Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 30.03.2021 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung einer Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der Kläger wurde am 00.00.1988 im Kosovo geboren und reiste 1989 gemeinsam mit seinen leiblichen Eltern, K. und E. O., sowie seinen sieben Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Bis Juni 2004 lebte er bei seinen leiblichen Eltern im Landkreis G.. Seit seinem 13. Lebensjahr war der Kläger mehrfach straffällig geworden, weswegen er ab Anfang 2004 auf Initiative der Jugendgerichtshilfe von seiner späteren Pflege- bzw. Adoptivmutter Y. L. als Erziehungsbeistand betreut wurde. Nach seiner Inobhutnahme am 10.06.2004 lebte er zunächst bei seinen Pflege- bzw. Adoptiveltern. Der Kläger verfügt über einen Hauptschulabschluss sowie eine abgeschlossene Ausbildung als Lagerhelfer.
Der leibliche Vater des Klägers wurde durch Urteil des Amtsgerichts Calw vom 29.08.2002 wegen mehrfacher Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil seiner Tochter J. O. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Ein im Jahr 2005 aufgrund einer Strafanzeige des Jugendamtes G. bei der Staatsanwaltschaft (StA) Tübingen geführtes Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung und körperlicher Misshandlung zum Nachteil des Klägers (15 Js 6090/05) wurde nach § 170 Strafprozessordnung (StPO) eingestellt, da der Kläger nicht zu einer richterlichen Vernehmung bereit war. Das sodann im Februar 2014 aufgrund einer Strafanzeige der Pflegemutter des Klägers von der StA Tübingen eingeleitete erneute Ermittlungsverfahren gegen die leiblichen Eltern wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen (47 Js 9712/14) wurde ebenfalls gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Zwar bestünden keine Zweifel daran, dass der Kläger in einem äußerst gewaltgeprägten, ihn erniedrigenden Umfeld aufgewachsen sei und (massive) körperliche Übergriffe zu seinem Nachteil durch seinen Vater begangen worden seien. Einzelne identifizierbare Taten könnten jedoch nicht (mehr) festgestellt werden, sodass dem beschuldigten Vater mangels hinreichender Präzisierung ein strafbares Verhalten nicht mit einer ausreichenden Verurteilungswahrscheinlichkeit nachgewiesen werden könne. Dies gelte umso mehr für die gegen die Mutter pauschal erhobenen Vorwürfe der „Unterstützung“ oder „Förderung“ der Handlungen des Vaters.
Am 06.02.2014 beantragte der Kläger bei dem damals zuständigen Landratsamt G. die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG wegen Misshandlungen durch seine leiblichen Eltern. Als Folge dieser Misshandlungen leide er unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Dem Antrag waren u.a. eine vom Kläger erstellte Auflistung der Misshandlungen bis zum 16. Lebensjahr sowie umfangreiche ärztliche Unterlagen und Gutachten beigefügt.
Mit Bescheid vom 03.02.2015 lehnte das Landratsamt G. den Antrag ab. Es fehle am Nachweis des schädigenden Vorgangs als Grundvoraussetzung für eine Versorgung nach dem OEG, weshalb der Antrag wegen objektiver Beweislosigkeit abzulehnen sei.
Der dagegen mit Schreiben vom 07.02.2015 eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Landes Baden-Württemberg vom 15.04.2015 zurückgewiesen.
Dagegen hat der Kläger am 15.05.2015 Klage zum Sozialgericht (SG) Köln erhoben. Er leide aufgrund der schweren, jahrelang andauernden Misshandlungen durch die leiblichen Eltern an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und einer daraus resultierenden dissoziativen Störung. Er habe nicht nur über Jahre hinweg Misshandlungen erfahren müssen sondern sei auch Zeuge der Misshandlungen an seinen Geschwistern gewesen.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 03.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.04.2015 zu verurteilen, ihm ab Antragstellung Beschädigtenrente nach dem OEG in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das SG hat den Kläger im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 10.11.2016 zum Sachverhalt befragt. Dieser hat umfangreiche Angaben zu den geltend gemachten Misshandlungen gemacht. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen. Die Geschwister des Klägers haben von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Die leiblichen Eltern des Klägers, die im Wege der Rechtshilfe am 23.11.2018 beim SG Karlsruhe befragt wurden, haben die gegen sie erhobenen Vorwürfe bestritten. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Das SG hat sodann Unterlagen der behandelnden Ärzte beigezogen und im Anschluss nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben durch Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens der Psychologin N. V.. Diese ist nach Begutachtung des Klägers am 25.05.2020 zu der Einschätzung gelangt, dass die Angaben des Klägers über Misshandlungen durch seinen leiblichen Vater aus aussagepsychologischer Sicht als erlebnisbasiert angesehen werden können (Gutachten vom 10.07.2020).
Sodann hat das SG nach § 106 SGG weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. I.. Dieser hat nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 13.11.2020 Restsymptome bei Zustand nach komplexer posttraumatischer Belastungsstörung diagnostiziert und einen Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 20 festgestellt (Gutachten vom 13.11.2020).
Der Kläger hat umfangreiche Einwendungen gegen das Gutachten erhoben, denen der Sachverständige Dr. I. in einer ergänzenden Stellungnahme vom 25.01.2021 entgegengetreten ist.
Mit Urteil vom 30.03.2021 hat das SG die Klage gestützt auf die Feststellungen des Sachverständigen Dr. I. abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Gewährung einer Beschädigtenrente. Zwar habe er Gewalttaten zu seinem Nachteil durch seine Eltern glaubhaft gemacht. Auch seien bei ihm vorliegende Gesundheitsstörungen in Form von Restsymptomen bei Zustand nach komplexer posttraumatischer Belastungsstörung auf diese Misshandlungen zurückzuführen. Das Ausmaß der gesundheitlichen Beeinträchtigungen bedinge jedoch keinen rentenberechtigenden GdS.
Gegen das seiner Prozessbevollmächtigten am 28.04.2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 19.05.2021 Berufung eingelegt.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Köln vom 30.03.2021 und des Bescheids vom 03.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.04.2015 zu verurteilen, dem Kläger Beschädigtenrente nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG i.V.m. § 31 Abs. 1 BVG nach einem GdS von 30 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Auf Antrag des Klägers hat der Senat nach § 109 SGG Beweis erhoben durch Einholung eines psychosomatisch-psychotraumatologischen Gutachtens des Facharztes für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Allgemeinmedizin Privatdozent (PD) Dr. Dr. B.. Dieser hat nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 20.01.2022 eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert und einen GdS von 30 festgestellt. Er stimme durchaus mit Dr. I. überein, dass sich wahrscheinlich die Intensität der intrusiven Wiedererlebenssymptome in den letzten Jahren durch die psychotherapeutische Behandlung reduziert habe und dies zu einer verbesserten Stabilität und Alltagstauglichkeit beigetragen habe. Nach seiner Einschätzung liege aber weiterhin eine ausgeprägte Beeinträchtigung vor, weswegen er zu einer abweichenden Bewertung beim GdS komme (Gutachten vom 30.01.2022).
Der Senat hat ergänzende Stellungnahmen von PD Dr. Dr. B. (20.02.2022) sowie von Dr. I. (21.02.2022 und 21.03.2022) eingeholt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 25.11.2022 hat der Senat die Sachverständigen Dr. I. und PD Dr. Dr. B. ergänzend befragt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Weiterer Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger ist durch den Bescheid vom 03.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.04.2015 nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da er keinen Anspruch auf die Gewährung einer Beschädigtenrente nach dem OEG i.V.m. dem BVG hat.
Richtiger Beklagter ist der Landschaftsverband Rheinland, da nach § 4 Abs. 2 OEG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und des Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetzes 15.04.2020 (BGBl. I S. 811, 812) für die Entschädigung ab dem 01.07.2020 dasjenige Land zuständig ist, in dem die berechtigte Person ihren Wohnsitz hat. Durch den somit kraft Gesetzes eingetretenen Beteiligtenwechsel war das Passivrubrum von Amts wegen zu berichtigen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 18.11.2015 - B 9 V 1/15 R, juris Rn. 14).
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. Grundsätzlich bedürfen diese drei Glieder der Kausalkette des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG die Wahrscheinlichkeit (vgl. etwa BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R, juris Rn. 26, 33). Eine Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht. Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt (BSG, Urteil vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R, juris Rn. 27 m.w.N.). Abweichend vom grundsätzlichen Erfordernis des Vollbeweises des schädigenden Ereignisses sind nach § 6 Abs. 3 OEG i.V.m. § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen (vgl. zu diesem Maßstab zuletzt BSG, Urteil vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R, juris Rn. 28ff.).
Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Landessozialgericht <LSG> Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2021 - L 6 VG 815/20, juris Rn. 55 m.w.N.).
Der Kläger ist bis zu seiner Inobhutnahme im Jahr 2004 durch seinen leiblichen Vater körperlich misshandelt worden und somit Opfer einer vorsätzlichen rechtswidrigen Körperverletzung geworden. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht (mehr) streitig.
Zwar sind die entsprechenden Angaben des Klägers zu den Misshandlungen nicht bewiesen und mangels zur Verfügung stehender Beweismittel auch nicht beweisbar, sie können jedoch nach § 15 KOVVfG zugrunde gelegt werden.
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rn. 3b m.w.N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R, juris, Rn. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a.a.O.).
Die Angaben des Klägers sind nicht durch die Aussage von Tatzeugen bestätigt worden. Seine Geschwister haben von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Seine leiblichen Eltern haben die Taten bestritten. Weitere Tatzeugen, die zu den zu beweisenden Tatsachen, d.h. dem schädigenden Vorgang, aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können, sind weder von dem Kläger benannt noch ersichtlich.
Die Angaben des Klägers zu den vorgebrachten Misshandlungen stellen selbst kein Beweismittel dar (vgl. Keller, a.a.O., § 118 Rn. 8), sie können jedoch nach § 15 Satz 1 KOVVfG zugrunde gelegt werden.
Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind. Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 Satz 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R, juris Rn. 30 m.w.N.).
Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist vorliegend eröffnet, da keine Tatzeugen vorhanden sind bzw. die vorhandenen Zeugen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht und die vermeintlichen Täter die Taten bestritten haben. Die Angaben des Klägers zu den Misshandlungen durch seinen leiblichen Vater sind nach den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen V., denen der Senat folgt, auch als erlebnisbasiert anzusehen.
Der Kläger hat jedoch keinen Anspruch auf Beschädigtenrente.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass bei dem Kläger allenfalls leichte Restsymptome einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung fortbestehen. Dies folgt aus den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. I.. Ausgehend hiervon ist der GdS mit 20 zu bewerten. Ein Anspruch auf Beschädigtenrente ist damit nicht gegeben (§ 31 Abs. 1 BVG).
Nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (im Folgenden: VMG) bedingen leichtere psychovegetative oder psychische Störungen einen Einzel-GdB von 0 bis 20, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen Einzel-GdB von 30 bis 40 und schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen oder schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen Einzel-GdB von 50 und mehr.
Das Vorliegen einer stärker behindernden psychischen Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, für die ein GdS von 30 oder mehr anzusetzen wäre welcher zum Rentenbezug berechtigen würde, kann zur Überzeugung des Senats nicht festgestellt werden.
Anlässlich der Begutachtung durch Dr. I. gab der Kläger als Beschwerden Konzentrationsstörungen, Ängste vor seinem leiblichen Vater und Schlafstörungen an. Traumaspezifische Symptome wie Intrusionen, Flashbacks und Dissoziationen wurden nicht geschildert. Der vom Kläger geschilderte Tagesablauf war klar strukturiert, der Kläger war vollschichtig erwerbstätig und verfügte über ein intaktes soziales Umfeld sowie eine aktive Freizeitgestaltung. Der von Dr. I. erhobene psychopathologische Befund zeigte keine Auffälligkeiten, insbesondere konnten die vom Kläger angegebenen Konzentrationsstörungen nicht objektiviert werden. Nach den Feststellungen des Sachverständigen fanden sich im Rahmen der Begutachtung keine Hinweise auf eine pathologisch vermehrte Ermüdbarkeit, die Auffassungs- und Konzentrationsfähigkeit war durchgehend ausreichend, die Mnestik für kurz- und mittelfristige Ereignisse unauffällig, das Langzeitgedächtnis nicht beeinträchtigt. Auf der Grundlage der von ihm erhobenen Befunde geht Dr. I. nach Ansicht des Senats zutreffend vom Vorliegen einer leichteren psychovegetativen oder psychischen Störung aus und bewertet diese innerhalb des von Teil B Nr. 3.7 VMG vorgegebenen Bewertungsrahmens von 0 bis 20 mit einem GdS von 20. Das Ausmaß einer stärker behindernden psychischen Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit wird nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen im Hinblick auf die Tagesablaufschilderung, den psychopathologischen Befund und die fehlende Behandlung sicher nicht erreicht.
Die Einschätzung des Sachverständigen Dr. I. wird nach Ansicht des Senats auch durch die Angaben in dem aussagepsychologischen Gutachten der Psychologin V. gestützt. So entsprachen die im Rahmen dieser Begutachtung im Mai 2020 gemachten Angaben des Klägers zu seiner Freizeitgestaltung, seinem Freundeskreis sowie seinem Sozialverhalten im Wesentlichen den nachfolgend anlässlich der Begutachtung im November 2020 gegenüber dem Sachverständigen Dr. I. gemachten Angaben. Anhaltspunkte für die vom Kläger vorgetragenen Konzentrationsstörungen finden sich auch in diesem Gutachten nicht. Vielmehr wird ausgeführt, dass der Kläger im Rahmen der dreistündigen Begutachtung die Test- und Prüfverfahren soweit ersichtlich motiviert und konzentriert bearbeitete.
Den Ausführungen des nach § 109 SGG gehörten Sachverständigen PD Dr. Dr. B., wonach eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vorliege, vermag der Senat hingegen nicht zu folgen. Dessen Ausführungen in seinem Gutachten und seiner ergänzenden Stellungnahme sowie im Rahmen des Termins zur mündlichen Verhandlung am 25.11.2022 sind nicht geeignet, Zweifel an den Ausführungen von Dr. I. zu wecken.
Soweit der Kläger anlässlich der Begutachtung bei PD Dr. Dr. B. abweichend von den bei Dr. I. geschilderten Beschwerden neben seinen Schlafstörungen auch von „Träumen“ berichtet hat, die durch „Alltagsereignisse“ getriggert werden, sowie ein „Verhaftetsein“ in Gedankenkreisen, eine starke Vergesslichkeit und ein soziales Rückzugsverhalten geschildert hat, fehlt es an einer detaillierten Auseinandersetzung mit diesen Angaben. Es wird insbesondere nicht dargelegt, welche „Alltagsereignisse“ den Kläger triggern. Darüber hinaus hat sich der Sachverständige nicht ansatzweise damit befasst, den offensichtlichen Widerspruch zu den Angaben bei Frau V. und Dr. I. zu hinterfragen. Anlässlich deren Begutachtungen wurden derartige Beschwerden nicht geschildert und statt eines „sozialen Rückzugs“ noch von einer aktiven Freizeitgestaltung und einem großen Freundes- und Bekanntenkreis („viele Bekannte und zwei enge Freunde“ bzw. „über 100 Leute“) berichtet, mit denen der Kläger sich „mal hier und mal da, in einer Kneipe, zum Grillen, in der Innenstadt, bei Leuten zu Hause oder dergleichen“ treffe. Soweit der Sachverständige nach seinen Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung offenbar der Auffassung ist, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehöre, derartige Widersprüche anzusprechen und zu hinterfragen, geht diese Ansicht fehl. Nach Teil I Ziffer 4.4 der S2k-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen (www.register.awmf.org) ist eine eingehende, explizit und nachvollziehbar dargelegte Beschwerdenvalidierung zwingender Bestandteil jedes Gutachtens. Ihr Kernstück ist eine sorgfältige Plausibilitäts- und Konsistenzprüfung, die, je nach Einzelfall, durch spezifische Verfahren untermauert werden kann. Im Einzelnen ist zu prüfen, ob und inwieweit sich die Informationen aus den verschiedenen verfügbaren Datenquellen (Aktenlage, Exploration, selbst erhobener psychopathologischer Befund, Test- und Fragebogenergebnisse, Medikamentenspiegel, weitere objektive Befunde) als in sich konsistent und plausibel darstellen oder ob unauflösbare Widersprüche verbleiben.
Eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit lässt sich auch nicht aus den anlässlich der Begutachtung durch PD Dr. Dr. B. gemachten - relativ knappen - Angaben zum Tagesablauf begründen: der Kläger verfügte (weiterhin) über einen strukturierten Tagesablauf, war vollschichtig erwerbstätig, machte Musik und verfügte über - wenn auch wenige - soziale Kontakte. Worin die konkreten Beeinträchtigen bestehen, hat PD Dr. Dr. B. - worauf der Sachverständige Dr. I. in seiner Stellungnahme vom 21.02.2022 zutreffend hingewiesen hat - nicht dargelegt. Die Formulierung „sodass relevante Funktionen des Selbst und der Beziehungsfähigkeit bis heute auffällige Beeinträchtigungen aufzeigen“ ist insoweit wenig aussagekräftig. Soweit der Sachverständige ausführt, die Persönlichkeit des Klägers sei wesentlich geprägt durch Selbstwertstörung, fehlendes Selbstvertrauen und Durchhaltevermögen sowie eine Beziehungsstörung steht dies zum Teil in auffälligem Widerspruch zur Aktenlage und den Feststellungen des Sachverständigen Dr. I.. Gegen fehlendes Durchhaltevermögen spricht nach Ansicht des Senats im Übrigen allein schon die Tatsache, dass der Kläger über eine abgeschlossene Ausbildung verfügt und sich trotz zwischenzeitlichen Verlusts von Arbeitsstellen immer wieder um Arbeit bemüht hat und auch vollschichtig erwerbstätig war.
Soweit PD Dr. Dr. B. die Auffassung vertreten hat, dass die Frage der Berufstätigkeit des Klägers oder seine Lebensweise oder Interaktion kein Kriterium für die Bewertung der psychischen Gesundheit sein kann, kann der Senat dem nicht folgen. Maßgeblich für die Beurteilung des Grades der Schädigung sind vor allem die von der festgestellten Gesundheitsstörung hervorgerufenen Funktionsbeeinträchtigungen (vgl. Teil A Nr. 2a VMG). Psychische Anpassungsschwierigkeiten, die einen Behinderungsgrad von 30 bis 40 rechtfertigen, sind durch Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße gekennzeichnet (vgl. Wendler/Schillings, Kommentar zu den VMG, 9. Aufl. 2018, S. 162). Ob diese Kriterien erfüllt sind, beurteilt sich anhand der Beeinträchtigungen im Alltag. Bei einem Kläger, der - wie vorliegend - vollschichtig erwerbstätig ist und über ein intaktes soziales Umfeld sowie eine aktive Freizeitgestaltung verfügt, lässt sich weder eine Kontaktschwäche noch eine Vitalitätseinbuße feststellen.
Schließlich spricht auch der von PD Dr. Dr. B. erhobene - knappe - psychopathologische Befund, wonach sich allenfalls leichte Auffälligkeiten ergaben (leicht gedrückte Stimmung, leicht geminderter Antrieb, leichte Einschränkung der affektiven Schwingungsfähigkeit), gegen das Vorliegen einer höhergradigen psychischen Störung. Soweit PD Dr. Dr. B. ausgeführt hat, dass der Kläger Schwierigkeiten beim Erzählen habe und es Hinweise auf Konzentrationsstörungen gebe, wird dies durch die Feststellungen in den Gutachten von Dr. I. und Frau V. nicht bestätigt. Zudem hat der Sachverständige PD Dr. Dr. B. in seinem Gutachten - einschränkend - ausgeführt, dass die auffälligen Schwierigkeiten bei der Angabe von Jahreszahlen oder beim Versuch, durch Addition von Jahren auf das richtige Datum zu kommen, „weniger als Konzentrationsstörung oder Ausdruck einer anderen Psychopathologie, sondern vielmehr als grenzwertige schulische Ausbildung im mathematischen Bereich“ imponierte.
Gegen das Vorliegen einer stärker behindernden Störung spricht zuletzt auch die fehlende Inanspruchnahme spezifischer Behandlungsoptionen (vgl. zur Relevanz dieses Umstands für die GdB-Bemessung LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2010 - L 8 SB 1549/10, juris Rn. 31; Urteil vom 24.10.2013 - L 6 SB 5267/11, juris Rn. 30). Eine psychotherapeutische Behandlung erfolgte zuletzt in 2018, eine medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka erfolgte zu keinem Zeitpunkt, ebenso wenig eine stationäre oder teilstationäre psychiatrische Behandlung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.