfordert, liege nicht vor. Mit dieser Begründung wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück (Widerspruchsbescheid vom 25.3.2020, abgesandt am 30.3.2020).
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 27.4.2020 beim Sozialgericht (SG) Osnabrück Klage erhoben und sich zur Begründung des dringenden Behandlungsbedarfs zum Zeitpunkt der Operation u.a. auf weitere Stellungnahmen des Dr. R vom 7. und 15.4.2020 und dessen Auswertung medizinischer Fachliteratur gestützt. Das SG hat die Klage u.a. mit der Begründung abgewiesen, ein Anspruch auf Übernahme der geltend gemachten Kosten scheide bereits mangels vorheriger Kenntnis des Beklagten von der beabsichtigten Operation aus (§ 6b AsylbLG i.V.m. § 18 SGB XII); eine entsprechende Kenntnisnahme zeitlich vor Eingang der Schlussrechnung vom 22.10.2019 bei der Gemeinde sei nicht ersichtlich. Aber auch in der Sache bestehe kein Anspruch auf Übernahme der Kosten. Ein Anspruch nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG scheide aus, weil weder eine akute Erkrankung vorgelegen habe, noch Schmerzzustände bestanden hätten. Ein Anspruch auf Gesundheitsleistungen entsprechend dem Leistungsniveau der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 6 AsylbLG (im Wege einer verfassungskonformen Auslegung) komme wegen der erst kurzen Aufenthaltsdauer der Klägerin in Deutschland (von unter 18 Monaten) ebenfalls nicht in Betracht. Ein Anspruch des Krankenhausträgers als Nothelfer nach § 6a AsylbLG sei nicht gegeben, weil es an einem sog. Eilfall mangele und der Beklagte - wie dargelegt - auch materiell nicht verpflichtet (gewesen) sei, die Operationskosten nach §§ 4, 6 AsylbLG zu übernehmen (Gerichtsbescheid des SG vom 28.4.2022).
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin vom 25.5.2022. Sie macht weiterhin geltend, die stationäre Entfernung der Gallengangzyste sei zur Abwendung erheblicher Gesundheitsgefahren medizinisch dringend erforderlich gewesen, und beruft sich insoweit auf die im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren vorgelegten Stellungnahmen des Dr. R.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des SG Osnabrück vom 28.4.2022 und den Bescheid des Beklagten vom 16.12.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.3.2020 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Klägerin von der Rechnung des N. vom 22.10.2019 i.H.v. 20.047,39 € freizustellen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend und bleibt bei seinem Standpunkt, die Operation sei zwar medizinisch notwendig, aber zu diesem Zeitpunkt nicht dringend indiziert gewesen; die Entzündung der Zyste sei erst bei der Operation selbst bemerkt worden. Er bzw. die Gemeinde habe durch die Übersendung des ambulanten Arztbriefes vom 13.8.2019 auch keine hinreichende Kenntnis von einem aktuellen Bedarf für eine Operation gehabt. Der Brief enthalte lediglich eine Empfehlung, die Behandlung am 5.9.2019 durchzuführen. Dass diese Operation auch tatsächlich durchgeführt werden sollte, sei dem Beklagten hingegen nicht mitgeteilt worden. Hiervon habe er allein durch die Übersendung des Arztbriefes nicht ausgehen müssen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senates ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (Schriftsätze vom 16.1.2023).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des Verwaltungsvorgangs des Beklagten und der die Klägerin betreffenden Ausländerakten Bezug genommen. Diese Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere ohne Zulassung statthafte (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) Berufung ist begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Freistellung von den geltend gemachten Krankenhauskosten.
Gegenstand der (kombinierten) Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4, § 56 SGG) ist der Bescheid des Beklagten vom 16.12.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.3.2020 (§ 95 SGG), durch den die Übernahme der Kosten der stationären Behandlung der Klägerin im O. vom 4. bis 15.9.2019 in einer Gesamthöhe von 20.047,39 € abgelehnt worden ist. Da die Behandlungskosten für die Klägerin (noch) nicht beglichen worden sind, richtet sich ihr Anspruch gegen den Beklagten auf Freistellung von den Kosten der Krankenhausbehandlung (vgl. dazu BSG, Urteil vom 30.10.2013 - B 7 AY 2/12 R - juris Rn. 28 m.w.N.).
Die Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor. Insbesondere ist die Trägerin des Krankenhauses nicht nach § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG notwendig beizuladen, weil sie nicht derart an dem streitigen Rechtsverhältnis beteiligt ist, dass die Entscheidung auch ihr gegenüber nur einheitlich ergehen kann (echte notwendige Beiladung). Im Asylbewerberleistungsrecht sind in einem Rechtsstreit über die Übernahme von medizinischen Behandlungskosten keine unmittelbaren Rechtsbeziehungen zwischen dem Krankenhausträger und dem zuständigen Leistungsträger berührt (vgl. dazu ausführlich Senatsurteile vom 6.10.2022 - L 8 AY 46/20 - und - L 8 AY 47/18 - jeweils juris).
Die Ablehnung der Kostenübernahme ist zu Unrecht erfolgt. Die zum Zeitpunkt des stationären Aufenthaltes während des Asylverfahrens als Inhaberin einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG dem Grunde nach gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG leistungsberechtigte Klägerin hat gegen den Beklagten gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der Krankenhausbehandlung i.H.v. 20.047,39 €.
Der beklagte Kreis ist als nach Landesrecht sachlich zuständige Behörde (§ 10 AsylbLG i.V.m. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nds. AufnG) nach § 10a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 und 4 AsylbLG auch örtlich zuständig für die geltend gemachten Leistungen in Einrichtungen. Danach ist für die Leistungen in Einrichtungen, die - wie hier - der Krankenbehandlung (oder anderen Maßnahmen nach diesem Gesetz) dienen, die Behörde örtlich zuständig, in deren Bereich der Leistungsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme hat oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hat (§ 10a Abs. 2 Satz 1 AsylbLG). Als gewöhnlicher Aufenthalt i.S. dieses Gesetzes gilt der Ort, an dem sich jemand unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (§ 10a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG). Abweichend hiervon enthält § 10a Abs. 3 Satz 4 AsylbLG eine gesetzliche Fiktion: Ist jemand nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG, nach dem AsylG oder nach dem AufenthG verteilt oder zugewiesen worden oder besteht für ihn eine Wohnsitzauflage für einen bestimmten Bereich, so gilt dieser Bereich als sein gewöhnlicher Aufenthalt. In diesen Fällen ist es für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltes i.S. des § 10a Abs. 3 AsylbLG ohne Belang, ob sich die leistungsberechtigte Person dort gewöhnlich oder auch nur tatsächlich aufhält (vgl. Groth in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 10a AsylbLG Rn. 77). Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich deswegen bereits aus der Zuweisungsentscheidung der LAB vom 29.4.2019 betreffend die im Kreisgebiet des Beklagten liegende Gemeinde.
Der Klägerin steht ein vorrangiger Anspruch auf Krankenhilfe nach § 2 Abs. 1 AsylbLG (in der vom 6.8.2016 bis zum 20.8.2019 geltenden Fassung vom 31.7.2016, BGBl. I 1939, a.F.) i.V.m. dem Fünften Kapitel des SGB XII nicht zu. Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG a.F. ist abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Zum Zeitpunkt der Krankenhausbehandlung ist die Voraussetzung des Ablaufs der sog. Wartezeit für eine leistungsrechtliche Angleichung an das Sozialhilfeniveau nach dem SGB XII noch nicht erfüllt, weil die Klägerin am 8.2.2019 - also etwa sieben Monate vor der Operation - nach Deutschland eingereist war.
Ein Anspruch auf Gesundheitsleistungen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG besteht ebenfalls nicht. Danach sind zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewähren. Nach h.M. in Rechtsprechung und Literatur (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6.5.2013 - L 20 AY 145/11 - juris Rn. 52 ff., 66; SG Heilbronn, Urteil vom 13.4.2021 - S 2 AY 3764/19 - juris Rn. 21; Langer in GK-AsylbLG, Stand Oktober 2019, § 4 Rn. 23 ff.; Deibel in GK-AsylbLG, Stand Juni 2021, § 6 Rn. 139 ff.; Krauß in Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 4 Rn. 23 ff. sowie § 6 Rn. 39 m.w.N.), der sich der Senat angeschlossen hat (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 1.10.2013 - L 8 AY 38/13 B - nicht veröffentlicht; zuletzt Senatsurteile vom 6.10.2022 - L 8 AY 46/20 - und - L 8 AY 47/18 - jeweils juris), erfolgt die Abgrenzung der Gesundheitsleistungen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG und § 6 AsylbLG danach, ob die Behandlung Schmerzzustände bzw. eine akute, also eine plötzlich auftretende, schnell und heftig verlaufende Erkrankung betrifft (Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG) oder eine chronische, also eine langsam sich entwickelnde oder langsam verlaufende Erkrankung (Anwendungsbereich des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG). Diese Abgrenzung erfolgt nach medizinischen Gesichtspunkten und ist im Einzelfall schwierig, weil mit chronischen Erkrankungen akute, konkret behandlungsbedürftige Krankheitszustände einhergehen können (z.B. bei schwerer Depression mit akuter Suizidalität oder einhergehenden Schmerzen, vgl. etwa OVG Niedersachsen, Beschluss vom 22.9.1999 - 4 M 3551/99). Insoweit wird teilweise vertreten, tatbestandlich nicht auf eine akute Erkrankung (§ 4 Abs. 1 AsylbLG), sondern auf einen akut erforderlichen Behandlungsbedarf einer (ggf. auch chronischen) Erkrankung abzustellen (so Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 4 Rn. 23), auch um die im Einzelfall erforderliche Gesundheitsversorgung bei einem Ausschluss von sonstigen Leistungen nach § 6 AsylbLG (vgl. insb. § 1a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG) sicherstellen zu können (vgl. Cantzler, a.a.O.).
Nach den unterschiedlichen Ansätzen zur Auslegung der §§ 4, 6 AsylbLG kommt hier ein Leistungsanspruch nach § 4 AsylbLG nicht in Betracht, weil die bei der Klägerin festgestellte Gallengangzyste eine sich langsam entwickelnde (chronische) und damit keine akute Erkrankung dargestellt, bis zu ihrer Entfernung keine Schmerzzustände i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG verursacht und auch kein akut erforderlicher Behandlungsbedarf bestanden hat. Gallengangzysten sind angeborene Fehlbildungen der Gallengänge, die zur Erweiterung der Gallengänge führen. Nach den insoweit übereinstimmenden Stellungnahmen des Dr. R und des Amtsarztes Dr. N ist eine chirurgische Behandlung der bei der Klägerin diagnostizierten Zyste im Hauptgallengang (Typ IVa) nicht aufgrund akuter symptomatischer Beschwerden, sondern aus Gründen der Prävention entzündlicher Prozesse der Gallenwege und der Bauchspeicheldrüse, sowie der malignen Entartung der veränderten Gallenwege erforderlich gewesen (vgl. die Stellungnahme des Dr. R vom 7.4.2020).
Die Klägerin hat gegen den Beklagten allerdings einen Anspruch auf Übernahme der Behandlungskosten nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG.
Der Beklagte hatte die für das Einsetzen der Leistungen nach § 6 AsylbLG erforderliche Kenntnis i.S. des § 6b AsylbLG i.V.m. § 18 Abs. 1 SGB XII. Danach setzen die Leistungen nach dem AsylbLG ein, sobald dem Leistungsträger oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Gesundheitsleistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG sind damit nicht abhängig von einem Antrag oder der Ausgabe eines Behandlungsscheins. Die Kenntnis von den „Voraussetzungen für die Leistung“ i.S. des § 18 SGB XII ist bei Gesundheitsleistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG im Regelfall zu bejahen, wenn der Leistungsträger Kenntnis von einer (Grund-)Erkrankung bzw. einem gesundheitswidrigen Zustand hat (z.B. Diabetes mellitus, HIV, psychische Beeinträchtigungen, körperliche Beschwerden); in diesen Fällen ist das Einsetzen der Leistung nicht von der Kenntnis der konkreten Behandlungsbedürftigkeit oder der im Einzelfall beabsichtigten Behandlung abhängig. Der Kenntnisgrundsatz soll zum Schutz des Hilfebedürftigen einen niedrigschwelligen Zugang zum Sozialhilfe- bzw. Asylbewerberleistungssystem sicherstellen und lässt es ausreichen, dass die Notwendigkeit der Hilfe dargetan oder sonst wie erkennbar ist, der Leistungsträger also Kenntnis vom Bedarfsfall als solchem hat (vgl. dazu BSG, Urteil vom 28.8.2018 - B 8 SO 9/17 R - juris Rn. 18; BSG, Urteil vom 10.11.2011 - B 8 SO 18/10 R - juris Rn. 21 m.w.N.; BSG, Urteil vom 26.8.2008 - B 8/9b SO 18/07 R - juris Rn. 23). Anders kann es sich bei einer medizinischen Behandlung wegen einer unerwartet aufgetretenen Erkrankung bzw. Verletzung darstellen (z.B. Verkehrsunfall, erstmalige Diagnose). Die Kenntnis einer in der Verwaltung mitarbeitenden Person der Gesamtbehörde (Rechtsträger) genügt (so zutreffend LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.1.2011 - L 20 SO 569/10 B - juris Rn. 14; a.A. wohl LSG Hamburg, Urteil vom 13.4.2017 - L 4 AY 4/16 - juris Rn. 20).
Dr. R des K. hat die Gemeinde durch die nachrichtliche Übersendung des ambulanten Briefes vom 13.8.2019 (Eingang bei der Stadt am 19.8.2019) über den Erstbefund, die Diagnose und die am 5.9.2019 beabsichtigte Operation informiert. Für die Kenntnis der Gemeinde von dem Bedarfsfall, die dem Beklagten schon im Rahmen des Heranziehungsverhältnisses bzw. über § 6b AsylbLG i.V.m. § 18 Abs. 2 SGB XII zuzurechnen ist (vgl. zur Zurechnung der Kenntnis selbst von unzuständigen Trägern BSG, Urteil vom 26.8.2008 - B 8/9b SO 18/07 R - juris Rn. 22 ff.; BSG, Urteil vom 13.02.2014 - B 8 SO 58/13 B - juris Rn. 8), reicht dies ohne weiteres aus, weil der Brief der Gemeinde bzw. dem Beklagten das Wissen von dem regelwidrigen Gesundheitszustand der Klägerin, dem Vorliegen einer Gallengangzyste, und - ohne dass es für das Einsetzen der Leistungen erheblich wäre - von der Behandlungsbedürftigkeit aus medizinischen Gründen (dazu gleich) vermittelt hat. Dem Schreiben ist sogar ein konkreter Operationstermin (am 5.9.2019) zu entnehmen. Aus der Sicht eines verständigen Empfängers des Briefes spricht die detaillierte Wiedergabe der Maßnahme sogar dafür, dass damit - entgegen der Überschrift über diesen Punkt („Empfehlung:“) - die konkret beabsichtigte Operation mitgeteilt worden ist (mit einem Aufnahmetermin der Klägerin am 4.9.2019) und sich der abschließende Hinweis, das Krankenhaus werde erneut berichten, auf das ausstehende Behandlungsergebnis bezieht.
Die Voraussetzungen des Anspruchs aus § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG, nach dem sonstige Leistungen gewährt werden können, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind, liegen vor.
Nach der Rechtsprechung des Senats sind bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Unerlässlichkeit einer Leistung i.S. des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und 2 AsylbLG - neben den Umständen des Einzelfalles - Kriterien einzubeziehen wie z.B. die Qualität des betroffenen Rechtes (Grundrechtsrelevanz), das Ausmaß und die Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung sowie die voraussichtliche und bisherige Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland. Hierbei kommt der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 (- 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -) eine besondere Bedeutung zu, weil nach dem Regelungskonzept des AsylbLG vom allgemeinen Grundsicherungsrecht (SGB II/SGB XII) abweichende Regeln der Existenzsicherung (gesetzgeberisch) nur möglich sind, wenn wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden können (ständige Rechtsprechung des Senates seit Beschluss vom 1.2.2018 - L 8 AY 16/17 B ER - juris Rn. 27; jüngst Senatsurteile vom 6.10.2022 - L 8 AY 46/20 - und - L 8 AY 47/18 - jeweils juris; ähnlich Hess. LSG, Beschluss vom 11.7.2018 - L 4 AY 9/18 B ER - juris Rn. 28; vgl. auch Müller-Krah, GuP 2012, 132 ff.; Schülle/Frankenstein, DVfR Forum A, A16-2019; K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 6 AsylbLG Rn. 41; krit. Kötter, info also 2018, 243, 246; ausführlich jüngst L. Frerichs, Der Anspruch auf Krankenbehandlung nach §§ 4, 6 AsylbLG, Berlin 2023, die von einer Verfassungswidrigkeit der Vorschriften über die Gewährung von Gesundheitsleistungen ausgeht, vgl. insb. S. 366 ff.). Im Lichte des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) sieht sich der Senat veranlasst, seine Rechtsprechung in Bezug auf die medizinische Behandlung von minderjährigen Kindern nach §§ 4, 6 AsylbLG zu präzisieren. Die Wertung aus § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 AsylbLG, nach dem sonstige Leistungen gewährt werden können, die zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten sind, und die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) vom 20.11.1989 (BGBl. II 1992, 121), die in Deutschland seit dem 15.7.2010 vorbehaltlos gilt (BGBl. II 2011, 600) und nach der bei allen Regelungen das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist (Art. 3 KRK; vgl. dazu auch BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 68), gebieten bei der Anwendung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG eine besondere Rechtfertigung, wenn eine nach den hiesigen Lebensverhältnissen (vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 60) medizinisch an sich erforderliche Behandlungsmaßnahme für Kinder bzw. minderjährige Grundleistungsberechtigte (zum Begriff des Kindes i.S. des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 AsylbLG vgl. Deibel in GK-AsylbLG, Stand Februar 2023, § 6 Rn. 183 ff, 186; K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 6 AsylbLG Rn. 92 m.w.N.) als nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich abgelehnt wird. In diesem Zusammenhang sind auch europarechtliche Vorgaben für die medizinische Behandlung von Personen mit besonderen Bedürfnissen zu beachten (z.B. nach Art. 21 der Richtlinie Aufnahmebedingungen - RL 2013/33/EU - Abl. EU L 180 v. 29.6.2013, S. 96, dazu Senatsbeschluss vom 1.2.2018 - L 8 AY 16/17 B ER - juris Rn. 28; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 68; Greiser/Frerichs, SGb 2018, 213, 214, 220; Krauß in Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 6 Rn. 11; Schreiber, ZESAR 2010, 107 ff.; Schülle/Frankenstein, DVfR Forum A, A16-2019; K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 6 AsylbLG Rn. 26 ff. m.w.N.).
Das Gericht hat im Streitfall uneingeschränkt zu überprüfen, ob die Leistungen aus medizinischen Gründen notwendig bzw. unerlässlich sind. Dabei unterliegt die Leistungsgewährung nach dem AsylbLG nicht den Vorgaben des besonderen Sachleistungssystems der GKV mit seinem leistungssteuernden Zulassungsprinzip hinsichtlich der einzelnen Leistungserbringer (vgl. LSG Hamburg, Beschluss vom 18.6.2014 - L 1 KR 52/14 B ER - juris Rn. 11). Wohl aber ist es anerkannt, dass die Behandlung nach allgemeinen Grundsätzen des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts nach den Regeln ärztlicher Kunst ausreichend und zweckmäßig zu erfolgen hat (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Zudem muss sie wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (vgl. § 12 Abs. 1 SGB V; dazu etwa K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, § 4 AsylbLG Rn. 55 m.w.N.). Insoweit erfordert ein Anspruch auf vollstationäre Krankenhausbehandlung nicht nur, dass die Vorgaben aus dem allgemeinen Qualitätsgebot (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) eingehalten sind, sondern auch, dass der in § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V speziell geregelte Aspekt des Wirtschaftlichkeitsgebotes beachtet wird. Die vollstationäre Krankenhausbehandlung ist gegenüber allen anderen Arten der Krankenbehandlung - seien es teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlungen einschließlich häuslicher Krankenpflege - nachrangig (statt vieler vgl. nur BSG, Urteil vom 22.6.2022 - B 1 KR 19/21 R - juris Rn. 18 f. m.w.N.). Die (voll- oder teil-)stationäre Behandlung in einem Krankenhaus ist dann erforderlich, wenn die notwendige medizinische Versorgung nur mit den besonderen Mitteln des Krankenhauses durchgeführt werden kann und eine ambulante ärztliche Versorgung nicht ausreicht, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (vgl. BSG, Urteil vom 26.4.2022 - B 1 KR 5/21 R - juris Rn. 13; Wahl in jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020, § 39 Rn. 61 m.w.N.).
Nach diesen Maßgaben ist die im September 2019 erfolgte stationäre Behandlung der Klägerin im O. i.S. des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich gewesen.
Nach den insoweit übereinstimmenden Stellungnahmen des Amtsarztes Dr. N. vom 31.1.2020 und des Chefarztes des Krankenhauses Dr. R. vom 13.1. sowie vom 7. und 15.4.2020 ist die stationäre Entfernung der Gallengangzyste wegen des Risikos einer malignen Entartung (Entwicklung von Krebs) von bis zu 20 % (auf Lebenszeit; nach den von Dr. R. zitierten Angaben auf der Homepage der Universität Tübingen liege das Risiko nach 20 Jahren sogar über 20 %) aus medizinischen Gründen erforderlich gewesen, ohne dass es alternative Behandlungsmöglichkeiten gegeben hat. Fachlich besteht allein eine unterschiedliche Sicht auf die Frage, ob die Operation unaufschiebbar gewesen ist oder in zumutbarer Weise zu einem späteren Zeitpunkt hätte durchgeführt werden können. Für einen möglichen Aufschub der Behandlung sprechen maßgeblich Ausmaß und Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung - die Klägerin ist beschwerdefrei gewesen, allerdings sind bei der Operation Entzündungen der Zyste festgestellt worden (vgl. die Stellungnahme des Dr. R vom 13.1.2020) - sowie die bisherige Aufenthaltsdauer der Klägerin in Deutschland von bislang etwa sieben Monaten. Eine dringende Notwendigkeit der Behandlung i.S. eines medizinischen Notfalls hat nicht vorgelegen. Dagegen gebietet die Erkrankung wegen des hohen Risikos der malignen Entartung und immer wiederkehrender Entzündungen mit drohenden Rupturen sowie der mit einem Hinauszögern gefährlicher und komplikationsträchtiger werdenden Behandlung eine zeitnahe operative Entfernung der Zyste, nach Möglichkeit bereits im Säuglingsalter (vgl. die Stellungnahmen des Dr. R vom 13.1. sowie vom 7. und 15.4.2020). Zudem haben zum Zeitpunkt der Operation belastbare Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass sich die Klägerin, ihre Eltern und ihre Geschwister voraussichtlich noch für eine nicht absehbare Zeit in Deutschland aufhalten werden. Zwar sind ihre Asylanträge in der Sache abgelehnt worden (Bescheid des BAMF vom 19.3.2019). Wegen der Klageerhebung beim VG Hannover (3 A 1652/19) - nach dem Inhalt der beigezogenen Ausländerakten ist das Verfahren noch immer anhängig - ist das Asylverfahren aber noch nicht (rechtskräftig) abgeschlossen gewesen; die Klägerin darf sich als Inhaberin einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG (weiterhin) in Deutschland aufhalten. Die vom BAMF verfügte Ausreisefrist endet (erst) 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens (vgl. § 38 Abs. 1 Satz 2 AsylG). Aus diesem Grund - wegen der perspektivisch nicht zeitnahen Ausreise - ist im April 2019 auch die Zuweisung der Klägerin und ihrer Familie zu der Gemeinde verfügt worden (vgl. die in der Ausländerakte betreffend die Mutter der Klägerin enthaltene interne E-Mail der LAB vom 5.4.2019). Für die Prognose eines längeren Aufenthalts in Deutschland spricht zudem, dass in Deutschland für irakische Staatsangehörige im Jahr 2019 eine Schutzquote von über 50 % bestanden hat (vgl. Das Bundesamt in Zahlen 2019, BAMF 2020, abrufbar unter https://www.bamf.de/). Unter diesen Umständen liegen mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der zum Zeitpunkt der Operation fünfjährigen Klägerin keine hinreichenden Gründe dafür vor, die medizinisch an sich erforderliche Behandlungsmaßnahme als nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich i.S. des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG anzusehen. Für einen Aufschub der medizinisch indizierten Behandlung hat keine (hinreichende) sachliche Rechtfertigung bestanden. Insbesondere lassen die in der Begründung des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 25.3.2020 (sinngemäß) enthaltenen finanziellen Erwägungen, nach Ablauf der sog. Wartezeit i.S. des § 2 Abs. 1 AsylbLG von 18 Monaten hätte die Behandlung im Rahmen eines gesetzlichen Krankenversicherungsverhältnisses finanziert werden können (vgl. S. 3 des Widerspruchsbescheides; deutlicher in diese Richtung die Stellungnahmen des Dr. N vom 3.12.2019 und 31.1.2020), keine andere Beurteilung zu. Eine vom allgemeinen Niveau abweichende Sicherstellung des Existenzminimums bestimmter Personengruppen setzt an der Feststellung eines signifikant von dem anderer Bedürftiger abweichenden Bedarfs an existenznotwendigen Leistungen an, nicht aber an migrationspolitischen oder gar fiskalischen Erwägungen (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 73, 94, 95; Vorlagebeschluss des Senats vom 26.1.2021 - L 8 AY 21/19 - juris Rn. 120). Die Kosten einer medizinischen Behandlung sind für die Beurteilung, ob sie i.S. des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG unerlässlich ist, nicht entscheidend (ebenso Krauß in Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 6 Rn. 39; Deibel in GK-AsylbLG, § 6 Rn. 147; Greiser/Frerichs, SGb 2018, 213, 218; vgl. auch Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 4 AsylbLG Rn. 30; a.A. SG Landshut, Urteil vom 24.11.2015 - S 11 AY 11/14 - juris Rn. 42).
Dieses Ergebnis wird auch durch eine richtlinienkonforme Auslegung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG bestätigt. Die am 18.7.2013 (in dieser Fassung) in Kraft getretene Richtlinie Aufnahmebedingungen RL 2013/33/EU regelt Asylaufnahmebedingungen für Asylbewerber (bzw. Antragsteller auf internationalen Schutz) während der Dauer ihres Asyl- bzw. Anerkennungsverfahrens. Sie enthält besondere Vorschriften über die medizinische Versorgung von Personen mit besonderen Bedürfnissen nach Art. 19 Abs. 2, 21 bis 25 RL 2013/33/EU, die vom (Bundes-)Gesetzgeber nicht (ausdrücklich) umgesetzt worden ist. Seit Ablauf der Umsetzungsfrist zum 21.7.2015 wird insoweit eine richtlinienkonforme Auslegung des § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG befürwortet (Krauß in Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 6 Rn. 11; Frerichs in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 6 AsylbLG, Rn. 25 m.w.N.; Herbst in Mergler/Zink, SGB XII/AsylbLG, Stand: 07/2017, § 6 AsylbLG Rn. 31; Wahrendorf in Wahrendorf, AsylbLG, 1. Aufl. 2017, § 4 Rn. 1; so auch der Standpunkt der Bundesregierung in BT-Drs. 18/7831, S. 5 und BT-Drs. 18/9009, S. 3; im Ergebnis ebenso im Wege einer direkten Anwendung des Art. 19 Abs. 2 RL 2013/33/EU Kanalen, VSSR 2016, 161, 188 ff., 191 ff.; a.A. SG Landshut, Urteil vom 24.11.2015 - S 11 AY 11/14 - juris Rn. 47, zu Art. 15 Abs. 2, 17 Abs. 1 der Vorgängerrichtlinie RL 2003/9/EG) mit der Folge, dass sich die medizinische Versorgung dieses Personenkreises nach Art. 19 Abs. 2 RL 2013/33/EU im Regelfall auf die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe, einschließlich erforderlichenfalls einer geeigneten psychologischen Betreuung, erstreckt.
Der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie Aufnahmebedingungen (vgl. Art. 3 Abs. 1 RL 2013/33/EU) ist hier eröffnet, weil sich die Klägerin zum Zeitpunkt der stationären Behandlung als Inhaberin einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG zur Durchführung ihres noch nicht abgeschlossenen Asylverfahrens in Deutschland aufhalten durfte. Als Minderjährige gilt sie als Antragstellerin mit besonderen Bedürfnissen i.S. des Art. 23 RL 2013/33/EU. Nach dieser Vorschrift haben die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Minderjährige berührenden Bestimmungen der Richtlinie vorrangig das Wohl des Kindes zu berücksichtigen und einen der körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung des Kindes angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 und 2 RL 2013/33/EU). Wie dargelegt, sieht Art. 19 Abs. 2 RL 2013/33/EU für diesen Personenkreis abweichend von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG und § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG gerade keine auf eine Not- bzw. Akutversorgung begrenzte medizinische Versorgung vor. Zur Ermittlung des Leistungsumfangs bei einer medizinisch indizierten Behandlung einer Person mit besonderen Bedürfnissen i.S. der Richtlinie Aufnahmebedingungen zieht der Senat die Vorschrift des § 6 Abs. 2 AsylbLG entsprechend heran, die in Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben für die medizinische Versorgung von Personen mit besonderen Bedürfnissen, die von der sog. Massenzustromrichtlinie (RL 2001/55/EG v. 20.7.2001, Abl. EG L 212, 12) begünstigt sind (vgl. Art. 13 Abs. 4 RL 2001/55/EG), ergangen ist (eingeführt durch Gesetz vom 14.3.2005, BGBl. I 721 m.W.v. 18.3.2005, geändert durch Gesetz vom 30.9.2010, BGBl. I 1358). Danach wird Personen, (die eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 Abs. 1 AufenthG besitzen und) die besondere Bedürfnisse haben, wie beispielsweise unbegleitete Minderjährige oder Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe gewährt. Die Ausgestaltung dieses Anspruchs - gerichtet auf eine Pflichtleistung für medizinisch indizierte Behandlungen - spricht bei einer Betroffenheit von Personen mit besonderen Bedürfnissen i.S. der Richtlinie Aufnahmebedingungen entscheidend für die Annahme eines Leistungsumfangs, der grundsätzlich dem sozialhilferechtlichen Niveau nach § 48 SGB XII bzw. demjenigen der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht (ähnlich K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 6 AsylbLG Rn. 31, 124; wohl auch Krauß in Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 6 Rn. 11 a.E.). Nach diesen Maßgaben liegen hier aufgrund einer richtlinienkonformen Auslegung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG ebenfalls keine hinreichenden Gründe dafür vor, der Klägerin die erforderliche medizinische Hilfe - ggf. nur vorübergehend - vorzuenthalten.
Die nach den Umständen des Einzelfalles erforderlichen Behandlungen sind vom Krankenhausträger - der Höhe nach nicht durch den Beklagten angegriffen - mit Gesamtkosten i.H.v. 20.047,39 € zutreffend abgerechnet worden.
Die Klägerin und ihre Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG), haben im streitgegenständlichen Zeitraum weder über Einkommen noch über Vermögen verfügt, das einer Leistungsgewährung nach § 7 AsylbLG entgegensteht. Aufgrund Mittellosigkeit haben sie zu dieser Zeit vom Beklagten laufend lebensunterhaltssichernde Grundleistungen nach § 3 AsylbLG bezogen.
Das in der Rechtsfolge nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG an sich eingeräumte Ermessen ist hier auf der Ebene der Entschließung (das „ob“ der Leistung) wegen der Bejahung der Unerlässlichkeit der Behandlung auf Tatbestandsebene nicht mehr eröffnet (sog. Ermessensreduzierung auf Null; zur Ausgestaltung der Norm als Ermessensvorschrift vgl. K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 6 AsylbLG Rn. 40 f. m.w.N.). Mangels alternativer Behandlungsmöglichkeiten steht einem Anspruch der Klägerin auch nicht entgegen, dass der Beklagte an sich befugt gewesen ist, eine Ermessensentscheidung über die Art und Weise der Hilfegewährung zu treffen (sog. Auswahlermessen).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).