L 5 SB 220/21

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Altenburg (FST)
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Altenburg (FST)
Aktenzeichen
S 19 SB 1137/19
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 5 SB 220/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die in einem Bescheid zum Grad der Behinderung bzw. zu Merkzeichen nach dem SGB IX getroffene Feststellung, „die bisherigen Feststellungen“ eines früheren Bescheids blieben im Übrigen „weiterhin gültig“ ist in der Regel keine förmliche Neufeststellung, sondern lediglich die aufgrund neuer Prüfung gemachte Aussage, dass ein früherer Feststellungsbescheid als Dauerverwaltungsakt weiterhin Bestand hat; eine Regelung im Sinne von § 31 SGB X liegt darin nicht. 

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Altenburg vom 22. Februar 2021 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Absenkung des bei ihm festgestellten Grades der Behinderung (GdB) von 70 auf 50 und gegen die Entziehung der Merkzeichen G und B.

Der 1997 geborene Kläger leidet an einem atypischen Autismus. Mit Erstbescheid vom 12. Mai 2004 wurden ein GdB von 50 und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H festgestellt. Mit Bescheid vom 20. April 2006 wurde der GdB auf 60 angehoben. Mit Bescheid vom 11. November 2008 wurden zusätzlich die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen G und B festgestellt, der GdB von 60 und das Merkzeichen H blieben bestehen. Durch Bescheid vom 3. März 2014 hob der Beklagte den GdB auf 70 an. Die bisherige Feststellung der Merkzeichen B, G, H bleibe weiterhin gültig. Unter dem 21. April 2016 erließ der Beklagte einen Bescheid, mit dem festgestellt wird, dass nunmehr die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H nicht mehr vorliegen. Die bisherige Feststellung des GdB von 70 und die bisherige Feststellung von Merkzeichen G und B blieben gemäß Bescheid vom 3. März 2014 weiterhin gültig. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden.

Im März 2018 überprüfte der Beklagte erneut, ob die Feststellungen nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) noch weiterhin zutreffen. Er holte dazu einen Befundbericht der behandelnden Fachärztin für Nervenheilkunde P ein. In deren Befundbericht vom 16. April 2018 gibt sie bei psychischem Befund an: „Bewusstseinsklar, ausreichend orientiert. Stimmung soweit freundlich, recht unsicher und unruhig, jedoch sehr bemüht, Antrieb nicht beeinträchtigt, Denkablauf soweit geordnet, insgesamt jedoch verlangsamt. Auffassung, Konzentration und Merkfähigkeit vermindert.“ Sie diagnostizierte Angst und depressive Störung gemischt, Intelligenzminderung mit autistischen Zügen. Dem Befundbericht waren auch die Behandlungsberichte der Ergotherapie M beigefügt, deren Hauptziel das Abbauen negativer Verhaltensauffälligkeiten sowie das pünktliche und selbständige Einhalten terminlicher Verpflichtungen und das Verbessern der positiven Eigensteuerung ist. Dem Beklagten lag auch ein Gutachten zur Pflegebedürftigkeit aus dem Jahr 2011 vor.

Der Beklagte hörte die Mutter des Klägers, welche zugleich seine Betreuerin ist, mit Schreiben vom 26. Oktober 2018 zu einer beabsichtigten Absenkung des GdB auf 50 und Aberkennung der Merkzeichen B und G an. Es sei eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustands des Klägers eingetreten. Dazu hat der anwaltlich vertretene Kläger mit Schreiben vom 13. Dezember 2018 eingewandt, dass allein die Angabe im Befundbericht, dass der Kläger bewusstseinsklar und ausreichend orientiert gewesen sei, weder eine Absenkung des GdB noch die Entziehung der Merkzeichen rechtfertigen würden. In dem Schreiben werden die Einschränkungen des Klägers im Einzelnen geschildert. Er schildert seine Schwierigkeiten hinsichtlich der Orientierung und bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln und weist darauf hin, dass er unter erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten leide und auch in der Werkstatt für Behinderte auf die Betreuer angewiesen ist. Er verhalte sich gegenüber den Anderen häufig grenzwertig, so dass es leicht zu Auseinandersetzungen bis hin zu körperlicher Gewalt kommen könne. Auch zu Hause könne er nicht mit seinem jüngeren Bruder (12 Jahre) allein gelassen werden. Es sei nicht zu erkennen, worauf die Annahme einer Besserung der Gesundheit des Klägers gestützt werde.

Mit Bescheid vom 4. Januar 2019 nahm der Beklagte die angekündigte Absenkung und Entziehung der Merkzeichen G und B vor. Er führt aus, dass der Bescheid vom 21. April 2016 insoweit aufgehoben werde, als nunmehr die gesundheitlichen Voraussetzungen für einen GdB von 50 vorliegen. Für die Merkzeichen G, B lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht mehr vor. Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch legt der Kläger den Abschlussbericht zur betrieblichen Erprobung der Lebenshilfe J vom 15. Juni 2016 vor. Darin werden auch die Einschränkungen des Klägers in Orientierung und Mobilität geschildert, die bei der Erprobungsmaßnahme einen Fahrdienst notwendig machten. Auch die räumliche Orientierung im Erprobungsbetrieb war mit Schwierigkeiten verbunden. In dem Betrieb wird auch auf die eingeschränkte Sozialkompetenz hingewiesen. Auch in dem beigefügten Entwicklungsbericht der R-Werkstatt für behinderte Menschen vom 15. Januar 2019 wird darauf hingewiesen, dass der Kläger sich noch an bekannten Orten orientieren, aber weder den Arbeitsweg selbständig bewältigen noch ÖPNV nutzen könne und er durch verbale oder körperliche Kommunikation seine Mitmenschen störe, belästige und beleidige. Aus diesem Grund sei eine besondere Betreuung notwendig. Der Beklagte half dem Widerspruch nicht ab und legte ihn dem Freistaat Thüringen zur Entscheidung vor. Dieser wies durch das Landesverwaltungsamt den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2019 zurück. Dabei wurden folgende Behinderungen zugrunde gelegt:

  1. Autismus, Lernbehinderung (Einzel-GdB 50)
  2. Bronchialasthma (Einzel-GdB 10).

Im Widerspruchsbescheid wird ausgeführt, dass der Kläger an einem frühkindlichen Autismus sowie einer leichten Intelligenzminderung leide. Er habe erfolgreich den Berufsbildungsbereich absolviert und arbeite in einer geschützten Werkstatt. Gegenüber der Gruppenleitung halte er die sozialen Verhaltensregeln gut ein. Er sei bewusstseinsklar und ausreichend orientiert. Der Antrieb sei nicht beeinträchtigt. Die Konzentrations- und Merkfähigkeit seien gemindert. Eine schwer eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit oder Orientierungsstörung bestehe nicht.

Im Klageverfahren holte das Sozialgericht Befundberichte der behandelnden Ärzte P und W ein. P teilte in ihrem Befundbericht vom 18. Dezember 2019 mit, dass sich die Befunde im Behandlungsverlauf (seit 2016) eher verschlechtert hätten, der Kläger sei teilweise schwer führbar, aufmüpfiger und teilweise auch laut und unterschwellig aggressiv. Ebenso sei er unverändert auf ständige Betreuung und Hilfe angewiesen. Hinsichtlich des psychischen Befunds gab sie wiederum an: bewusstseinsklar, ausreichend orientiert. W, Facharzt für Innere Medizin/Pneumologie, informiert in seinem Befundbericht vom 3. Januar 2020 über eine im Wesentlichen stabile Situation bezüglich des Asthmas des Klägers. Das Sozialgericht beauftragte daraufhin U, Fachärztin für Nervenheilkunde, mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens in ihrem Fachgebiet. Diese untersuchte den Kläger am 25. Mai 2020. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die wesentlichen Verhaltensauffälligkeiten beim Kläger über die Jahre konstant geblieben seien. Die autismusspezifischen Problembereiche soziale Interaktion, Kommunikation und Verhalten hätten bis zum Zeitpunkt der Begutachtung unverändert über die Zeit fortbestanden. Der zuvor vergebene GdB von 70 für die autistische Störung und die Lernbehinderung hätten durchgängig seit der Vergabe bestanden. Die Sachverständige hebt hervor, dass die Feststellung der behandelnden P, dass der Kläger bewusstseinsklar und orientiert sei, sich nicht auf die Orientierungsfähigkeit im Straßenverkehr beziehe. Hier sei der Kläger erheblich eingeschränkt. Auch bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln sei er auf eine Begleitperson angewiesen, weil er aufgrund seines Orientierungsproblems nicht imstande sei, öffentliche Verkehrsmittel selbständig zu nutzen. Diese Einschränkungen hätten durchgehend bestanden. Der Beklagte ist dieser Einschätzung entgegengetreten. Dazu hat U ergänzend Stellung genommen und nochmals klargestellt, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers seit 2016 nicht gebessert habe.

Mit Gerichtsbescheid vom 22. Februar 2021 hat das Sozialgericht Altenburg der Klage stattgegeben und den Bescheid vom 4. Januar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2019 aufgehoben.

Mit Beschluss vom 22. Februar 2021 hat das Sozialgericht Altenburg dem Beklagten zudem Verschuldenskosten in Höhe von 780,00 € auferlegt. Der Beklagte habe sich im Verwaltungsverfahren allein auf den Befundbericht der P gestützt und nicht ausreichend ermittelt, die Höhe der Verschuldenskosten entspreche dem Honorar der Sachverständigen.

Gegen den Gerichtsbescheid hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, dass in dem Gutachten die Anpassungsschwierigkeiten des Klägers nicht zutreffend gewürdigt worden seien.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Altenburg vom 22. Februar 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er beruft sich auf den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten
Schriftsätze Bezug genommen. Die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten des Beklagten lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Beklagte war nicht berechtigt, den GdB des Klägers neu festzustellen und ihm die Merkzeichen G und B abzuerkennen.

Streitgegenstand ist der Herabsetzungsbescheid des Beklagten vom 4. Januar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2019.

Zwar sind die formellen Voraussetzungen der Herabsetzung erfüllt, die Entscheidung ist jedoch materiell rechtswidrig.

Dieser Herabsetzungsbescheid vom 4. Januar 2019 war (noch) hinreichend bestimmt i.S.v. § 33 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), obwohl darin fehlerhaft der Bescheid vom 21. April 2016 in Bezug genommen wurde.

Das Bestimmtheitserfordernis verlangt, dass der Verfügungssatz eines Verwaltungsakts nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist. Der Betroffene muss bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers und unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls in die Lage versetzt werden, die in ihm getroffene Rechtsfolge vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran auszurichten. Ausreichende Klarheit kann auch dann bestehen, wenn zur Auslegung des Verfügungssatzes auf die Begründung des Verwaltungsakts, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte oder auf allgemein zugängliche Unterlagen zurückgegriffen werden muss (BSG, Urteil vom 25. Oktober 2017, Az. B 14 AS 9/17 R m.w.N.).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der angegriffene Bescheid vom 4. Januar 2019 hebt in seinem Verfügungssatz den Bescheid vom 21. April 2016 „insoweit auf, als nunmehr die gesundheitlichen Voraussetzungen für einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 vorliegen. Für die Merkzeichen G, B liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht mehr vor. Die getroffene Feststellung gilt mit Wirkung ab Bekanntgabe des Bescheides.“

Für sich genommen sind alle im Verfügungssatz getroffenen Regelungen (Aufhebung des Bescheids vom 21. April 2016, neuer GdB von 50, Entziehung von G und B, Zeitpunkt des Wirksamwerdens) inhaltlich hinreichend bestimmt. Werden die Regelungen jedoch einander gegenübergestellt, so zeigt sich, dass eine Neufestsetzung des GdB und die Entziehung der Merkzeichen G und B nicht durch eine Aufhebung des Bescheides vom 21. April 2016 erreicht werden kann, denn in diesem Bescheid wurde allein die Entziehung des Merkzeichens H verfügt. Der Verfügungssatz dieses Bescheids lautet: „Der Bescheid vom 03.03.2014 wird insoweit aufgehoben, als nunmehr die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen H nicht mehr vorliegen. Die getroffene Feststellung gilt mit Wirkung ab Bekanntgabe dieses Bescheides“. Soweit daneben in einem Klammerzusatz weiter ausgeführt wird, die bisherigen Feststellungen blieben gemäß Bescheid vom 3. März 2014 „weiterhin gültig“, handelt es sich inhaltlich nicht um eine förmliche Neufeststellung, sondern lediglich um die aufgrund neuer Prüfung gemachte Aussage, dass der Dauerverwaltungsakt vom 3. März 2014 Bestand behält und keine Änderung erfährt. Eine gesonderte Regelung im Sinne von § 31 SGB X ist dies jedoch nicht.

Würde man allein auf die Aufhebung des Bescheids vom 21. April 2016 abstellen, wäre damit die Entziehung des Merkzeichens H rückgängig gemacht worden. Bei der Feststellung des neuen GdB von 50 und der Entziehung der Merkzeichen G und B hätten die Bescheide vom 3. März 2014 bzw. 11. November 2008 aufgehoben werden müssen.

Die für sich genommen inhaltlich bestimmten Verfügungssätze sind in ihrer Zusammenschau auslegungsbedürftig. Sie sind auch im Hinblick auf den hier angegriffenen gesamten Verwaltungsakt auslegungsfähig, ohne dass der Wortlaut des Bescheides dem entgegenstehen würde (BSG a.a.O.; a.A. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 11. Dezember 2019, Az. L 13 SB 14/19, das eine Umdeutung für erforderlich hält).

Maßstab für die Auslegung von Verwaltungsakten ist der objektive Empfängerhorizont.

Verwaltungsakte sind auszulegen in Anwendung der für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133,157 BGB). Für die Auslegung kommt es über den bloßen Wortlaut hinaus auf den objektiven Sinngehalt des Verwaltungsakts an, also darauf, wie der Empfänger dessen Inhalt (Verfügungssatz und Begründung) bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls objektiv verstehen konnte und musste. Die Auslegung geht aus vom Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten, der alle Begleitumstände und Zusammenhänge (Vorgeschichte, Anträge, Begleitschreiben, Situation des Adressaten, genannte Rechtsnormen, auch Interesse der Behörde) berücksichtigt, welche die Behörde erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat (stRspr, BSG a.a.O. m.w.N.).

Auch zur Auslegung von Aufhebungsverwaltungsakten kann auf den gesamten Inhalt des Bescheids einschließlich der von der Behörde gegebenen Begründung, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte oder auf allgemein zugängliche Unterlagen zurückgegriffen werden. Diese Auslegungsmöglichkeiten finden bei Aufhebungsverwaltungsakten ihre Grenze dort, wo es dem Adressaten überlassen bleibt, Gegenstand, Inhalt, Zeitpunkt und Umfang der Aufhebung zu bestimmen, weil der in begünstigende Rechtspositionen eingreifende Leistungsträger verpflichtet ist, diese Entscheidung selbst zu treffen und dem Adressaten bekanntzugeben (BSG a.a.O).

Ausgehend davon ist durch den Herabsetzungs- und Entziehungsbescheid vom 4. Januar 2019 das vom Beklagten gewollte Maß der Herabsetzung auf einen GdB von 50 und die Entziehung der Merkzeichen G und B eindeutig festgelegt. Zwar hat der Beklagte nicht die jeweils bewilligenden Bescheide bezeichnet, doch ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Verfügungssätze des Bescheides vom 4. Januar 2019, dem Inhalt der Begründung des Bescheids und den bekannten Umständen für den Kläger, bzw. seine Betreuerin, als objektiven Empfänger unzweideutig, dass auch die anderen, nicht ausdrücklich bezeichneten Bescheide, deren Feststellungen geändert werden, von der (teilweisen) Aufhebung erfasst sein sollen (vgl. BSG a.a.O.). Die im angegriffenen Bescheid erklärte (teilweise) Aufhebung betrifft somit bei verständiger Würdigung den Bescheid vom 3. März 2014, mit dem der GdB von 70, und den Bescheid vom 11. November 2008, mit dem die Merkzeichen G und B zuerkannt wurden.

Der so ausgelegte Herabsetzungs- und Entziehungsverwaltungsakt ist materiell rechtswidrig.

Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Feststellung eines GdB ist § 152 Abs. 1 SGB IX eingebettet in das auf § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X beruhende Neufeststellungsverfahren. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorlagen, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Von einer solchen ist im Schwerbehindertenrecht bei einer Änderung im Gesundheitszustand des behinderten Menschen auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt (BSG, Urteil vom 17. April 2013, Az. B 9 SB 3/12 R).

Die erforderlichen formellen Voraussetzungen für den Erlass des im Sinne einer Teilaufhebung der Bescheide vom 11. November 2008 und 3. März 2014 auszulegenden Bescheides vom 4. Januar 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2019 sind erfüllt. Insbesondere wurde der Kläger ordnungsgemäß angehört.

Allerdings waren die materiellen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht gegeben. Dabei kann dahinstehen, ob insoweit auf den  Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2019 als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung abzustellen ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 11. August 2015,
B 9 SB 2/15 R, m. w. N.) oder – nicht zumindest auch – auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Herabsetzungs- und Entziehungsbescheids, wobei davon ausgegangen wird, dass diese am 7. Januar 2019 erfolgt ist (§ 37 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Denn die Rechtswirkungen des Herabsetzungsbescheids sollten ausdrücklich mit Bekanntgabe des Bescheids eintreten, so dass dessen Rechtmäßigkeit erfordert, dass die Voraussetzungen (jedenfalls auch) an diesem Tag gegeben waren. Diese Frage braucht jedoch hier nicht entschieden zu werden, denn die Umstände waren zu beiden Zeitpunkten identisch.

Der Senat sieht es nicht als erwiesen an, dass sich die tatsächlichen Grundlagen der Bescheide vom 11. November 2008 und des Bescheides vom 3. März 2014 bis zur Bekanntgabe des Bescheids vom 4. Januar 2019 oder zum Erlass des Widerspruchsbescheides erheblich geändert haben.

Bei der Festsetzung des GdB auf 70 im Bescheid vom 3. März 2014 handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung i. S. von § 48 SGB X. Ob eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten ist, muss im Rahmen einer gegen den Herabsetzungsbescheid gerichteten Anfechtungsklage durch einen Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des bindend gewordenen Bescheids mit denjenigen zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des Beklagten ermittelt werden.

Die tatsächlichen Grundlagen haben sich seit dem Erlass des Bescheides, mit dem ein GdB von 70 beim Kläger festgestellt wurde, nicht geändert. Der Kläger leidet an einem frühkindlichen Autismus und einer Lernbehinderung. Diese bestehen, auch wenn der Kläger inzwischen das Erwachsenenalter erreicht hat, unverändert fort. Die behandelnde Ärztin für Nervenheilkunde P hat in ihrem Befundbericht vom 18. Dezember 2019 dem Gericht mitgeteilt, dass sich die Befunde im Krankheitsverlauf eher verschlechtert hätten. Der Kläger sei teilweise schwerer führbar und mehr aufmüpfig, teilweise auch laut und unterschwellig aggressiv. Er sei nach wie vor auf Betreuung und Hilfe angewiesen. Soweit der Beklagte aus den tatsächlichen Feststellungen der erstinstanzlich beauftragten Sachverständigen eine Besserung herleiten will, kann der Senat diesen Vortrag nicht nachvollziehen. Diese stellt vielmehr klar, dass sie keine Feststellungen getroffen habe, die auf eine positive Entwicklung des Klägers hindeuten würden.

Soweit der Beklagte einwendet, dass es nicht auf eine Veränderung im Gesundheitszustand des Klägers ankomme, sondern vielmehr der Ist-Zustand bei der Entziehung festgestellt werden müsse, ist dies nur teilweise richtig. Grundsätzlich handelt es sich bei der Neufeststellung nicht um eine reine Fortschreibung des im letzten maßgeblichen Bescheid festgestellten GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der verschiedenen seinerzeit aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen (BSG, Urteil vom 19. September 2000, B 9 SB 3/00 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2002, L 6 SB 142/00), doch setzt § 48 SGB X stets eine Veränderung voraus. Das bedeutet, dass in dem Fall, dass keine Veränderung vorliegen würde, aber die Behörde im Ausgangsbescheid fälschlich einen zu hohen GdB festgesetzt hätte, keine Neufestsetzung nach § 48 SGB X möglich wäre, sondern nur eine Aufhebung unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X. Aus diesem Grund obliegt es dem Beklagten, bei einer Neufeststellung nach § 48 SGB X den Besserungsnachweis zu erbringen.

Die autistische Störung im Zusammenspiel mit der Lernbehinderung führten und führen zu erheblichen mittelgradigen Anpassungsstörungen, so dass dafür nach wie vor ein Einzel-GdB von 70 angemessen ist. Die weiter bestehende Behinderung (Asthma) mit einem GdB von 10 führt nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB. Hinsichtlich der Einschätzung der Höhe des GdB wird auf die Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts verwiesen.

Auch bei der Feststellung im Bescheid vom 11. November 2008, dass die Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B gegeben sind, handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung i. S. von § 48 SGB X. Diesbezüglich liegen ebenfalls keine wesentlichen Änderungen vor. Auch hier wird auf die erstinstanzlichen Ausführungen verwiesen.

Der Beklagte hat eingewandt, dass bei einer Störung der Orientierungsfähigkeit durch eine geistige Behinderung nach Teil D 1. f) VersMedVO das Merkzeichen G regelmäßig nur dann zuerkannt werden könne, wenn ein Einzel-GdB von 80 für die geistige Behinderung vorliegen würde. Er lässt dabei außer Acht, dass das erstinstanzliche Gericht die Zuerkennung des Merkzeichens G auf Teil D 1. b) VersMedVO gestützt hat, da auch die Sachverständige angenommen hat, dass der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr durch eine Störung der Orientierungsfähigkeit erheblich eingeschränkt sei. Darüber hinaus bietet auch Teil D 1. f) VersMedVO die Möglichkeit, in besonders gelagerten Einzelfällen die Voraussetzungen des Merkzeichens G zu bejahen. Letztlich würde der Beklagte mit seiner Argumentation auch den Anwendungsbereich des § 48 SGB X ausschließen, denn die Merkzeichen G und B wurden dem Kläger zu einer Zeit gewährt, als bei diesem insgesamt nur ein GdB von 60 festgestellt war. Die Feststellung wäre dann nach der Argumentation des Beklagten von vornherein rechtswidrig gewesen und könnte nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X aufgehoben werden. Diese liegen aber offenkundig nicht vor.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Gründe im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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