L 15 U 218/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 10 U 130/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 218/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 137/22 B
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 10.03.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines erneuten Überprüfungsverfahrens (§ 44 Abs. 1 SGB X) um die Anerkennung einer Berufskrankheit der Ziffer 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine) gemäß § 9 Abs. 1 SGB VII- BK 1301.

 

Der am 00.00.1948 geborene Kläger absolvierte von 1963 bis 1967 bei der U. GmbH & Co. KG in S. und GS eine 3 ½ jährige Ausbildung zum Kfz-Mechaniker und war dort anschließend bis Oktober 1967 als Geselle tätig. Von Dezember 1967 bis Juni 1969 war er bei der Standortverwaltung der Englischen Streitkräfte in D. beschäftigt und zerlegte Lkw- und Panzermotoren. Nach seinem Wehrdienst arbeitete er 1971 kurzzeitig als Kfz-Mechaniker für die E. Auto GmbH in K. und wechselte im März 1971 zur P. Tiefbau GmbH in K.. Dort wartete und reparierte er Lkws. Von Oktober 1974 bis März 1975 reparierte er auf der Zeche B. in V. Diesellokomotiven untertage. Anschließend arbeitete der Kläger von März 1975 bis Mai 1978 als Kfz-Mechaniker für verschiedene Baufirmen (P. Tiefbau GmbH, Stahlbaufirma L. in K., I. in C., T. Bauunternehmung GmbH in F.) und wartete und reparierte Baufahrzeuge und -maschinen, die z.T. mit Schwarzdeckenmaterial verschmutzt waren. Bei der T. Bauunternehmung GmbH dämmte er von Mai 1978 bis September 1980 außerdem Rohre und schloss Fugen mit Bitumendichtringen. Von Oktober 1980 bis Oktober 1984 war er bei Autolackiererei A.-Autoservice GmbH in K. beschäftigt und kam dort mit Lacken, Öl, Schmierstoffen, Bremsbelag-Abrieb, Reinigern, Unterbodenschutz und Schweißrauchen in Berührung. Danach war er bis Januar 1986 für die Baufirma Q. in Z. und anschließend bis zum Beginn seiner Arbeitsunfähigkeit im Dezember 1999 für das Bauunternehmen N. GmbH & Co. KG in X. im Zuständigkeitsbereich der Beklagten überwiegend im erlernten Beruf tätig und war auch mit der Reinigung und Wartung verschmutzter Baufahrzeuge befasst.

 

Der Kläger erkrankte im Dezember 1999 an einem Harnblasenkarzinom. Die Beklagte leitete nach einer BK-Anzeige der Krankenkasse ein Feststellungsverfahren zur BK 1301 ein, veranlasste Ermittlungen über die Arbeitsbedingungen bei den jeweiligen Arbeitgebern des Klägers und ließ die Ergebnisse durch den Technischen Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten (ehemals Bau-BG), den Präventionsdienst der Verwaltungsgemeinschaft Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft und Hütten- und Walzwerks-Berufsgenossenschaft (MMBG), der Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung, dem TAD der Bergbau-Berufsgenossenschaft (BBG) und den TAD der Tiefbau-Berufsgenossenschaft (TBG) auswerten. Die Dipl.-Biologin R. von der Präventionsabteilung der MMBG führte in ihrer Stellungnahme vom 27.07.2000 aus, der Kläger sei als Kfz-Mechaniker bei den Firmen U. GmbH & Co. KG, E. GmbH und A. Autoservice GmbH nicht im Sinne der BK 1301 gefährdet gewesen sei. Denn die Reinigungs- und Unterbodenschutzmittel, die der Kläger in den Kfz Werkstätten eingesetzt habe, enthielten keine aromatischen Amine; Unterbodenschutz sei schon immer auf Bitumen- und nicht auf Teerbasis hergestellt worden. Zum selben Ergebnis gelangten der Dipl.-Chem. O. in seiner Stellungnahme vom 05.10.2000 für den TAD der Bau BG sowie die Dipl.-Ing. H. in ihrer Stellungnahme vom 04.04.2001 für den TAD der TBBG: Zwar habe das Berufsgenossenschaftliche Institut für Arbeitssicherheit (BIA) in Sankt Augustin im Unterbodenschutzmittel Terotex der Firma Teroson 2ppm (parts per million) o-Anisidin (2-Methoxyanilin) nachgewiesen. Dieses aromatische Amin sei aber nicht krebserregend. Das Schwarzdeckenmaterial, mit dem Baufahrzeuge und -maschinen verschmutzt gewesen seien, habe zum allergrößten Teil aus Bitumen bestanden. Nach den Stellungnahmen der Dipl.-Ing. J. von der Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung vom 01.11.2000 und des Herrn Y. für den TAD der BBG vom 16.10.2000 war der Kläger auch bei den britischen Streitkräften und auf der Zeche B. keinen Einwirkungen im Sinne der BK 1301 ausgesetzt.

 

Der beratende Facharzt für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Umweltmedizin, Dr. W., kam ebenfalls zu dem Ergebnis (Stellungnahme vom 17.07.2000), es hätten sich keine Hinweise dafür ergeben, dass die Voraussetzungen zum Entstehen einer BK 1301 vorgelegen haben.

 

Der Pharmakologe, Toxikologe und Umweltmediziner Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. M., Direktor des Instituts für Arbeitsphysiologie an der Universität WN. gelangte in einer Stellungnahme vom 25.05.2001 ebenfalls zu der Einschätzung, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK nach Nr. 1301 nicht erfüllt seien. Die mögliche Belastung durch max. 2 ppm o-Anisidin in dem Unterbodenschutzmittel der Fa. Teroson sei toxikologisch nicht relevant.

 

Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 09.08.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.02.2002 die Anerkennung einer BK 1301 ab.

 

Im Rahmen der hiergegen vor dem Sozialgericht Aachen (SG) Klage (Az. S 9 U 14/02) erhobenen Klage machte der Kläger geltend, sein Harnblasenkrebsleiden sei auf den beruflichen Umgang mit Teer, Lösungsmitteln, Farben, Asbest, Chrom, Nickel und Abgasen zurückzuführen. Bei den Bauunternehmen Q. und N. GmbH & Co. KG habe er alte Teerdecken erwärmt, aufgefräst und dabei Teerstaub eingeatmet. In den Werkstätten habe er Teerbeläge an Fräs- und Schneidemaschinen mit Brennern erhitzt und entfernt. Bei der Fa. T. Bauunternehmung GmbH habe er im Rohrvortrieb Verbindungsfugen mit Teer ausgeschmiert und das Gleitmittel TIXOTON, das Sentonit enthalte, sowie einen Dichtstoff der Fa. Deitermann benutzt. Als Kfz-Mechaniker habe er häufig Altlacke von Fahrzeugen aus den 50er und 60er Jahren abgeschliffen und sei dabei einer erheblichen Staubbelastung ausgesetzt gewesen. Hierzu legte der Kläger Sicherheitsdatenblätter vor und überreichte eine Stoffprobe mit der Angabe, dass es sich dabei um Unterbodenschutz der Fa. Teroson handele, der von einem VW Käfer aus dem Baujahr 1966 stamme.

 

Der vom Sozialgericht zu den Schadstoffbelastungen befragte Zeuge AG. bekundete als ehemaligen Baggerfahrer der Fa. T. Bauunternehmung GmbH, dass im Rohrvortrieb Verbindungsfugen mit einem schwarzen Material, Teer oder Bitumen, ausgeschmiert worden seien. Das Material sei erhitzt und mit einem Spachtel aufgetragen worden, wobei Hautkontakt bestanden habe und aufsteigende Dämpfe eingeatmet worden seien.

 

Die österreichische Fa. Würth Handelsgesellschaft m.b.H. in Böheimkirchen, die Unterbodenschutzprodukte herstellt, teilte am 02.10.2002 mit, ihre Produkte enthielten keine aromatischen Amine. Das Umweltbundesamt in Berlin führte unter dem 31.10.2002 aus, dass der gezielte Einsatz von aromatischen Aminen oder Steinkohlenteer in Unterbodenschutzmitteln weder bekannt noch auszuschließen sei. Die Süd-Chemie AG in Moosburg gab am 07.10.2002 an, TIXOTON enthalte keine organischen Amine. Die Heidelberger Bauchemie GmbH aus Datteln legte am 30.10.2002 dar, dass ihr Dichtstoff Plastikol® SKN der Marke Deitermann nicht teerhaltig sei. Das BIA in Sankt Augustin fand am 07.05.2003 in der Stoffprobe, die der Kläger vorgelegt hatte, kein 2-Naphtylamin oberhalb der Bestimmungsgrenze von 1 mg/kg (1ppm). Die N. GmbH & Co. KG teilte am 16.08.2005 mit, dass Asphalt geschnitten, aber nicht erhitzt worden sei, verschlissene Schneideblätter seien vernichtet worden; Teerrückstande seien möglicherweise an Baggerlöffeln und -greifern vorhanden gewesen. Die SU. Stadtentwicklung GmbH & Co. KG in GS bestätigte am 26.08.2005, dass bei der Sanierung des Saint-Brieuc-Platzes in X., an der die N. GmbH & Co. KG beteiligt gewesen sei, teerhaltiges Schwarzdeckenmaterial aufgebrochen und entsorgt worden sei. Die Stadt X. gab unter dem 29.08.2005 an, dass bei Kanalarbeiten, die die Fa. N. GmbH & Co. KG in der ZK.-straße und der OZ.-straße durchgeführt habe, kein kontaminiertes Material vorgefunden worden sei.

 

Der Dipl.-Chem. O. führte in einer Stellungnahme vom 31.07.2003 für die Beklagte aus, dass Autolacke in geringen Mengen wasserunlösliche Azo-Pigmente enthielten, die jedoch nicht bioverfügbar und damit beim Auftragen mit Spritzpistolen auch nicht im Sinne der BK 1301 gefährdend seien. Teerrückstande seien nicht mit dem aromatischen und krebserregenden Amin Naphthylamin kontaminiert, das in frischem Teer enthalten sei, da Naphthylamin im Laufe der Zeit mit Luftsauerstoff in Kontakt geraten und dadurch zersetzt werde. Alter Teerasphalt weise deshalb keine aromatischen Amine mehr auf, sodass keine Gefährdung durch Teerrückstände an Baumaschinen und -fahrzeugen bestanden hätten.

 

Die Dipl.-BioIogin R. führte in ihrer Stellungnahme vom 28.08.2003 für die MMBG aus, dass auch beim Abschleifen von Lacken keine Gefährdung im Sinne der BK 1301 bestanden habe, da Autolacke in den 50er/60er Jahren in keinem nennenswerten Umfang Azofarbstoffe enthielten. 

 

Zu dem Einwand der Dipl.-Ing. H. in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 16.09.2003, dass eine Exposition gegenüber aromatischen Aminen nicht vollkommen ausgeschlossen sei, da Naphthylamin nur im Bereich der oberen Teerschicht, nicht jedoch in tieferen Schichten durch Sauerstoffkontakt zersetzt werde, erwiderte Dipl.-Chem. O. unter dem 10.12.2003, dass in alten Asphaltdecken bislang kein Naphthylamin nachgewiesen worden sei. Selbst wenn der Kläger alte Teerdecken aufgefräst und die Fräsmaschinen gereinigt habe, tendiere die Belastung durch aromatische Amine gegen Null.

 

Anschließend holte das Sozialgericht von Amts wegen ein Gutachten des Facharztes für Arbeits- und Umweltmedizin Prof. Dr. FY. ein. In seinem Gutachten vom 09.08.2004 und einer ergänzenden Stellungnahme vom 21.02.2005 verneinte der Sachverständige (SV) die haftungsbegründenden Voraussetzungen der BK 1301. Es sei keine arbeitsmedizinisch-toxikologisch relevante Exposition gegenüber aromatischen Aminen oder sonstigen Gefahrstoffen nachgewiesen, die beim derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand generell geeignet sei, Harnblasenkarzinome beim Menschen hervorzurufen. Schweißrauche, Benzol und andere Lösungsmittel verursachten keinen Harnblasenkrebs. Dieselabgase enthielten keine aromatischen Amine. Eine berufliche Belastung mit 2-Naphtylamin oder anderen krebserregenden aromatischen Aminen sei nicht erwiesen. Dies gelte auch für den Umgang mit „Teerdeckenausbrüchen". Das aromatische Amin o-Anisidin (2-Methoxyanilin), welches der Unterbodenschutz der Fa.Teroson in einer Konzentration von 2 ppm enthalte, rufe im Tierversuch Harnblasenkrebs hervor. Für den Menschen fehlten entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse, wobei im Fall des Klägers fraglich sei, ob o-Anisidin beim Auftragen des Unterbodenschutzes überhaupt freigesetzt, vom Kläger aufgenommen und über den Stoffwechsel ins Zielorgan „Harnblase" gelangt sei. Ein erhöhtes Harnblasenrisiko für die Berufsgruppe der Kfz-Mechaniker sei in epidemiologischen Studien bislang nicht dargestellt worden.

 

Mit Urteil vom 27.10.2005 wies das SG die Klage ab.

 

In Rahmen der Hiergegen bei dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingelegten Berufung (LSG NRW Az: L 17 U 255/05) trug der Kläger vor, er habe während seines Berufslebens auch ausländische Lacke abgeschliffen und aufgetragen, die AZO-Farbstoffe enthielten. Darüber hinaus habe er in geschlossenen Räumen zu mindestens 35% bis 40% Teerrückstande von verunreinigten Baugeräten und -maschinen (z.B. Teerkochern) abgeschabt, abgebrannt und mit Lösungsmitteln behandelt. Zudem habe er mit Fräsmaschinen Asphaltdecken aufgeschnitten, die nachweislich mit Teer belastet gewesen seien. Auch sei er bei der Firma N. beim Reinigen von Leitungen mit Kokereischlämmen in Kontakt gekommen.

 

Der Dipl.-Chem. O. legte am 05.04.2006 dar, auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens des Klägers sei keine Exposition durch aromatische Amine oder Azofarbstoffe im Sinne der BK 1301 festzustellen. Er führte unter Wiederholung der bisherigen Ermittlungsergebnisse aus, dass es sich bei den Schlämmen in der alten Kokereigasleitung der Fa. N. GmbH & Co. KG nach den Untersuchungsergebnissen um schwermetall- und kohlenwasserstoffhaltige Schlämme gehandelt habe. Aromatische Amine seien in keiner der Proben nachgewiesen worden.

 

Mit Urteil vom 23.08.2006 wies LSG NRW die Berufung zurück. Eine BK 1301 liege nicht vor. Zur Begründung führte es aus, es sei nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen, dass der Kläger berufsbedingt Umgang mit aromatischen Aminen gehabt habe. Selbst wenn man davon ausginge, dass er zumindest beim Aufbrechen teerhaltiger Asphaltdecken oder bei der Reparatur verunreinigter Baumaschinen einen Kontakt zu krebserregenden aromatischen Aminen gehabt habe, wäre ein Zusammenhang zwischen diesen (geringfügigen) Schadstoffbelastungen und dem Harnblasenkrebs nicht hinreichend wahrscheinlich. Die hiergegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde wurde mit Beschluss des Bundessozialgerichts vom 10.01.2007 als unzulässig verworfen.

 

Im Juni 2011 beantragte der Kläger eine Überprüfung des Bescheides vom 09.08.2001. Es seien Belastungen unberücksichtigt geblieben, die ihm bei Arbeiten zur Sanierung von Kokereigasleitungen, beim Anschneiden alter Teerdecken im Bereich Jülich, bei Lackierarbeiten in geschlossenen Räumen ohne Absauganlage, bei Reparaturarbeiten an teerverarbeitenden Maschinen, beim Schweißen mit Chrom/Nickel-Elektroden an Baggerschaufeln und anderen Baugeräten, bei Arbeiten an asbestbelasteten LKW-Bremsanlagen und beim Reinigen verschmutzter Teile mit Petroleum entstanden seien. Außerdem machte er geltend, das Rundschreiben der DGUV Nr. 0124/11 zur BK 1301 führe zu einer neuen rechtlichen Beurteilung.

 

In der daraufhin von der Beklagten angeforderten Stellungnahme führte der Dipl.-Chem. O. am 11.11.2011 aus, soweit der Kläger auf das DGUV-Rundschreiben 0124/211 vom 28.02.2011 Bezug nehme, ergäben sich daraus keine neuen Erkenntnisse für den hier zu beurteilenden Fall. Danach werde das aromatische Amin o-Toluidin jetzt als krebserzeugend der Kategorie K1 eingestuft. Dieses Amin sei wie das 2-Naphthylamin als Verunreinigung in Teerprodukten enthalten, aber auch wie dieses oxidationsempfindlich, so dass es in Altteer nicht mehr nachgewiesen werden konnte. Für den Kläger sei weiterhin kein konkreter Kontakt zu frischem Teer nachgewiesen, so dass für ihn auch eine Exposition zu o-Toluidin auszuschließen sei. In diesem Zusammenhang habe man in der Stellungnahme der TBG vom 04.04.2001 schon dargelegt, dass bereits seit 1970 Mischgut auf Bitumenbasis eingesetzt wurde und deshalb eine Exposition durch aromatische Amine auszuschließen sei, da in Bitumen keine aromatischen Amine enthalten seien, so dass auch an Teermaschinen anbackender Asphalt bereits bituminös gewesen sei.

 

Gestützt auf diese Stellungnahme lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15.12.2011 eine Rücknahme des Bescheides vom 10.08.2001 ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.02.2012 als unbegründet zurück.

 

Hiergegen erhob der Kläger am 22.03.2012 Klage vor dem SG Aachen (Az.: S 10 U 77/12) und führte zur Begründung aus, er habe konkreten Kontakt zu frischem Teer und zu kontaminierten Schmierfetten gehabt.

 

Das Sozialgericht holte ein arbeits- und sozialmedizinisches Gutachten von Dr. W. der in seinem Gutachten vom 30.07.2013 zunächst die Auffassung vertrat, Ende des letzten Jahrzehnts hätten sich neue Erkenntnisse ergeben, welche belegten, dass Schmierfette und verschiedene technische Öle in den ersten zwei Jahrzehnten des Arbeitslebens des Klägers Antioxidantien auf dem Boden krebserzeugender aromatischer Amine enthielten.

 

Hierzu legte die Beklagte eine Stellungnahme des Dipl.-Chem. O. vom 18.10.2013 nebst einem Aufsatz aus der Zeitschrift “Gefahrstoffe-Reinhaltung Luft“ (73/2013 Nr. 5) von Dr. Lichtenstein et al. vor und führte aus, dass eine generelle Exposition gegenüber 2-Naphthylamin bei der ungeschützten Bearbeitung (dermale Exposition) von Schmierfetten in der Vergangenheit nicht angenommen werden könne.

 

In seinen ergänzenden Stellungnahmen vom 09.11.2013 und 24.01.2014 nahm Dr. W. von seiner diesbezüglichen Beurteilung Abstand und führte aus, er habe unter Berücksichtigung des BK-Reports 2/2011 „Aromatische Amine“ zunächst eine Exposition gegenüber aromatischen Aminen, insbesondere Phenyl-2-Naphthylamin angenommen und deshalb den Kausalzusammenhang einer BK 1301 bejaht. Der BK-Report habe nämlich annehmen lassen, dass Phenyl-2-Naphthylamin in den 70er und 80er Jahren Bestandteil von Kühlschmierfetten gewesen sei, sodass eine Exposition gegenüber aromatischen Aminen, welche gut hautresorptiv seien, in relevantem Maße angenommen wurde. Zwischenzeitlich seien Fettproben aus den 70er und 80er Jahren aus den neuen und alten Bundesländern von Dr. Lichtenstein und seinen Co-Autoren (2013) untersucht worden. Die Ergebnisse hätten gezeigt, dass naphthylaminhaltige Schmierfette nur in DDR-Produkten der Fa. Ceritol gefunden worden seien. In den alten Bundesländern seien keine Antioxidantien auf der Basis von aromatischen Aminen gefunden worden. Leider habe sich die Untersuchung durch Dr. Lichtenstein et al. mit seiner Gutachtenerstattung überschnitten, sodass die Ergebnisse in seinem Gutachten noch nicht berücksichtigt worden seien. Selbst wenn die Schmierfette, mit denen der Kläger Kontakt hatte, gering durch aromatische Amine verunreinigt gewesen sein sollten (in einer Größenordnung von 0,05 mg/kg), sei dies nicht ausreichend für die Annahme einer haftungsbegründenden Kausalität einer BK 1301; denn hierzu bedürfe es einer höheren Exposition. Die resorbierte Menge sollte zumindest im Milligrammbereich liegen. Eine solche sei bei ausschließlich dermaler Exposition, wenn auch über Jahre, und unter Berücksichtigung des Tätigkeitsprofils des Klägers nicht schlüssig.

 

Der Kläger wandte hiergegen ein, es könne nicht festgestellt werden, dass es sich bei der Festschrift, auf die Dr. W. Bezug genommen habe, um eine amtliche Studie oder eine repräsentative wissenschaftliche Arbeit handele. Im Übrigen beziehe sich diese Festschrift auf Fettproben aus den 70er und 80er Jahren; bei ihm seien aber Belastungen ab dem Jahre 1963, in dem er seine Lehre aufgenommen habe, zu berücksichtigen, die deutlich höher gewesen seien.

 

In einer weiteren Stellungnahme vom 24.01.2014 wies Dr. W. darauf hin, die Problematik krebserzeugender Amine in Schmierstoffen sei Gegenstand aktueller Forschungen. Bei der gegenwärtigen Datenlage könne aber der Vollbeweis einer ausreichend hohen und lang dauernden Exposition des Klägers gegenüber aromatischen Aminen nicht geführt werden.

 

Auf Antrag des Klägers holte das SG schließlich nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein arbeitsmedizinisches Gutachten von Prof. Dr. HX., Direktor des Instituts für Prävention und Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IPA), ein. Prof. Dr. HX. gelangte in seinem Gutachten vom 15.09.2014 zu dem Ergebnis, ein Zusammenhang zwischen den beruflichen Belastungen des Klägers und der bei ihm vorliegenden Harnblasenkrebserkrankung könne nicht wahrscheinlich gemacht werden. Den Vorgutachten der Prof. M. und FY. und des Dr. W. stimme er zu. Gemäß den Beschreibungen des Klägers habe er als Kfz-Mechaniker bzw. Lkw- und Baumaschinenschlosser zwischen 1964 und 1999 (mit Unterbrechungen durch den Wehrdienst 1969 bis 1970 und 1980 bis 1984 in einer Reparaturlackiererei) regelmäßig Umgang mit Schmierfetten gehabt. Dabei sei es zu dermalen Kontakten vornehmlich an den Händen, teilweise auch an den oberen Extremitäten bis zu den Oberarmen gekommen. Aufgrund der Publikation zur Verunreinigung von Staufferfetten mit aromatischen Aminen (Lichtenstein et al. 2013) sei nach derzeitigem Kenntnisstand fraglich, ob Fetten und Ölen aus westdeutscher Produktion N-Phenyl-2-Naphthylamin zugesetzt gewesen sei. Bei den vom Kläger beschriebenen Tätigkeiten „Instandhaltung und Reparaturen von Baumaschinen bei mehreren Tiefbauunternehmen ab 1971“ und der Reparatur von Teerkochern sowie der Entfernung von „Verschmutzungen“ an Fahrzeugen, Baumaschinen und „Teerkochern“ von Tiefbauunternehmen 1978-1980 sei von einer Exposition des Klägers durch aromatische Amine auszugehen. Die Verwendung von reinem Straßenteerpech, in dem aromatische Amine nachgewiesen werden konnten, habe zwar praktisch Ende der sechziger Jahre geendet. Allerdings habe noch bis etwa Mitte der siebziger Jahre sogenanntes Carbobitumen, eine Mischung aus ca. 75-80 % Bitumen und 25-30 % Straßenteerpech, anteilig Verwendung im Straßenbau gefunden. Die Gesamtbelastungsdosis sei aber selbst bei einer worst-case Annahme zu gering, um von einem Zusammenhang zwischen dieser Belastung und dem beim Kläger vorliegenden Harnblasenkrebs auszugehen.

 

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 15.12.2014 erneut umfangreiche Ausführungen zu seinen beruflichen Tätigkeiten und Schadstoffbelastungen gemacht und hierfür Zeugenbeweis angeboten. Prof. Dr. HX. habe den Umfang der stattgehabten Exposition in Bezug auf krebserzeugende Gefahrstoffe nicht ausreichend berücksichtigt. Das Gutachten enthalte auch keinerlei Ausführungen zu den Belastungen durch Dieselabgase. Weitere Ermittlungen seien angezeigt.

 

Mit Urteil vom 28.01.2015 hat das SG die Klage abgewiesen. Im Rahmen des sich anschließenden Berufungsverfahrens ( LSG NRW Az.: L 17 U 177/16) holte der dortige Senat eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. W. ein vom 05.05.2015, der ausführte, aus dem lange zurückliegenden Zeitraum lägen kaum Daten vor, welche im konkreten Fall die Quantität der Exposition gegenüber aromatischen Aminen einigermaßen nachhalten ließen. Im Übrigen wies er darauf hin, dass die Arbeit von Lichtenstein et al. in die neueste Auflage des BK-Reports „Aromatische Amine 2014“ eingearbeitet worden sei.

 

In seiner daraufhin eingeholten Stellungnahme vom 02.09.2015 führte Prof. Dr. HX. aus, auch aus den neuen Angaben des Klägers ergäben sich hinsichtlich der Qualität und Quantität beruflich bedingter Expositionen keine neuen Erkenntnisse. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den beruflichen Tätigkeiten, dem Umgang mit aromatischen Aminen und der aufgetretenen Harnblasenerkrankung könne nicht begründet werden. Bezüglich des auch für Fette eingesetzten Alterungsschutzmittels N-Phenyl-2-Naphthylamin und seiner Verunreinigung mit dem humankanzerogenen aromatischen Amin 2-Naphthylamin gebe es keine Hinweise darauf, dass entsprechenden Fetten aus westdeutscher Produktion N-Phenyl-2-Naphthylamin oder 2-Naphthylamin zugesetzt gewesen sei. Der Vollbeweis einer entsprechenden Exposition stehe somit aus. Bezüglich der Rückstände von Asphalt auf Basis von Carbobitumen, wobei das im Carbobitumen enthaltene Straßenteerpech die humankanzerogenen aromatischen Amine 2-Naphthylamin, 4-Aminobiphenyl und o-Toluidin enthalten habe, sei auch unter Berücksichtigung der Angaben des Klägers und bei Annahme von worst-case Bedingungen davon auszugehen, dass bei Reparaturarbeiten an carbobitumen-verschmutzten Fahrzeugen, Baumaschinen und Baugeräten die Summe an inhalativer, dermaler und oraler Aufnahme keinen relevanten Ursachenbeitrag für die Entstehung der Harnblasenkrebserkrankung geleistet habe. Eine Exposition gegenüber Dämpfen und Aerosolen aus Steinkohlenteerpech bei der Reparatur von „Teerkochern“ und anderen „teerbehafteten“ Maschinen sei in dem streitgegenständlichen Zeitraum von Mai 1978 bis April 1981 unwahrscheinlich. Denn ab Mitte der 70er Jahre sei kein Asphalt mit teerhaltigem Bindemittel mehr verarbeitet worden. Auch im Baubereich seien ab dieser Zeit z.B. von Dachdeckern und Bauwerksisolierern eingesetzte Materialien, wie Dachbahnen, auf Bitumenbasis verarbeitet worden, das keine humankanzerogenen aromatischen Amine enthalte. Etwas anderes ergäbe sich auch nicht, wenn die - nach Angaben des Klägers mehr als zehn Jahre nicht benutzten und dann wieder instandgesetzten Baustellenfahrzeuge - noch mit Bindemittel auf Basis von Steinkohlenteer belastet gewesen sein sollten. Denn diese Asphaltrückstände enthielten nach so langer Zeit keine relevanten Mengen an aromatischen Aminen mehr, da sich diese mit der Zeit abbauten/zersetzten. Der Kläger sei auch keiner relevanten Exposition gegenüber Kokereigasen, die humankanzerogene aromatische Amine enthielten, ausgesetzt gewesen. Eine entsprechende Exposition bestehe nämlich vornehmlich auf der oberen Decke von Kokereien. Dort sei der Kläger nach Aktenlage nicht tätig gewesen. Es sei auch nicht bekannt, dass Hydrauliköle relevante Mengen an humankanzerogenen aromatischen Aminen enthielten oder Hydraulikölen Stoffe zugesetzt waren, die humankanzerogene aromatische Amine in relevanten Mengen freisetzen könnten. o-Anisidin sei ein krebserregendes aromatisches Amin, es sei jedoch nicht bekannt, dass dieses bei Menschen Harnblasenkrebserkrankungen auslösen könne. Seit Anfang der siebziger Jahre seien Tönpasten auf der Basis von Azofarbmitteln im Handel. Diese fänden aber überwiegend Anwendung in leuchtenden Farben, z.B. bei Rettungsfahrzeugen; sie machten nach Herstellerangaben ca. ein Prozent der infrage kommenden Pigmente aus. Im Übrigen seien die dafür verwendeten Azopigmente in Wasser unlöslich und somit nicht bioverfügbar. Chrom VI- und nickelhaltige Schweißrauche seien zwar humankanzerogen; es sei jedoch nicht bekannt, dass diese beim Menschen Harnblasenkrebs auslösen können. Die Belastung durch Dieselabgase bzw. Dieselruß und zähle nicht zu den Noxen, die unter die BK 1301 fallen.

 

Der Kläger kritisierte das Gutachten und verwies auf eine Dose mit Staufferfett, die er auf dem früheren Betriebsgelände der Fa. PL P. gefunden habe. Deren Inhalt müsse auf das Vorliegen von aromatischen Aminen untersucht werden.

 

Prof. Dr. HX. führte in einer weiteren Stellungnahme vom 25.01.2017 zusammenfassend darauf hin, dass sich durch die Angaben des Klägers hinsichtlich der Qualität und Quantität beruflich bedingter Expositionen keine neuen Erkenntnisse ergäben. Ein ursächlicher Zusammenhang könne auch dann nicht wahrscheinlich gemacht werden, wenn man davon ausginge, dass das bei der Fa. PL P. vom Kläger verarbeitete Schmierfett N-Phenyl-2-Naphthylamin als Oxidationsinhibitor enthalten habe, sodass eine Analyse des vom Kläger beigebrachten Schmierfettes nicht als zielführend zu erachten sei.

 

Mit Urteil vom 20.12.2017 wies das LSG NRW die Berufung des Klägers zurück. Auf den Inhalt des den Beteiligten bekannten Urteils (Blatt 425-446 Verwaltungsakte) wird Bezug genommen.

 

Mit Schriftsatz vom 08.10.2019 stellte der Kläger einen weiteren Überprüfungsantrag und verwies auf ein Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 02.04.2019 L 3 U 48/13; hier sei bei einem KFZ Mechaniker eine BK 1301 anerkannt worden.

 

Mit Bescheid vom 17.10.2019 lehnte die Beklagte eine Rücknahme der bisherigen bindenden Bescheide ab. Auf der Grundlage einer weiteren Stellungnahme des Dipl.Chem. O. vom 02.12.2019 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.12.2019 den Rechtsbehelf des Klägers zurück.

 

Hiergegen hat der Kläger am 13.01.2020 Klage bei dem Sozialgericht Aachen (SG) erhoben und sein Begehren weiterverfolgt.

 

Mit Gerichtsbescheid vom 10.03.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

 

Gegen den am 08.04.2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 20.04.2020 Berufung eingelegt und sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft. Ergänzend hat er in der mündlichen Verhandlung erklärt, sämtliche Zeugen aus seinem bisherigen Berufsleben seien zwischenzeitlich verstorben. Die Dose mit dem Staufferfett sei bei einem Umzug verloren gegangen.

 

Der Kläger beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 10.03.2020 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.10.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2019 zu verurteilen, unter Rücknahme des Bescheides vom 15.12.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2012 sowie des Bescheides vom 09.08.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.02.2002 das Harnblasenkarzinom als Berufskrankheit nach Nummer 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Senat hat auf Antrag des Klägers ein Gutachten vom 23.09.2021 bei Dr. rer.nat.Dr.med OL. eingeholt, der die Auffassung vertreten hat: Bei den Tätigkeiten des Klägers sei ein Kontakt mit Teer und Asphaltanbackungen, die von alten Fahrzeugen entfernt worden seien, anzunehmen. Hier sei ein geringer Kontakt mit 2-Naphthylamin möglich. Einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung der vorliegenden Harnblasenkrebserkrankung habe diese Einwirkung sicher nicht gehabt. Der Kläger habe bei seinen Tätigkeiten häufig mit Schmierstoffen, sog. Staufferfetten gearbeitet. Diesen seien jedenfalls bei Produkten aus ostdeutscher Herstellung als Alterungs/Oxidationsschutzmittel und oder als Verunreinigung 2-Naphthylamin zugesetzt gewesen. Dass dies bei Stauferfetten westdeutscher Produktion nach den vorliegenden Studien nicht der Fall gewesen sein soll, erscheine ihm fragwürdig. Soweit in alten Proben keine solchen Stoff gefunden worden seien, müsse man davon ausgehen, dass diese sich im Laufe der Jahre zersetzt hätten. Eine BK 1301 könne in jedem Fall begründet werden, wenn der Nachweis erbracht werden könne, dass dem Staufferfett aus westdeutscher Produktion entgegen den Feststellung von Lichtenstein et.al.auch Antioxidantien und damit schwerpunktmäßig Beta-Naphthylamin zugesetzt worden sei.

 

Die Beklagte ist dem Gutachten unter Vorlage einer zusammenfassenden Stellungnahme von Dipl.Chem. Dr. O. vom 03.02.2022 entgegengetreten. Auch nach neueren Untersuchungen sei davon auszugehen, dass Schmierfette/Stauferfette in den alten Bundesländern keine aromatische Amine als Antioxidantien enthalten haben.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten  und Verwaltungsakten der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die gemäß § 151 SGG statthafte und nach §§ 143, 144 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

 

Das Sozialgericht hat die - auf die Aufhebung der angefochtenen Bescheide vom 17.09.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2019 und Anerkennung der BK 1301 gerichtete, zulässige kombinierten Anfechtungs-und Verpflichtungsklage (§§ 54 Abs. 1  Nr.1,56 SGG) zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK 1301 der Anlage 1 der BKV unter Aufhebung der in der Vergangenheit erlassenen entsprechenden Ablehnungsbescheide gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.

 

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.

 

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der bindende Bescheid vom 09.08.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.02.2002 ist nicht rechtswidrig, da bei dem Kläger keine BK 1301 vorlag. Damit entspricht auch der bindende Bescheid vom 15.12.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2012, mit dem die Beklagte eine Rücknahme nach § 44 SGB X abgelehnt hatte, der Sach- und Rechtslage. Der Senat nimmt zunächst Bezug auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sowie die Entscheidungsgründe des zwischen den Beteiligten ergangenen Urteils des LSG NRW vom 20.12.2017 (L 17 U 177/15) und macht sich diese nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage zu eigen.

 

Neue Erkenntnisse, die belegen könnten, dass die Beklagte von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist oder das Recht unrichtig angewandt hat, liegen nicht vor. Eine BK 1301 ist weiterhin nicht zu begründen.

 

Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Berufskrankheiten nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Rechtsprechung ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" i.S. des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Hinsichtlich der Einwirkungskausalität bedeutet dies, dass die als tatbestandliche Voraussetzung im Verordnungstext formulierten Anforderungen an die betreffende Einwirkung (sogenannte arbeitstechnischen Voraussetzungen) erfüllt sein müssen.

 

Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit. Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall) (siehe zum Ganzen zusammenfassen BSG, Urt. v. 27.06.2017 - B 2 U 17/15 R -, juris Rn. 13 m.w.N.;

 

Die haftungsbegründende Kausalität ist in zwei Stufen zu prüfen. Auf einer ersten Prüfungsstufe ist zu fragen, ob die Einwirkungen eine naturwissenschaftlich-philosophische Bedingung für den Eintritt der Krankheit sind. Dabei ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nach den einschlägigen Erfahrungssätzen nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Wenn festzustellen ist, dass der Versicherungsfall eine (von möglicherweise vielen) Bedingungen für den Erfolg ist, ist auf der ersten Prüfungsstufe weiter zu fragen, ob es für den Eintritt des Erfolgs noch andere Ursachen i.S. der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie gibt; das können Bedingungen aus dem nicht versicherten Lebensbereich wie z.B. Vorerkrankungen, Anlagen, nicht versicherte Betätigungen oder Verhaltensweisen sein. Erst wenn sowohl die Einwirkungen als auch andere Umstände als Ursachen des Gesundheitsschadens feststehen, ist auf einer zweiten Prüfungsstufe rechtlich wertend zu entscheiden, welche der positiv festzustellenden adäquaten Ursachen für die Gesundheitsstörung die rechtlich "Wesentliche" ist (zum Ganzen BSG, Urt. v. 15.05.2012 - B 2 U 31/11 R -, juris Rn. 27 m.w.N.).

 

Bezogen auf die zu prüfende haftungsbegründenden Kausalität ist bei Berufskrankheiten, die wie die BK 1301 im Verordnungstext keine numerische Einwirkungsgröße der betreffenden Noxe, also keinen Schwellenwert enthalten, aufgrund wissenschaftlicher Erfahrungssätze die Entstehung der Krankheit im Kontext der Dauer, der Intensität, der Häufigkeit und der Art und Weise der Einwirkung zu beurteilen (vgl. BSG, Urteil vom 29.11.2011- B 2 U 26/10 R). Der Tatbestand der BK 1301 verlangt die Einwirkung humankarzinogener aromatischer Amine, deren Vorliegen im Vollbeweis gesichert werden muss (vgl. LSG NRW, Urt. vom 19.02.2019 - L 15 U 425/16). Es handelt sich hierbei nach den vorliegenden gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen (vgl. das aktualisierte Merkblatt und die aktualisierten Stellungnahmen) um 2-Naphthylamin, 4- Aminobiphenyl, Benzidin, 4-Chlor-o-Toluidin und o-Toluidin, die bekanntermaßen krebserzeugend auf das Zielorgan Harnblase wirken können.

 

Bei Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben liegen die Voraussetzungen für eine Anerkennung einer BK 1301 weiterhin nicht vor.

 

Neue Erkenntnisse, aus denen eine qualifizierbare und quantifizierbare Exposition gegenüber solchen Stoffen abgeleitet werden und die im Rahmen des § 44 SGB X Gegenstand einer neuen Kausalitätsbeurteilung sein könnten, liegen nicht vor. Der Hinweis des Klägers auf das Urteil des Hess. LSG ist hierbei nicht zielführend; es handelt sich um eine Beweiswürdigung im Einzelfall, die nicht auf den Kläger übertragen werden kann.

 

Der Kläger und der nach § 109 SGG gehörte SV Dr. Dr. OL. thematisieren im Wesentlichen ihre These, dass die Schmierfette/Staufferfette, mit denen der Kläger als Kraftfahrzeugmechaniker bei der Reparatur und Wartung von Kfz und Baufahrzeugen - was der Senat unterstellt - Kontakt hatte, entgegen der Auffassung von Dr. W., Prof. Dr. HX. und Dipl.Chem.O. doch mit 2-Naphthylamin verunreinigt gewesen sein müssten.

 

Hierfür fehlt jede Grundlage, insbesondere erweisen sich die Überlegungen von Dr.Dr. OL. als spekulativ.  Wie schon Prof. Dr. HX. vom 02.09.2015 dargelegt und Dipl Chem. O. vom 03.02.2022 nochmals zusammenfassend herausgearbeitet hat, kann eine Einwirkung von 2-Naphthylamin im Zusammenhang mit der Einfärbung von Schmierfetten, wie sie in Westdeutschland hergestellt wurden und Verwendung fanden, nicht gesichert werden. Die Studie von Lichtenstein et al aus dem Jahr 2013, die ab 2014 Eingang in den (jeweils) aktuellen BK-Report „Aromatische Amine“ gefunden hat, spiegelt nach wie vor den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu der Zusammensetzung von Schmierfetten an vergleichbaren Arbeitsplätzen wieder. Dabei ist dem aktuellen BK Report „Aromatische Amine 1/2019“ (Seite 134) zu entnehmen, dass die Rezepturen speziell von Staufferfetten und die darin u.U. eingebrachten Farbstoffe nicht bekannt sind. Hinsichtlich der sonstigen Schmierfette wird weiterhin unter Bezugnahme auf Lichtenstein et.al ausgeführt, dass Einwirkungen durch krebserzeugende aromatische Amine bei Tätigkeiten mit Schmierfetten in den alten Bundesländern nicht wahrscheinlich zu machen sind. Andere oder neuere Erkenntnisse dazu liegen dem Senat nicht vor und sind nicht ersichtlich. Ob eine Analyse der ursprünglich im Besitz des Klägers befindliche Dose mit Staufferfett demgegenüber zum Vollbeweis einer Exposition gegenüber aromatischen Aminen im Sinne der BK 1301 geeignet wäre, bedarf keiner näheren Erörterung. Die Dose nebst Inhalt steht nicht mehr zur Verfügung und kann daher als Beweismittel ohnehin nicht herangezogen werden. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich die konkrete Einwirkung humankanzerogener aromatischer Amine auf den Kläger im Vollbeweis gesichert sein müsste, was streng genommen nur durch Analyse der Produkte, mit denen der Kläger in Kontakte getreten ist, gelingen könnte. Eine allgemeingültige Annahme, dass die betreffenden Fette entsprechende aromatische Amine enthalten haben, ist aufgrund der Studie von Lichtenstein et al. nicht mehr möglich. Dafür, dass im Einzelfall des Klägers doch mit Verunreinigungen durch humankanzerogene aromatische Aminen versehene Produkt zum Einsatz gekommen sind, ist nichts ersichtlich. Insoweit fehlt jeglicher Ermittlungsansatz. Im Übrigen hält auch Dr. Dr. OL. den Vollbeweis der Einwirkung humankanzerogener aromatischer Amine beim Kläger für nicht erbracht. Er meint lediglich, dass noch weitere Forschungen angebracht seien. Solche Forschungen sind jedoch nicht im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens durchzuführen. Im Rahmen von § 103 SGG ist nur der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand zu ermitteln und anzuwenden.

 

Hinsichtlich des im vorangegangenen Verfahren vertieften Vortrags des Klägers, er habe Asphalte abgefräst und teerhaltige Anbackungen an Baufahrzeugen entfernt, verweist der Senat auf die Stellungnahme von Dipl.Chem O. vom 02.12.2019, der den Fall des Klägers von Anfang an begleitet hat. Danach ist es zweifelhaft, ob alte Teerasphalte, wie sie bis Mitte der 60er Jahre eingesetzt wurden, überhaupt aromatische Amine enthielten und ob sie beim Entfernen zu einer einatembaren oder dermalen Belastung führten. Bitumenasphalt und auch Unterbodenschutzmittel jedenfalls enthielt keine relevanten aromatischen Amine.  Wie schon Prof. Dr. HX. konstatiert allerdings auch Dr. Dr. OL., dass selbst bei Unterstellen eines Kontakts mit diesen alten Teeranhaftungen ein relevanter Kausalitätsbeitrag für die Entstehung der Erkrankung nicht anzunehmen ist.  In Anbetracht des Umstandes, dass sich die genaue Zusammensetzung der Asphalte und der konkreten „Anbackungen“ an den Fahrzeugen nicht mehr klären lässt, vermag der Senat im Kontext des § 44 SGB X keine neuen Erkenntnisse zu gewinnen, aus denen sich eine Unrichtigkeit der bisherigen Beurteilung der Sach- und Rechtslage ableiten ließe.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Senat weist vorsorglich darauf hin, dass in Anbetracht der umfassenden erfolgten Aufklärungsmaßnahmen ein weiterer Überprüfungsantrag ohne substantiierte Darlegung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse als von vornherein aussichtslos anzusehen ist. Im Falle eines erneuten sozialgerichtlichen Verfahrens muss der Kläger deshalb mit der Auferlegung von Kosten nach § 192 SGG rechnen.

 

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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