Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 08.06.2020 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten auch des Berufungsverfahrens.
Der Streitwert wird auf 618.043,38 EUR festgesetzt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Erstattung von Sozialhilfekosten, die er V. N. als Leistungsberechtigtem gezahlt hat.
Der 1969 geborene und am 00.03.2017 verstorbene Leistungsberechtigte litt unter einer progressiven Form der spinalen Muskelatrophie. Seit dem 8. Lebensjahr war er auf einen Rollstuhl angewiesen. Aus eigener Kraft konnte er nur die Hände und den Kopf bewegen. Gezieltes Greifen und das Anheben von Gegenständen waren ihm nicht möglich. Bei ihm waren ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G, B, aG, H und RF festgestellt. Der Leistungsberechtigte beendete seine Schullaufbahn mit dem Abitur und arbeitete von 1990 bis 2000 als Servicemitarbeiter bei der Messe B. sowie im Vorstand des Vereins Y.. Im April 2001 bezog der Leistungsberechtigte ein behindertengerecht ausgestattetes Zimmer in einem Studentenwohnheim in U.. Dort nahm er Hilfe von Zivildienstleistenden des Wohnheimträgers sowie von Mitbewohnern in Anspruch.
Nachdem die Stadt U. mit Bescheid vom 09.01.2003 die vom Leistungsberechtigten im Juni 2002 beantragten Hilfen für seine medizinische Versorgung sowie die Übernahme der Kosten für die Pflege versagt hatte, weil er angeforderte Unterlagen nicht vorgelegt habe, beantragte der Leistungsberechtigte am 19.02.2004 erneut die Kostenübernahme für eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung im Rahmen der Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe, die durch privat beschaffte Assistenten im Rahmen eines Arbeitgebermodells erbracht werden sollten. Diesen Antrag leitete die Stadt U. mit Schreiben vom 24.06.2004 an den Kläger weiter.
Am 21.04.2004 erstellte der MDK ein Pflegegutachten, in dem ein objektivierbarer Fremdhilfebedarf von über 240 Minuten täglich zzgl. hauswirtschaftlicher Versorgung festgestellt und die Pflegestufe III empfohlen wurden. Daraufhin bewilligte die Barmer Ersatzkasse ab dem 01.02.2004 Geldleistungen auf der Grundlage der Pflegestufe III. In einer Stellungahme des Behindertenfachdienstes des Klägers vom 19.11.2004 wurde ua ausgeführt, der Leistungsberechtigte benötige Assistenz im Bereich seiner Basisversorgung, die die Körperpflege, die Toilettenbenutzung und das An- und Auskleiden umfasse. Im Rahmen der selbstständigen Wohnform bestehe Assistenzbedarf bei der Haushaltsführung und der Zubereitung von Mahlzeiten. Darüber hinaus benötige er Assistenz bei der Freizeitplanung und Durchführung sowie der Aufrechterhaltung und Gestaltung der Beziehungen zu Freunden und Bekannten.
Mit Bescheid vom 20.01.2005 bewilligte der Kläger dem Leistungsberechtigten im Rahmen der „individuellen Schwerstbehindertenbetreuung (ISB)“ Leistungen in Form eines persönlichen Budgets iHv monatlich 2.935 € vom 01.01.2005 bis zum 31.12.2005. Auf den Widerspruch des Leistungsberechtigten änderte der Kläger die Bewilligung mit Bescheid vom 24.02.2005 dahingehend ab, dass der monatliche Abschlag ab dem 17.01.2005 auf 4.135 € erhöht wurde. Mit Bescheid vom 21.03.2005 stellte der Kläger die Leistungen zum 31.03.2005 ein, weil der Leistungsberechtigte weder Arbeitsverträge vorgelegt noch die zweckentsprechende Verwendung der für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 31.03.2005 überwiesenen Beträge nachgewiesen habe. Der Kläger zahlte dem Leistungsberechtigten bis zum 30.04.2005 Leistungen iHv monatlich 2.935 € aus.
Mit Schreiben vom 16.01.2006 beantrage der Leistungsberechtigtes erneut Eingliederungshilfe nach dem SGB XII. Er sei im Januar 2005 aus dem Studentenwohnheim zwangsweise ausgezogen und über mehrere Monate bei verschiedenen Bekannten vorübergehend untergekommen. Er habe sich erneut in einer psychischen Ausnahmesituation befunden, die es unmöglich gemacht habe, sich ausreichend um seine Angelegenheiten zu kümmern. Seit dem 20.09.2005 lebte er zur Untermiete bei Frau T. in U.. Er habe keine Helfer mehr beschäftigt. Zahlungen durch die Pflegeversicherung habe er ebenfalls nicht erhalten. Auch sei er nicht mehr krankenversichert. Am 12.05.2006 führte der Kläger bei dem Leistungsberechtigten einen Hausbesuch durch. Der Leistungsberechtigte teilte mit, er bestreite seinen Lebensunterhalt mit geliehenem Geld. Die Miete sei ihm derzeit von der Vermieterin gestundet worden. Vor dem Einzug bei Frau T. sei er obdachlos gewesen und habe bei unterschiedlichen Menschen seines Bekanntenkreises gewohnt, die jeweils seinen Bedarf an Unterstützung und Pflege mehr schlecht als recht gedeckt hätten. Jetzt wolle er ein selbstverwaltetes Assistenzmodell installieren und den Anforderungen des Klägers gerecht werden.
Mit Bescheid vom 14.06.2006 bewilligte der Kläger Geldleistungen für einen Betreuungszeitraum von 24 Stunden ab dem 01.06.2006 bis zunächst zum 31.05.2009. Ab Juli 2006 beschäftigte der Leistungsberechtigte wieder Assistenzkräfte. Nach dem Tod von Frau T. zog der Leistungsberechtigte im April 2007 nach G.. Auch dort beschäftigte er Assistenzkräfte. Der Kläger bewilligte dem Leistungsberechtigten bis zu dessen Tod weiter entsprechende Leistungen. Daneben bezog der Leistungsberechtigte Grundsicherung nach dem SGB II vom Jobcenter K..
In aufgrund von Hausbesuchen am 08.12.2009, 16.11.2011, 04.09.2012 und 04.11.2014 erstellten Stellungnahmen zum Umfang der Assistenz hielt der Beklagte fest, der Leistungsberechtigte benötige in allen täglichen Verrichtungen und der individuellen Basisversorgung umfängliche Hilfe und Unterstützung. Darüber hinaus benötige er Begleitung bei allen außerhäuslichen Aktivitäten, wie Arztbesuchen, Einkäufen, Behörden- und Bankbesuchen sowie bei sozialen Kontakten, wie Theaterbesuchen, Treffen mit Freunden usw. Der Leistungsberechtigte sei in der Stadt gesellschaftlich engagiert und gebe Nachhilfeunterricht.
Mit Schreiben vom 14.05.2012 verlangte der Kläger von dem Beklagten die Erstattung der dem Leistungsberechtigten gewährten Leistungen. Er sei bisher davon ausgegangen, dass sich die Zuständigkeit für die Zahlungen an den Leistungsberechtigten nach § 98 Abs. 5 SGB XII richte. Diese Einschätzung sei unzutreffend. Die Leistungen an den Leistungsberechtigten erfüllten nicht die Voraussetzungen einer betreuten Wohnform. Daher sei § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII anzuwenden. Nach dem Umzug des Leistungsberechtigten nach G. sei der Beklagte für die Leistungen zuständig geworden. Der Beklagte trat dieser Auffassung entgegen.
Am 23.06.2016 hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht Münster erhoben. Vom 21.05.2011 bis zum Tode des Leistungsberechtigten habe er Eingliederungshilfe iHv 618.043,38 € erbracht. Diese habe der Beklagte zu erstatten. Die Voraussetzungen des § 98 Abs. 5 SGB XII lägen nicht vor. Die erbrachten Leistungen der individuellen Schwerstbehindertenbetreuung in Form des Arbeitgebermodells seien durch ein hohes Maß an Selbstbestimmung und Selbstorganisation des Leistungsberechtigten als Arbeitgeber gekennzeichnet, die die Voraussetzungen eines betreuten Wohnens nicht erfüllten. Der körperlich aber nicht geistig eingeschränkte Leistungsberechtigte habe lediglich Pflegeleistungen erhalten. Selbst wenn ein Fall des ambulant betreuten Wohnens angenommen würde, sei diese Leistung bereits vor dem 01.01.2005 erbracht worden, so dass nach § 98 Abs. 5 Satz 2 SGB XII die Zuständigkeitsbestimmung des § 97 BSHG maßgeblich sei, wonach sich die örtliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers regelmäßig nach dem tatsächlichen Aufenthaltsort des Leistungsberechtigten richte.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 618.043,38 € zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die von dem Kläger erbrachten Leistungen seien mit dem Ziel geleistet worden, die Selbstbestimmung des Leistungsberechtigten im eigenen Wohn- und Lebensbereich zu sichern. Hierfür ergebe sich die örtliche Zuständigkeit aus § 98 Abs. 5 Satz 1 SGB XII, weshalb der Kläger zuständig bleibe. Die Erbringung der Leistungen in Form des persönlichen Budgets schlössen Hilfen für ambulant betreutes Wohnen nicht aus. Die Form der Ausführung einer Leistung ändere nichts an der Zuständigkeit. Ein ununterbrochener Leistungsfall im Form der individuellen Schwerstbehindertenbetreuung seit Februar 2004 iSv § 98 Abs. 5 Satz 2 SGB XII liege nicht vor.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Mit Urteil vom 06.06.2020 hat das Sozialgericht die Klage ohne mündliche Verhandlung abgewiesen. Ein Erstattungsanspruch sei nicht gegeben, weil der Kläger für die Leistungsgewährung gem. § 98 Abs. 5 Satz 1 SGB XII zuständig gewesen sei.
Gegen das ihm am 14.07.2020 zugestellte Urteil hat der Kläger am 23.07.2020 Berufung eingelegt. Der Beklagte sei für die Leistungen zuständig gewesen. Eine ambulant betreute Wohnmöglichkeit sei nur gegeben, wenn eine Betreuung zur eigenständigen Steuerung und Strukturierung des Tagesablaufs mit regelmäßiger sozialpädagogischer Hilfe und Beratung durchgeführt werde, die in ein auf den jeweiligen Leistungsberechtigten zugeschnittenen Konzept einbezogen sei und daher neben einer gewissen Quantität auch eine gewisse Qualität aufweisen müsse. Diese sei nur gegeben, wenn fachlich geschulte Personen Betreuungsleistung erbrächten, die darauf gerichtet seien, dem jeweiligen Leistungsberechtigten Fähigkeiten und Kenntnisse zum selbstbestimmten Leben zu vermitteln. Diese Betreuungsleistungen müssten in einer regelmäßigen Form erbracht werden und in ein Gesamtkonzept eingebunden sein, das auf die Verwirklichung einer möglichst selbstständigen Lebensführung ausgerichtet ist. Diese Voraussetzungen seien bei den hier streitigen Leistungen nicht erfüllt. Der Leistungsberechtigte sei nur von Pflegekräften versorgt worden. Es habe weder ein Betreuungskonzept noch einen Hilfeplan gegeben. Der Leistungsberechtigte habe abgesehen von der Pflege ein weitgehend selbstständiges Leben geführt und außerhäusliche Aktivitäten mit seinem Rollstuhl und öffentlichen Verkehrsmitteln vorgenommen. So habe er sich als ehrenamtliche Nachhilfe engagiert, den Bürgerpreis 2011 erhalten und sei kommunalpolitisch tätig gewesen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 08.06.2020 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm 618.043,38 EUR zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verweist auf seinen erstinstanzlichen Vortrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Dem Kläger steht der geltend gemachte Erstattungsanspruch nicht zu.
Der Kläger verfolgt sein Begehren zutreffend mit der Leistungsklage gem. § 54 Abs. 5 SGG. Die beteiligten Sozialhilfeträger stehen zueinander in einem Gleichordnungsverhältnis. Deshalb scheidet eine Geltendmachung des Erstattungsanspruchs durch Verwaltungsakt aus (Urteil des Senats vom 20.10.2016 – L 9 SO 314/15). Der Kläger hat sein Zahlungsbegehren konkret beziffert (hierzu BSG Urteil vom 20.11.2008 – B 3 KR 25/07 R).
Der Kläger hat gegenüber dem Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung seiner im Zeitraum 21.05.2011 – 08.03.2017 an den Leistungsberechtigte gewährten Eingliederungshilfe.
Die im vorliegenden Fall in Betracht kommende Rechtsgrundlage eines Erstattungsanspruchs ist § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein unzuständiger Leistungsträger rechtmäßig (zu dieser Voraussetzung vergl. nur BSG Urteil vom 17.12.2013 – B 1 KR 50/12 R) Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 102 Abs. 1 SGB X vorliegen, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
Der Leistungsberechtigte hatte einen Anspruch auf die ihm vom Kläger bewilligte Eingliederungshilfe. Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII aF (in der bis zum Inkrafttreten des BTHG zum 01.01.2020 gültigen Fassung) erhalten Personen, die durch eine Behinderung iSv § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Der Leistungsberechtigte zählte zum eingliederungshilfeberechtigten Personenkreis. Menschen mit Behinderungen iSd § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (§ 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Bei dem Kläger bestand mit der progressiven spinalen Muskelatrophie eine Behinderung in diesem Sinne und er war wesentlich in seinen Teilhabemöglichkeiten beeinträchtigt. Die Prüfung der Wesentlichkeit einer Behinderung ist wertend an deren Auswirkungen für die Eingliederung in der Gesellschaft auszurichten. Entscheidend ist mithin nicht, in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt (BSG Urteile vom 13.07.2017 – B 8 SO 1/16 R und vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R). Die fortgeschrittene spinale Muskelatrophie führte zu den vom Behindertenfachdienst und bei den Hausbesuchen festgestellten schweren motorischen Einschränkungen, die den Leistungsberechtigten in nahezu allen zur selbständigen Alltagsbewältigung erforderlichen Anforderungen massiv einschränkten. Der Anspruch des Klägers auf die deshalb 24 Stunden/Tag gebotenen Assistenzleistungen beruhte auf § 54 Abs. 1 SGB XII aF iVm § 55 SGB IX aF.
Die Leistungen sind zu Recht vom Kläger und nicht vom Beklagten erbracht worden.
Nach § 98 Abs. 1 Satz SGB XII in der für den streitigen Zeitraum jeweils gültigen Fassungen vom 02.12.2006 bzw. 20.12.2012 (aF) ist für die Sozialhilfe grundsätzlich der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich sich die Leistungsberechtigten tatsächlich aufhalten. Gemäß § 98 Abs. 5 Satz 1 SGB XII aF bleibt für Leistungen nach dem Sechsten bis Achten Kapitel in Formen ambulant betreuter Wohnmöglichkeiten der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, der vor Eintritt in diese Wohnform zuletzt örtlich zuständig war. Gemäß § 98 Abs. 5 Satz 2 SGB XII bleiben vor Inkrafttreten des SGB XII begründete Zuständigkeiten hiervon unberührt.
Vor dem Umzug des Leistungsberechtigten nach G. war der Kläger örtlich für die Leistungen zuständig. Der Leistungsberechtigte hielt sich im Zuständigkeitsbereich des Klägers tatsächlich auf (§ 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII aF). Der Kläger war als überörtlicher Träger gem. § 3 Abs. 3 SGB XII iVm § 1 Abs. 1 AG-SGB XII NRW auch sachlich für den Leistungsberechtigten zuständig, weshalb kein weiterer Leistungsträger als für den geltend gemachten Anspruch passivlegitimiert in Betracht kommt (zur notwendigen Beiladung eines anderweitig in Betracht kommenden erstattungspflichtigen Leistungsträgers BSG Urteil vom 25.04.2013 – B 8 SO 16/11 R).
Dem Leistungsberechtigten sind auch während er im Zuständigkeitsbereich des Beklagten lebte, zu Recht Leistungen nach dem Sechsten bis Achten Kapitel in Formen ambulant betreuter Wohnmöglichkeiten erbracht worden.
Der Begriff der betreuten Wohnmöglichkeiten wird im Gesetz nicht näher definiert, orientiert sich allerdings über den Verweis in § 54 Abs. 1 SGB XII auf § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX an Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (BT-Drs. 15/1514, S 67). Die aus dem Wortlaut zunächst gezogene Schlussfolgerung, bei der erforderlichen Betreuung dürfe es sich nicht um eine Leistung rein pflegerischer Art handeln (so BSG Urteil vom 25.08.2011 – B 8 SO 7/10 R), hat das BSG modifiziert, denn eine Abgrenzung allein anhand der Art der Leistung werde dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht gerecht, weil es Erkrankungsbilder gebe, wie zB in Fällen der Demenz, die über mehrere Jahre progredient verliefen und bei denen zu Anfang die selbstständige Lebensführung im Vordergrund stehe, die aber zum Ende von der pflegerischen Versorgung verdrängt würden. Daher sind sämtliche Leistungen der ambulanten Betreuung nach dem Sechsten bis Achten Kapitel SGB XII in der bis zum 31.12.2019 gF – aber auch nur solche und nicht etwa Leistungen der Altenhilfe – mit der Zielrichtung der Förderung der Selbstständigkeit und Selbstbestimmung bei Erledigung der alltäglichen Angelegenheiten in einem Wohn- und Lebensbereich von § 98 Abs. 5 Satz SGB XII erfasst, wobei es auf eine institutionelle Verknüpfung von Betreuung und Wohnen nicht ankommt. Damit erfasst diese Zuständigkeitsregelung nicht nur Eingliederungshilfeleistungen des betreuten Wohnens, sondern auch die Gewährung von ambulanten Leistungen der Hilfe zur Pflege, weil die Sicherung der Selbstbestimmung im eigenen Wohn- und Lebensbereich damit einhergeht. Auf eine Unterscheidung zwischen Eingliederungs- und Pflegehilfe kommt es nicht an, weil ansonsten § 98 Abs. 5 SGB XII für Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel bedeutungslos wäre (BSG Urteil vom 30.06.2016 – B 8 SO 6/15 R).
Die an den Leistungsberechtigte im streitigen Zeitraum erbrachten Leistungen unterfallen § 98 Abs. 5 Satz 1 SGB XII aF. Die Betreuungsleistungen waren vor und nach dem Umzug nach G. gleichermaßen ausgerichtet auf die Förderung der Selbstständigkeit und Selbstbestimmung, um ein Wohnen außerhalb einer stationären Einrichtung und den Verbleib in einer Wohnung zu ermöglichen. Wie sich aus den Stellungnahmen des Behindertenfachdienstes und den Berichten über die Hausbesuche ergibt, waren die Betreuer neben der Basispflege auch zur Unterstützung der allgemeinen Lebensführung (Einkaufen, Aufräumen, Wäschepflege, Zubereitung von Mahlzeiten), als Gestaltungshilfe für soziale Beziehungen (Besuch der Freunde, Unterstützung bei der Freizeitgestaltung, Teilnahme an Veranstaltungen) sowie bei der Begleitung zu Arztbesuchen eingesetzt. Hierbei handelt sich um typische Unterstützungsleistungen zur selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung in einer eigenen Wohnung und darüber hinaus auch zur sozialen Integration und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
Auch Qualität und Quantität der gewährten Betreuungsleistungen führen zur Bejahung einer ambulant betreuten Wohnform. Es darf sich nicht um sporadische, situativ bedingte Betreuungsleistungen in der eigenen Wohnung handeln, sondern diese müssen in einer regelmäßigen Form in einem gewissen zeitlichen Umfang erbracht werden und auf die Verwirklichung einer möglichst selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung ausgerichtet sein (Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 98 Rn. 98 mwN). Denn der durch § 98 Abs. 5 SGB XII gegebene Schutz des Einrichtungsortes bedarf hinsichtlich der Intensität der Betreuung einer Abgrenzung zu lediglich niederschwelligen oder unregelmäßigen Hilfeleistungen.
Der Umfang der dem Leistungsberechtigte gewährten Hilfen und deren fachliche Qualität erfüllen diese Vorgaben. Die Hilfestellung erfolgte an bis zu 24 Stunden täglich. Anhaltspunkte dafür, dass die Betreuer fachlich nicht befähigt waren, die Betreuungsleistungen für den geistig nicht eingeschränkten Leistungsberechtigte zu erbringen, sind nicht vorgetragen und nicht ersichtlich. Die von dem Kläger geforderten qualitativen Anforderungen an Hilfen iSv § 98 Abs. 5 SGB XII dahingehend, dass eine Betreuung zur eigenständigen Steuerung und Strukturierung des Tagesablaufs nötig sei, müssen nicht vorliegen.
Der Umstand, dass die Leistungen als persönliches Budget (§ 57 SGB XII, § 17 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 gF) erbracht worden sind und der Leistungsberechtigte sich diese selbst organisiert hat, führt nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Das persönliche Budget führt nicht zu einer Änderung Art der bewilligten Leistungen, sondern stellt nur eine andere Leistungsform dar, was für die Zuständigkeitsbestimmung nicht relevant ist.
Die Übergangsregelung des § 98 Abs. 5 Satz 2 SGB XII findet keine Anwendung. Nach dieser Vorschrift bleiben vor Inkrafttreten des SGB XII begründete Zuständigkeiten unberührt. In Fällen eines vor dem 01.01.2005 eingetretenen und fortbestehenden Leistungsfalls (BSG Urteil vom 25.04.2013 – B 8 SO 16/11 R) gelten die vor dem 01.01.2005 geltenden Regelungen des BSHG über die örtliche Zuständigkeit weiter. Dies bedeutet für Altfälle, dass beim Umzug in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Sozialhilfeträgers § 97 BSHG zur Anwendung kommt. Diese Vorschrift ist einschlägig, wenn vor dem 01.01.2005 durchgehend Leistungen gewährt wurden (BSG Urteil vom 30.06.2016 – B 8 SO 6/15 R; Urteil des Senats vom 22.05.2014 – L 9 SO 202/12).
Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. Im Leistungsbezug ist nach dem 01.05.2005 eine relevante Zäsur eingetreten, die die Anwendung von § 98 Abs. 5 Satz 2 SGB XII aF ausschließt. Das ab Februar 2004 begonnene Leistungsgeschehen wurde ab Mai 2005 unterbrochen und erst im Juni 2006 erneut aufgenommen. Die Leistungsbewilligung ab Juni 2006 ist der für die Zuständigkeitsbestimmung maßgebliche Leistungsfall. Dies folgt allerdings nicht aus der Zahlungseinstellung durch den Kläger zum 30.04.2005, denn die Einstellung von Leistungen durch den Leistungsträger beendet lediglich den Bewilligungsabschnitt, nicht aber den Leistungsfall (BSG Urteil vom 28.11.2019 – B 8 SO 8/18 R). Die Unterbrechung des einheitlichen Leistungsgeschehens ist vielmehr durch den Leistungsberechtigten selbst zurechenbar erfolgt (zu diesem Kriterium BSG Urteil vom 28.11.2019 – B 8 SO 8/18 R). Dieser hat selbstbestimmt entschieden, seinen Assistenzbedarf ohne die Inanspruchnahme von Sozialhilfe und den Einsatz von bezahlten Arbeitskräften durch Freunde und Bekannte zu decken. Aufgrund dieser selbstbeschafften Bedarfsdeckung war es dem Leistungsberechtigten möglich, mehr als ein Jahr unabhängig vom ambulant betreuten Wohnen zu leben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGG iVm § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 SGG iVm § 63 Abs. 2 Satz 1 sowie § 52 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 sowie § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) liegen nicht vor.