Ob das Leistungsverbot nach § 22 SGB III vor der Einführung von § 5 Abs. 5 SGB II durch das Teilhabestärkungsgesetz vom 2. Juni 2021 (BGBl I 2021, 1387) auf das Einstiegsgeld nach § 16b SGB II anwendbar war, ist nicht abschließend geklärt. Ein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe darf nicht deshalb abgelehnt werden, weil in der Praxis von einem entgegenstehenden „faktischen“ Leistungsverbot aus § 22 SGB III für Rehabilitanden ausgegangen wurde.
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. Januar 2023 aufgehoben.
Der Klägerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe ohne Zahlung von Raten oder Beträgen aus dem Vermögen unter Beiordnung von Rechtsanwältin F bewilligt.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Streitig ist die Gewährung von Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Bewilligung von Einstiegsgeld nach dem SGB II.
Die Klägerin ist gehörlos und bezieht Leistungen nach dem SGB II vom Beklagten. Im November 2019 beantragte sie ein Einstiegsgeld nach § 16b SGB II für eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit als Wäschereimitarbeiterin, die sie am 1. Januar 2020 aufnahm.
Die Deutsche Rentenversicherung bewilligte ihr aufgrund ihrer Hörbehinderung die vom Integrationsamt als notwendig ermittelten Kosten einer erforderlichen Arbeitsassistenz für die ab Januar 2020 ausgeübte Tätigkeit als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (Bescheid vom 11. März 2020).
Der Beklagte lehnte den Antrag auf Gewährung des Einstiegsgeldes mit Bescheid vom 21. April 2020 ab. Der Klägerin sei bereits von der Deutschen Rentenversicherung eine Arbeitsassistenz für die Beschäftigung ab dem 1. Januar 2020 bewilligt worden. Daher greife das Leistungsverbot nach § 22 SGB III.
Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 14. Juli 2020 als unbegründet zurück. Die Klägerin gehöre zwar grundsätzlich zum förderfähigen Personenkreis. Allerdings erhalte sie aufgrund ihrer Behinderung Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Rahmen eines Rehabilitationsverfahrens von der Deutschen Rentenversicherung. Damit sei sie von weiteren Eingliederungsleistungen des Beklagten für die Dauer des Rehabilitationsverfahrens ausgeschlossen. Die Deutsche Rentenversicherung habe sich durch die Feststellung des Bedarfs an der Erbringung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für zuständig erklärt und entscheide hiernach in eigener Verantwortung vollständig über die Erbringung und Durchführung der Leistungen. Die Klägerin erhalte danach grundsätzlich alle erforderlichen Eingliederungsleistungen von der zuständigen Rentenversicherung. Eine darüber hinausgehende Förderung mit Eingliederungsleistungen nach SGB III oder SGB II durch den Beklagten sei weder erforderlich noch gesetzlich erlaubt.
Hiergegen hat die Klägerin unter dem 14. August 2020 Klage erhoben und für das Klageverfahren die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt (Antrag vom 7. April 2021). Die von der Rentenversicherung bewilligte Arbeitsassistenz ermögliche ihre gleichberechtigte Teilhabe durch Ausgleich der Hörbehinderung. Das Einstiegsgeld habe eine andere Zielrichtung, da es den Einstieg in den Arbeitsalltag erleichtere. Die Leistungen seien in keiner Weise gleichartig im Sinne des § 22 Abs. 1 SGB III und schlössen sich mithin nicht gegenseitig aus. Die Verwehrung des Einstiegsgeldes, nur weil sie als gehörloser Mensch eine Dolmetscherin am Arbeitsplatz benötige, sei für sie eine unangemessene Benachteiligung. Daher habe sie Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihren Antrag.
Mit Beschluss vom 9. Januar 2023 hat das Sozialgericht den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach § 16 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 SGB II bei der Erbringung von Einstiegsgeld an erwerbstätige Leistungsberechtigte mit Behinderungen grundsätzlich die Regelungen des SGB III gelten und daher das Leistungsverbot des § 22 Abs. 1 SGB III in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung greife. Nach dieser Norm dürften Leistungen der aktiven Arbeitsförderung nur erbracht werden, wenn nicht andere Leistungsträger oder andere öffentlich-rechtliche Stellen zur Erbringung gleichartiger Leistungen gesetzlich verpflichtet seien. Durch die Gewährung der Arbeitsassistenz sei hier die Deutsche Rentenversicherung zuständig geworden. Die begehrte Leistungserbringung durch den Beklagten sei daher ausgeschlossen. Auf die ab dem 1. Januar 2022 geltende Regelung des § 5 Abs. 5 SGB II, die das bis zu diesem Zeitpunkt bestehende Leistungsverbot beseitige, könne sich die Klägerin nicht berufen. Denn im SGB II sei vom Geltungszeitraumprinzip auszugehen, mithin das Recht anzuwenden, das zu der Zeit gegolten habe, in der die maßgebliche Rechtsfolge eingetreten sei. Der Gesetzgeber habe mit der Neuregelung die von der Klägerin angesprochene Benachteiligung eines Teils der Rehabilitanden im Vergleich zu anderen beseitigen und eine möglichst weitgehende Gleichstellung erreichen wollen. Dies habe aber nicht zur Folge, dass die Klägerin sich für ihren in der Vergangenheit geltend gemachten Anspruch auf die Neuregelung berufen könne. Die von der Klägerin gerügte Ungleichbehandlung sei zumindest dadurch gerechtfertigt gewesen, dass Sinn und Zweck des Leistungsverbots die Vermeidung von Doppelstrukturen bei der Betreuung und Förderung von behinderten Leistungsberechtigten gewesen sei.
Die Klägerin verfolgt mit ihrer am 13. Februar 2023 beim Landessozialgericht erhobenen Beschwerde das Begehren der Prozesskostenhilfe weiter, wobei sie im Wesentlichen ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholt.
II.
Die Beschwerde gegen die Ablehnung des Prozesskostenhilfegesuchs ist zulässig; sie ist insbesondere statthaft. Ein Ausschluss der Beschwerde nach § 172 SGG liegt nicht vor. Der vorliegend allein in Betracht kommende § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG sieht einen Ausschlussgrund für Beschwerden gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe vor, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. Die Berufung bedürfte bei voller Klagestattgabe oder –abweisung in einem Hauptsacheverfahren in diesem Fall nicht der Zulassung, weil das von der Klägerin letztlich verfolgte Begehren auf Bewilligung von Einstiegsgeld einen Beschwerdewert von über 750,- Euro und damit die Zulässigkeit der Berufung begründen würde. Zwar war ihr Einstiegsgeldantrag nicht beziffert, jedoch ist bei einem etwaigen Anspruch, der unter Berücksichtigung von vorheriger Dauer der Arbeitslosigkeit sowie Größe der Bedarfsgemeinschaft bemessen wird und für (höchstens) 24 Monate bestehen kann (§ 16b Abs. 2 SGB II), von einer Überschreitung des Beschwerdewertes auszugehen.
Die auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist begründet. Die Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und ist nicht mutwillig. Die Beiordnung anwaltlichen Beistandes ist dafür im Sinne von §§ 73a Abs. 1 SGG, 121 Abs. 2 ZPO erforderlich.
Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 ZPO erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist dann anzunehmen, wenn das Gericht aufgrund summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage (BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2008, 1 BvR 1404/04) zu dem Ergebnis gelangt, dass der Erfolg der Rechtsverfolgung eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat. Diese gewisse Wahrscheinlichkeit liegt dann vor, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Beteiligten aufgrund der Sachverhaltsschilderung, der vorgelegten Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Auflage, § 73a, Rn. 7a). Bei nur teilweise anzunehmender Erfolgsaussicht ist in den gerichtskostenfreien Verfahren Prozesskostenhilfe unbeschränkt zu gewähren (vgl. Leitherer a.a.O.); Ausnahmen kommen bei selbständigen Streitgegenständen, also insbesondere bei Klagehäufung in Betracht. Einerseits dürfen die Anforderungen an eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht überspannt werden (BVerfG, Beschluss vom 13. März 1990, 2 BvR 94/88). Andererseits darf Prozesskostenhilfe auch verweigert werden, wenn der Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. März 1990, a.a.O.). Kommt eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht und liegen keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde, bzw. hält das Gericht eine Beweiserhebung für notwendig, so kann in der Regel Erfolgsaussicht nicht verneint werden (Leitherer a.a.O.). Weil es ausreicht, dass Vertretbarkeit des Rechtsvorbringens anzunehmen ist, kommt es hinsichtlich der rechtlichen Bewertung nicht auf die Rechtsansicht des erkennenden Spruchkörpers, sondern auf eine allgemeine Betrachtung an. Ein Rechtsschutzbegehren hat daher auch dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. März 1990, a.a.O.).
Nach diesen Maßstäben war der Klägerin Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Denn es besteht eine für die Gewährung von Prozesskostenhilfe hinreichende Möglichkeit, dass ihre Klage Aussicht auf Erfolg hat.
Der Anspruch auf Neubescheidung ist jedenfalls nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Bewilligung eines Einstiegsgeldes schon aufgrund eines Leistungsverbotes unmöglich ist. Denn es lässt sich nach allgemeiner Betrachtung vertreten, dass das Leistungsverbot des § 22 SGB III im Streitzeitraum nicht auf das Einstiegsgeld nach § 16b SGB II anzuwenden war.
§ 22 Abs. 2 Satz 1 SGB III in der für den Streitzeitraum maßgeblichen und bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung (aF) lautet: Allgemeine und besondere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dürfen nur erbracht werden, sofern nicht ein anderer Rehabilitationsträger im Sinne des Neunten Buches zuständig ist. In dessen Absatz 1 ist geregelt: Leistungen der aktiven Arbeitsförderung dürfen nur erbracht werden, wenn nicht andere Leistungsträger oder andere öffentlich-rechtliche Stellen zur Erbringung gleichartiger Leistungen gesetzlich verpflichtet sind.
Bei dem Einstiegsgeld nach § 16b SGB II handelt es sich jedoch weder um eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben noch um eine Leistung der aktiven Arbeitsförderung nach dem SGB III, so dass § 22 SGB III bereits dem Wortlaut nach kein Verbot der Gewährung von Einstiegsgeld nach dem SGB II an Rehabilitanden ausspricht. Hinzu kommt, dass eine direkte oder entsprechende Anwendbarkeit des § 22 SGB III auf § 16b SGB II im Streitzeitraum nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. Die Regelungen des SGB III und mithin auch das Leistungsverbot des § 22 SGB III gelten gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II für die Leistungen nach § 16 Abs. 1 SGB II, soweit das SGB II nichts Abweichendes regelt. Das Einstiegsgeld fällt jedoch nicht unter § 16 Abs. 1 SGB II.
Ob das Leistungsverbot nach § 22 SGB III (aF) auf das Einstiegsgeld nach § 16b SGB II im Streitzeitraum anwendbar war, ist nicht abschließend geklärt. Eine ausdrückliche Regelung existiert erst seit der Gesetzesänderung durch das Teilhabestärkungsgesetz vom 2. Juni 2021 (BGBl I 2021, 1387). Dort hat der Gesetzgeber in einem neuen § 5 Abs. 5 SGB II geregelt, dass u.a. Leistungen nach § 16b SGB II auch an erwerbsfähige Leistungsberechtigte erbracht werden können, sofern ein Rehabilitationsträger i.S.d. SGB IX zuständig ist. Laut Gesetzesbegründung hat er damit darauf reagiert, dass die Praxis in der Vergangenheit von einem „faktischen Leistungsverbot“ ausgegangen war (siehe BTDrs. 19/27400, S. 53, wonach die bisherige „Verfahrensweise“ geändert wird; so auch: Leopold/Harks in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 16b <Stand: 6. Januar 2023>, Rn. 30.1). Somit wurde vor der Gesetzesänderung wohl überwiegend von einem „faktischen“ Leistungsverbot ausgegangen. Da es hierfür jedoch keine gesetzliche Grundlage gab, wurde für diesen Zeitraum gleichermaßen die Förderungsmöglichkeit von Rehabilitanden mit Einstiegsgeld befürwortet (vgl. Leopold/Harks, a.a.O., Rn. 30).
Vor diesem Hintergrund durfte der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht wegen eines entgegenstehenden Leistungsverbots abgelehnt werden.
Ob die weiteren Voraussetzungen für die Gewährung des Einstiegsgeldes, insbesondere dessen Erforderlichkeit gegeben sind, und die Klägerin daher einen Anspruch auf Neubescheidung hat, ist Bestandteil der weiteren Sachaufklärung des Sozialgerichts.
Die Rechtsverfolgung ist nicht mutwillig. Die Vertretung der Klägerin durch eine Rechtsanwältin erscheint angesichts der rechtlichen Schwierigkeiten der im Hauptsacheverfahren zu klärenden Rechtsfragen geboten (§ 121 Abs. 2 ZPO).
Nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen kann die Klägerin die Verfahrenskosten nicht aufbringen. Sie ist prozessual bedürftig.
Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).