L 9 SO 240/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 182/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 240/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 8 SO 3/23 R
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 30.04.2021 wird zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat der Klägerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt die Übernahme von Taxikosten für Fahrten zur Schule.

 

Bei der 2006 geborenen Klägerin besteht eine angeborene Beeinträchtigung der Gelenkbewegung. Ihr fehlt an den körperentfernten Gelenken in den Armen und Beinen die Muskulatur, so dass sie diese nur sehr eingeschränkt bewegen kann. Sie kann Gehstrecken bis zu einem Kilometer zu Fuß nur mit erheblicher Mühe und ohne etwas tragen zu müssen, bewältigen. Öffentliche Verkehrsmittel und ein Fahrrad kann sie nicht benutzen. Bei der Klägerin sind ein GdB von 100 mit den Merkzeichen aG, G und H und der Pflegegrad 3 anerkannt.

 

Die Klägerin lebt gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer 2004 geborenen, nicht behinderten Schwester in B.. Die Eltern sind berufstätig, die Mutter arbeitet in Teilzeit, der Vater war im streitigen Zeitraum zeitweise im Ausland tätig. Beide Eltern haben einen PKW zur Verfügung. Die Klägerin besuchte bis zum Schuljahr 2016/17 die P.-Montessori-Grundschule in B.. Die Schule ist 1,1 km vom Elternhaus entfernt. Die Klägerin wurde mit dem Taxi zur Schule gefahren, die Kosten trug der Schulträger.

 

Zum Schuljahr 2017/2018 wechselte die Klägerin auf das N.-Gymnasium in B.. Die Entfernung zum Elternhaus beträgt ebenfalls 1,1 km. Während der Schulzeit wird die Klägerin durch eine Integrationshelferin unterstützt. Der Transport zur Schule erfolgte weiterhin mit einem Taxi. Die Kosten für das Schuljahr 2017/2018 beliefen sich auf 2.240 €. Ein Schülerspezialverkehr stand der Klägerin nicht zur Verfügung. Die Eltern der Klägerin finanzieren die Kosten für die Beförderung mit dem Taxi seit dem Schuljahr 2017/18 vor. Die Schwester der Klägerin besucht dieselbe Schule und fährt mit dem Fahrrad dort hin.

 

Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 19.07.2017 die Übernahme der Taxikosten für die Fahrten zur Schule bei der Stadt B. als Schulträger des Gymnasiums. Die Stadt B. bewilligte mit Bescheid vom 17.08.2017 gem. § 16 Abs. 1 Schülerfahrtkostenverordnung NRW (SchfKVO) eine Wegstreckenentschädigung iHv 0,13 € pro gefahrenem Kilometer. Für das Schuljahr 2017/18 erstattete die Stadt B. insgesamt einen Betrag iHv 60,42 €. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen sei gem. § 16 Abs. 2 SchfkVO eine Übernahme von Taxikosten möglich. Ein solcher Ausnahmefall liege jedoch nicht vor, da die Eltern nicht belegt hätten, dass ihnen die Beförderung mit dem eigenen Pkw nicht möglich oder nicht zumutbar sei. Eine Klage gegen diesen Bescheid hat die Klägerin nicht erhoben.

 

Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 21.08.2017 die Übernahme der Taxikosten bei dem Beklagten, soweit diese nicht durch die Stadt B. getragen werden. Es handele sich um einen behinderungsbedingten Bedarf, der im Rahmen der Eingliederungshilfe zu decken sei.

 

Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 28.08.2017 ab. Zuständig für die Übernahme von Schülerfahrtkosten sei die Stadt B. als Schulträger, so dass aufgrund des Nachrangs der Sozialhilfe gem. § 2 SGB XII kein Anspruch bestehe.

 

Die Klägerin legte gegen den Bescheid am 26.09.2017 Widerspruch ein. Die Kosten seien von der Stadt B. nicht vollständig übernommen worden und daher durch die Leistungen der Eingliederungshilfe zu decken. Der Nachrang der Sozialhilfe stehe dem nicht entgegen. Im Widerspruchsverfahren haben die Eltern mitgeteilt, nicht geltend zu machen, dass eine Beförderung mit dem eigenen Pkw nicht möglich sei.

 

Der Beklagte wies den Widerspruch unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter mit Widerspruchsbescheid vom 28.02.2018 zurück. Ein Anspruch auf Übernahme von Taxikosten bestehe nicht, da die Eltern zur Beförderung der Klägerin verpflichtet seien. Diese mache nicht geltend, dass die Beförderung mit dem eigenen Pkw nicht möglich sei. Die Übernahme von Taxikosten sei daher nicht erforderlich, um die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mildern.

 

Die Klägerin hat am 21.03.2018 Klage erhoben. Die Taxikosten seien im Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen, soweit sie nicht durch den Schulträger getragen werden. Dem stehe der Nachrang der Sozialhilfe nicht entgegen, da die Beförderung durch die Eltern nicht erfolge und die Klägerin die Leistung daher nicht von anderen erhalte. Der bereits während der Grundschulzeit praktizierte Transport zur Schule und zurück mit dem Taxi habe es den Eltern spürbar leichter gemacht, beiden Töchtern ein geregeltes Familienleben zu bieten. Aufgrund der an mehreren Tagen in der Woche erforderlichen Therapien und der mehrmals im Jahr erforderlichen Klinikaufenthalte sei es zunehmend schwieriger, ein gemeinsames Familienleben zu gestalten und beiden Kindern gerecht zu werden. Dies gelte insbesondere, weil beide Eltern berufstätig seien.

 

Die Klägerin hat beantragt,

 

den Bescheid vom 28.08.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Kosten für die Fahrten von und zur Schule im Schuljahr 2017/18 in Höhe von 2.179,58 € zu erstatten.

 

Der Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Der Beklagte hat sich auf die Begründung seiner Ablehnungsentscheidung berufen.

 

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 30.04.2021, dem Beklagten zugestellt am 12.05.2021, den Bescheid vom 28.08.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2018 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, die Kosten für die Fahrten von und zur Schule im Schuljahr 2017/18 in Höhe von 2.179,58 € zu erstatten. Rechtsgrundlage für den Anspruch seien § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX aF bzw. ab 2018 § 18 Abs. 6 Satz 1 SGB IX. Die Klägerin habe Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe und die Beförderung zur Schule mit dem Taxi sei notwendig iSv § 4 SGB IX gewesen. Die Klägerin könne nicht auf einen Transport durch die Eltern verwiesen werden, da deren Entscheidung, die Klägerin mit dem Taxi zu befördern, nicht als rechtsmissbräuchlich angesehen werde könne. Der Wunsch der Klägerin, den Schulweg wie nicht behinderte Kinder ohne Begleitung eines Elternteils zurückzulegen, sei zu respektieren.

 

Der Beklagte hat am 10.06.2021 Berufung eingelegt. Behinderungsbedingte Fahrtkosten könnten nur im Rahmen der SchfkVO vom Schulträger übernommen werden.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 30.04.2021 zu ändern und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Die Klägerin hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

 

Die statthafte und auch sonst zulässige Berufung ist nicht begründet. Zurecht hat das Sozialgericht den Bescheid vom 28.08.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2018 aufgehoben, denn er ist rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Fahrten von und zur Schule im Schuljahr 2017/18 in Höhe von 2.179,58 €.

 

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 28.08.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2018 mit dem der Beklagte die Übernahme der Taxikosten für die Fahrten von und zur Schule im Schuljahr 2017/18 in Höhe von 2.179,58 € abgelehnt hat. Der Bescheid hat sich nicht durch die mit Wirkung vom 01.01.2020 erfolgte Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgerecht des SGB XII und seine Überführung in das SGB IX und die Zuständigkeitsregelung in § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX, wonach für die von dem Kläger begehrte Leistung nunmehr die Träger der Eingliederungshilfe und nicht mehr die Träger der Sozialhilfe, die auch keine Rehabilitationsträger mehr sind, zuständig sind (vgl. dazu BSG Beschluss vom 25.06.2020 – B 8 SO 36/20 B), erledigt iSd § 39 Abs. 2 SGB X. Eine solche Erledigung tritt allenfalls in Fällen ein, in denen ein Bescheid angefochten wird, der Bedarfe betrifft, die über den 31.12.2019 hinaus bestehen (hierzu BSG Beschluss vom 24.06.2021 – B 8 SO 19/20 B; Urteile des Senates vom 30.06.2022 – L 9 SO 388/20 und vom 20.10.2022 – L 9 SO 317/21). Vorliegend handelt es sich demgegenüber um einen allein vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts bestehenden Bedarf. Eine bei Rechtswidrigkeit der Ablehnung vor dem 01.01.2020 bestehende Verpflichtung des Sozialhilfeträgers wird durch die Neukonzipierung des Eingliederungshilferechts und eine damit evtl. einhergehende neue Trägerschaft ab Januar 2020 nicht berührt (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Urteile vom 14.06.2021 – L 9 SO 27/19, vom 17.05.2021 – L 9 SO 271/19 und vom 12.08.2021 – L 9 SO 116/20).

 

Der Beklagte ist für die begehrten Leistungen sachlich und örtlich zuständig (§§ 97 Abs. 1, 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Eine Sonderzuweisung an den überörtlichen Träger nach Landesrecht besteht nicht. Die Klägerin macht ihren Anspruch zutreffend mit der Anfechtungs- und Leistungsklage geltend (§ 54 Abs. 4 SGG).

 

Der (Geldleistungs-)Anspruch der Klägerin auf Erstattung der Taxikosten für die Fahrten von und zur Schule im Schuljahr 2017/18 in Höhe von 2.179,58 € beruht auf §§ 53, 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung (aF).

 

§ 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX aF bzw. ab 2018 § 18 Abs. 6 Satz 1 SGB IX nF kommt hingegen als Anspruchsgrundlage nicht in Betracht, da der Anspruch von Anfang an auf eine Geldleistung gerichtet war (BSG Urteil vom 19.05.2022 – B 8 SO 13/20 R zu Reisekosten; BSG Urteil vom 19.05.2009 – B 8 SO 32/07 R und Urteil vom 23.08.2013 – B 8 SO 24/11 R zur Versorgung mit Hilfsmitteln). Ein Anspruch auf eine Sachleistung, der sich ggf in einen Kostenerstattungsanspruch umwandeln kann, besteht nur dann, wenn die Leistung im Rahmen des sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses erbracht wird (BSG Urteil vom 27.02.2020 – B 8 SO 18/18 R). Ein solches Dreieckverhältnis besteht hier nicht, da es sich bei dem Taxiunternehmen nicht um einen Dienst iSv § 75 Abs. 1 Satz 2 SGB XII aF handelt, mit dem Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen nach § 75 Abs. 3 SGB XII aF abzuschließen waren. Ein Taxiunternehmen ist kein spezieller Leistungserbringer im Rahmen der Eingliederungshilfe.

 

Bei der Klägerin besteht und bestand auch im streitigen Zeitraum eine wesentliche Behinderung iSv § 53 Abs. 1 SGB XII aF. Die Prüfung der Wesentlichkeit einer Behinderung ist wertend an deren Auswirkungen für die Eingliederung in der Gesellschaft auszurichten. Entscheidend ist mithin nicht, in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt (BSG Urteile vom 13.07.2017 – B 8 SO 1/16 R und vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R). Bei Kindern liegt eine wesentliche Behinderung bereits dann vor, wenn die mit einer Behinderung einhergehenden Beeinträchtigungen der erfolgreichen Teilnahme am Unterricht entgegenstehen (BSG Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R). Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen, denn sie ist aufgrund ihrer Behinderung sowohl im alltäglichen Leben, als auch beim Schulbesuch in ihren Teilhabemöglichkeiten eingeschränkt. Sie kann die Schule nicht – wie andere Kinder in ihrem Alter und wie zB auch ihre Schwester – ohne fremde Hilfe erreichen. Sie benötigt auch während des Schulbesuchs Unterstützung, da sie zB die Schultasche nicht selbst tragen kann und zeitweise auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Deshalb erhält sie während der Schulzeit Unterstützung durch eine Integrationshelferin.

 

Fahrtkosten zur Schule unterfallen grundsätzlich dem Leistungskatalog der Eingliederungshilfe. Leistungen der Eingliederungshilfe sind gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII aF ua Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt. Die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung umfasst gem. § 12 Nr. 1 EinglHV Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Fahrtkosten für den Schulweg können zu den Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung gehören (BVerwG Urteile vom 10.09.1992 – 5 C 7/87 und vom 22.05.1975 – 5 C 19.74; Urteil des Senates vom 12.08.2021 – L 9 SO 116/20; zur Erstattung von Fahrtkosten für den Besuch eines integrativen Kindergartens BSG Urteil vom 27.02.2020 – B 8 SO 18/18 R). Einem Anspruch steht nicht entgegen, dass es sich bei dem Schulbesuch selbst nicht um eine Eingliederungshilfeleistung handelt. Zwar stellt die Rechtsprechung regelmäßig darauf ab, dass die Fahrtkosten zu einer ansonsten bewilligten Eingliederungshilfe für eine angemessene Schulbildung notwendig gehören (zB BVerwG Urteile vom 10.09.1992 – 5 C 7/87 und vom 22.05.1975 – V C 19.74; für den Besuch eines integrativen Kindergarten BSG Urteil vom 27.02.2020 – B 8 SO 18/18 R), eine zwingende Voraussetzung ist dies jedoch nicht (Urteil des Senates vom 12.08.2021 – L 9 SO 116/20; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 29.06.2017 – L 7 SO 5382/14).

 

Voraussetzung ist, dass es sich um behinderungsbedingt erforderliche Kosten handelt, dh die Kosten bei einem Kind ohne Behinderung nicht oder nicht in dieser Höhe angefallen wären. Es darf sich nicht um Kosten handeln, die wie beim regulären Schulbesuch eines nichtbehinderten Schülers als notwendige Bedürfnisse des täglichen Lebens entstehen, sondern die notwendigerweise durch die besonderen Verhältnisse der Behinderung bedingt sind (BVerwG Urteil vom 22.05.1975 – 5 C 7/87; Urteil des Senates vom 12.08.2021 – L 9 SO 116/20). Im vorliegenden Verfahren handelt es sich um behinderungsbedingt erforderliche Kosten, denn es ist anzunehmen, dass die Klägerin ohne die Behinderung wie ihre Schwester mit dem Fahrrad zur Schule fahren würde.

 

Dem Anspruch der Klägerin steht nicht entgegen, dass die Eltern grundsätzlich verpflichtet sind, ihre Kinder zur Schule zu befördern, wenn diese den Schulweg nicht eigenständig bewältigen können. Dies folgt zum einen aus der Pflicht zur elterlichen Sorge (Urteil des Senats vom 12.08.2021 – L 9 SO 116/20). Zum anderen besteht auch eine öffentlich-rechtliche Pflicht, denn die Erfüllung der Schulpflicht ist traditionell als "Bringschuld" zu begreifen (OVG Rheinland-Pfalz Urteil vom 25.08.2003 – 2 A 10588/03; VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.09.2007 – 9 B 67/07). Dementsprechend sind in Nordrhein-Westfalen gem. § 41 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW die Eltern dafür verantwortlich, dass ein schulpflichtiges Kind am Unterricht und an den sonstigen verbindlichen Veranstaltungen der Schule regelmäßig teilnimmt. Im vorliegenden Fall sind die Eltern ihrer Verantwortung iSd § 41 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW dadurch nachgekommen, dass sie die Klägerin mit dem Taxi zur Schule befördert und die dadurch entstehenden Kosten vorfinanziert haben.

 

Aus der Pflicht zur Beförderung der Kinder zur Schule folgt jedoch keine Verpflichtung, die hieraus resultierenden Mehrkosten zu tragen. Von dem behinderungsbedingten finanziellen Zusatzaufwand hat die Allgemeinheit die Eltern im Rahmen der Eingliederungshilfe zu entlasten (grundlegend BVerwG Urteil vom 22.05.1975 - V C 19.74, Urteil des Senates vom 12.08.2021 – L 9 SO 116/20). Bei den Taxikosten handelt es sich um behinderungsbedingt erforderliche Kosten, denn diese Kosten wären bei einem Kind ohne Behinderung nicht oder nicht in dieser Höhe angefallen. Es handelt sich nicht um Kosten, die wie beim regulären Schulbesuch eines nichtbehinderten Schülers als notwendige Bedürfnisse des täglichen Lebens entstehen, sondern um solche, die notwendigerweise durch die besonderen Verhältnisse der Behinderung der Klägerin bedingt sind (hierzu Urteil des Senats vom 12.08.2021 – L 9 SO 116/20).

 

Die Klägerin kann nicht zumutbar darauf verwiesen werden, sich von ihren Eltern mit dem PKW zur Schule fahren zu lassen. Nach § 53 Abs. 3 SGB XII aF ist es besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ua die Folgen einer Behinderung zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Aus diesem Zweck der Eingliederungshilfe folgt das Recht der Klägerin, jedenfalls ab dem Besuch einer weiterführenden Schule unabhängig von den Eltern zur Schule zu gelangen. Denn spätestens ab diesem Alter bewältigen Kinder den Schulweg typischerweise allein, so dass es eine Benachteiligung für die Klägerin darstellen würde, wenn sie weiter von einem Transport durch die Eltern abhängig wäre.

 

Darüber hinaus spricht gegen einen Verweis auf die Beförderung durch die Eltern auch der Gedanke der Inklusion. Die Klägerin besucht eine allgemeine Schule, bei der ein Schülerspezialverkehr nicht eingerichtet ist. Nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW findet sonderpädagogische Förderung in der Regel in der allgemeinen Schule statt. Die Eltern können gem. § 20 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW abweichend hiervon die Förderschule wählen. Dieser Vorrang einer inklusiven Beschulung von Kindern mit Behinderung würde beeinträchtigt, wenn die Eltern verpflichtet wären, ein gehbehindertes Kind mit dem PKW zu der allgemeinen Schulen zu bringen, weil Taxikosten nicht erstattet werden und ein Schülerspezialverkehr nach § 14 SchfkVO nicht eingerichtet ist. Denn die Förderschulen in Nordrhein-Westfalen verfügen üblicherweise über einen Schülerspezialverkehr, so dass die Klägerin bei dem Besuch einer solchen Schule von zu Hause abgeholt und wieder zurückgebracht würde.

 

Ein Anspruch auf Kostenübernahme für die Beförderung mit dem Taxi würde nur dann ausscheiden, wenn die Weigerung der Eltern, die Klägerin zu befördern, rechtsmissbräuchlich wäre (BSG Urteil vom 27.02.2020 – B 8 SO 18/18 R). Das wäre etwa dann der Fall, wenn sie ohnehin zu der Schule fahren würden, um Geschwisterkinder zu befördern. Dafür gibt es jedoch im vorliegenden Verfahren keine Anhaltspunkte.

 

Die Wegstreckenentschädigung nach der SchfkVO NRW steht einer Geltendmachung von Kosten im Rahmen der Eingliederungshilfe nicht als lex spezialis entgegen. Leistungen aus Mitteln der Sozialhilfe scheiden jedoch aus, soweit die SchfkVO NRW bedarfsdeckend ist, auch wenn der Betroffene diese im konkreten Fall nicht beansprucht hat (Urteil des Senates vom 12.08.2021 – L 9 SO 116/20; grundlegend LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 10.01.2019 – L 7 AS 783/15). Im vorliegenden Verfahren sind die Leistungen der SchfkVO NRW nicht bedarfsdeckend. Zwar sieht § 16 Abs. 2 SchfkVO in besonders begründeten Ausnahmefällen eine Wegstreckenentschädigung in Höhe der tatsächlich entstehenden Kosten für die Beförderung einer Schülerin oder eines Schülers mit einem Taxi oder Mietwagen vor, wenn die Beförderung mit einem Privatfahrzeug der zur Beförderung verpflichteten Eltern oder eine andere geeignete Mitfahrgelegenheit ausscheidet. Auf diese Leistung kann die Klägerin nicht verwiesen werden, da ein solcher Anspruch nicht besteht. Er scheitert schon daran, dass die Beförderung der Klägerin durch die Eltern grundsätzlich möglich wäre. Darüber hinaus ist nach der Rechtsprechung des OVG Nordrhein-Westfalen ein besonders begründeter Ausnahmefall (nur) anzunehmen, wenn außergewöhnliche Umstände gegeben sind, die es im konkreten Einzelfall ungerechtfertigt erscheinen lassen, den jeweiligen Antragsteller auf die vom Verordnungsgeber in § 16 Abs. 1 SchfkVO als Regelleistung normierte Wegstreckenentschädigung zu verweisen. Solche außergewöhnlichen Umstände können etwa bei einem besonders schweren Grad der Behinderung des zu transportierenden Schülers vorliegen, die für eine Beförderung Zusatzeinrichtungen erforderlich machen, oder wenn die Erziehungsberechtigten mangels Erstattung der vollen Transportkosten für die Benutzung eines Taxis aus finanziellen Gründen objektiv nicht in der Lage wären, ihr Kind zur Schule zu bringen (OVG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 23.02.2015 – 19 E 1190/14). Demnach wäre hier auch kein Ausnahmefall anzunehmen, denn für die Beförderung der Klägerin sind keine Zusatzeinrichtungen erforderlich und die Eltern sind aufgrund ihres Einkommens und Vermögens in der Lage, die Kosten für ein Taxi zu finanzieren.

 

Eine Anrechnung der gezahlten Wegstreckenentschädigung iHv 0,13 EUR/Km folgt aus dem sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatzes gem. § 2 Abs. 1 SGB XII (Urteil des Senates vom 12.08.2021 – L 9 SO 116/20). Hieraus ergibt sich ein Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten iHv 2.179,58 € (Taxikosten 2.240 € abzgl. Erstattung durch die Stadt B. iHv 60,42 €).

 

Einkommen und Vermögen der Klägerin und ihrer Eltern sind nicht heranzuzuziehen. Nach § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII aF ist den in § 19 Abs. 3 genannten Personen bei der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung die Aufbringung der Mittel nur für die Kosten des Lebensunterhalts zuzumuten. Solche Kosten sind in der hier streitigen Leistung nicht enthalten. Das Vermögen ist nach Satz 2 der Vorschrift nicht zu berücksichtigen.

Dem Anspruch der Klägerin steht nicht entgegen, dass die Eltern die Fahrtkosten vorfinanziert haben. Nach der Rechtsprechung des BSG steht der Bewilligung von Sozialhilfeleistungen bei einer rechtswidrigen Ablehnung eine zwischenzeitliche Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter nicht entgegen (BSG Urteil vom 26.10.2017 – B 8 SO 11/16 R mwN; für Eingliederungshilfeleistungen BSG Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R).

 

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

IV. Die Revision war gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen der grundsätzlichen Bedeutung zuzulassen.

 

 

Rechtskraft
Aus
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