1. Eine leichtfertige Selbstgefährdung des Opfers liegt bereits dann vor, wenn alleine bei Nacht die geschützte Wohnung ohne Not verlassen wird, zumal wenn dabei zu erkennen ist, dass vom Täter eine erhöhte Gefährlichkeit ausgeht; unabhängig ob das Verhalten infolge Notwehr gerechtfertigt war.
2. Das OEG kennt keinen Automatismus dahingehend, dass allein weil ein Handeln in Notwehr erfolgt, dadurch Ansprüche auf Beschädigtenversorgung begründet werden.
Auf die Berufung des Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29. Juli 2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Berufung des Beklagten richtet sich gegen die erstinstanzliche Aufhebung seiner Ablehnung der Gewährung von Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz – OEG) aufgrund des Ereignisses vom 8. Juli 2019 und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung über den Antrag der Klägerin vom 17. September 2019.
Die Klägerin ist 1966 in Italien geboren und im Alter von sieben Jahren nach Deutschland gekommen. Sie ist deutsche Staatsangehörige, geschieden und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Nach dem Realschulabschluss hat sie zunächst keine Berufsausbildung absolviert und später Ausbildungen in der Fußpflege, der Shiatsu-Massage und im Kampfsport gemacht. Beruflich geht sie einer Tätigkeit als medizinische Fußpflegerin nach. Sie bewohnt eine Zwei-Zimmerwohnung im Erdgeschoss und macht in ihrer Freizeit seit über 15 Jahren Karate, geht spazieren, malt und bastelt (vgl. Angaben der Klägerin im Verwaltungs- und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik K1).
Am 17. September 2019 beantragte die Klägerin aufgrund des Ereignisses vom 8. Juli 2019 beim Landratsamt C2 (LRA) Leistung nach dem OEG.
Zum Hergang des Ereignisses am 8. Juli 2019 gab sie einen Zeitungsbericht wieder. Demnach habe sich eine 53-jährige Frau in N1 zur Wehr gesetzt, als sie von einem unbekannten 40-jährigen Mann angegriffen worden sei. Nachdem die Frau gegen 22 Uhr in ihrer Wohnung im Erdgeschoss Geräusche gehört und nachgeschaut habe, habe sie auf ihrer Terrasse einen Mann gesehen, der mit einem Schraubenzieher zunächst auf ihre Pflanzen eingestochen und dann mit dem Werkzeug gegen die Glasscheibe ihrer Terrassentür geschlagen habe. Aus Angst, dass ihre Glasscheibe zu Bruch gehe, habe die Frau die Terrassentür geöffnet und sei mit einem Besenstiel gegen den Mann vorgegangen. Der Mann habe Stichbewegungen in ihre Richtung gemacht und sie am Arm verletzt. Der 53-jährigen sei es gelungen, den Angreifer zu Boden zu bringen. Unterdessen habe er ihr mit einer mitgebrachten Flasche gegen den Kopf geschlagen. Die Frau habe es geschafft, den 40-jährigen auf dem Boden festzuhalten, bis ihr ein Nachbar zu Hilfe gekommen sei. Dieser habe die Polizei verständigt, die den stark alkoholisierten Tatverdächtigen in Gewahrsam genommen habe. Der Tatverdächtige sei am nächsten Tag wieder frei gelassen worden.
Im Weiteren gab die Klägerin an, der Täter sei W1 R1 (im Folgenden: R.) gewesen. Infolge des Ereignisses habe sie eine Stichwunde am Oberarm, eine Kopfverletzung und einen Tinnitus erlitten. Heute leide sie noch an einem Tinnitus, an Schlafstörungen, an Schmerzen, an einer Unruhe und sie habe Angst, dass der Täter wiederkomme, ihr Kopf mache ihr Probleme. In ihrer beruflichen Tätigkeit als Fußpflegerin sei sie aufgrund der Unruhe beeinträchtigt.
Aus dem Behandlungsbrief des Klinikum C1 vom 8. Juli 2019 ließen sich die Diagnosen einer Kopfprellung und einer Stichwunde von ca. 2 cm am linken Oberarm entnehmen. Die Klägerin sei mit dem DRK gekommen. Sie sei bei einem Überfall mit einer Flasche an den Kopf geschlagen und mit einem Schraubenzieher am linken Unterarm (gemeint wohl Oberarm) verletzt worden.
Der Bericht des Kreisklinikum C1 über die wegen einer Schädelprellung und Kopfschmerzen erfolgte Computertomographie (CT) des Schädels am 31. Juli 2019 ergab einen altersentsprechend unauffälligen Befund und keinen Hinweis für eine intrakranielle Blutung.
Das LRA zog die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte bei.
Es wurde gegen R. ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung geführt.
Nach der Strafanzeige und Anzeigenaufnahme habe die Klägerin in einem Mehrfamilienhaus gewohnt und bei sich auf der Terrasse laute Geräusche gehört. Als sie die Terrassentüre geöffnet habe, habe der Beschuldigte etwas zu ihr in russischer Sprache gesagt. Dann habe er mit einem Schraubenzieher mit einer Gesamtlänge von ca. 23 cm in den Blumenkübel gestochen. Die Klägerin habe Angst bekommen, sei in ihre Wohnung gegangen und habe die Terrassentür geschlossen. Dann habe der Beschuldigten mit dem Schraubenzieher gegen die Glasscheibe der Terrassentür geschlagen. Aus Angst, dass diese zu Bruch gehe, habe die Klägerin einen Besen genommen, die Tür geöffnet und sei nochmals hinausgegangen. Daraufhin habe der Beschuldigte mehrfach mit dem Schraubenzieher in Richtung des Oberkörpers der Klägerin gestochen, hierbei sei sie am linken Oberarm getroffen worden und habe dort eine leicht blutende Stichverletzung erlitten. Die Klägerin habe sich mit dem Besen gewehrt und auf den Beschuldigten eingeschlagen, wobei der Besen zu Bruch gegangen sei. Anschließend habe sie den Beschuldigten in Richtung des dort befindlichen Gebüsches zu Fall gebracht. Der Beschuldigte habe plötzlich eine Wodkaflasche (0,7 l) in der Hand gehabt und mit dieser gegen den rechten seitlichen Kopfbereich der Klägerin (die Flasche sei nicht zu Bruch gegangen) geschlagen. Die Klägerin habe dem Beschuldigten die Flasche aus der Hand gerissen und sie fortgeworfen, im Folgenden habe sie den Beschuldigten auf der Wiese fixiert und um Hilfe geschrien. Der Zeuge F1 sei hinzugekommen, habe den Beschuldigten weiter am Boden fixiert und die Polizei verständigt. Später hätte auf der Wiese neben dem Beschuldigten ein weiterer Schraubenzieher gefunden werden können, welcher ihm offensichtlich auch gehört habe.
Ein vor Ort beim Beschuldigten durchgeführter Alkoholtest habe gegen 22.25 Uhr einen Wert von 0,62 mg/l ergeben. Der Beschuldigte habe gebrochen deutsch gesprochen. Der Klägerin sei eine Stichverletzung am linken Oberarm und eine „Beule“ am Kopf, seitlich auf der rechten Seite, zugefügt worden. Beim Beschuldigten hätten Kratzer an der linken Hand, außen und innen, festgestellt werden können. Des Weiteren hätten Hämatome an beiden Oberarmen bestanden; ob diese bei dem Ereignis entstanden oder schon älter gewesen seien, habe nicht festgestellt werden können.
In ihrer Geschädigtenvernehmung gab die Klägerin an, am 8. Juli 2019 nach dem Training und anschließenden Einkaufen gegen 21.30 Uhr nach Hause gekommen zu sein. Sie bewohne eine Zwei-Zimmerwohnung im Erdgeschoss mit einer Terrasse, die auf das freie Feld zeige. Sie habe sich in der Küche befunden, als sie gegen 22 Uhr Geräusche von der Terrasse vernommen habe, auf die sie zunächst nicht besonders geachtet habe, da sie von dort des Öfteren Geräusche vernehme. Kurz danach habe sie einen lauten Schlag gehört, worauf sie den Rollladen der Terrassentür und des Terrassenfensters hochgezogen habe. Auf der Terrasse sei ein Mann gewesen, den sie nicht gekannt habe. Sie habe die Tür aufgemacht, um ihn zu fragen, was er auf ihrer Terrasse mache. Bereits zu diesem Zeitpunkt habe sie erkennen können, dass dieser in der rechten Hand einen roten Schraubenzieher gehalten habe. Der Mann habe etwas in einer fremden Sprache, die sie nicht habe verstehen können, geantwortet; er habe sich wütend angehört. Als sie nach draußen gegangen sei, habe sie gesehen, dass der Mann auf ihrem Holztisch etwas gesucht oder sich daran zu schaffen gemacht habe. Dann sei von ihm mit dem Schraubenzieher auf einen Blumentopf eingestochen worden, sie habe nun doch Angst bekommen, sei deshalb zurück in ihrer Wohnung gegangen und habe die Terrassentür geschlossen.
Danach hätten sich die Stiche des Mannes mit dem Schraubenzieher gegen die Terrassentür gerichtet. Sie sei in die Küche gegangen, um etwas zu holen, mit dem sie den Mann habe vertreiben können, und habe einen etwa hüfthohen Besen mit Kunststoffstiel gefunden. Damit sei sie wieder zur Terrassentür gegangen, auf die der Mann auch weiterhin eingestochen habe. Sie habe Angst gehabt, dass diese zu Bruch gehe und der Mann in ihre Wohnung eindringen könnte. In der geöffneten Terrassentür stehend und mit dem Besen drohend, habe sie den Mann aufgefordert zu verschwinden. In diesem Moment habe er mit dem Schraubenzieher gezielt nach ihrem Bauch gestochen. Sie mache seit einigen Jahren Karate und habe dem Stich durch das Einknicken ihres Oberköpers ausweichen können. Um sich zu wehren, habe sie mit dem Besenstiel nach dem Mann geschlagen; der Besenstiel sei schon beim ersten Schlag zu Bruch gegangen. Sie könne nicht mehr sagen, wie und wo sie den Mann getroffen habe; auch wisse sie nicht mehr, ob sie hierbei auf den Mann zugegangen sei. Der Mann habe sie dann gezielt mit dem Schraubenzieher in den linken Oberarm gestochen, worauf sie einen starken Schmerz verspürt habe. Bei dem Versuch, ihm den Schraubenzieher wegzunehmen, habe er immer wieder nach ihr gestochen, habe sie aber nicht mehr getroffen. Sie habe ihn mit beiden Händen an seinen Oberarmen zu fassen bekommen und sei dann bewusst mit ihren Händen nach unten gerutscht, um zu verhindern, dass er mit dem Schraubenzieher weiter nach ihr habe stechen können. Sie habe dann den Mann in Richtung des Gebüsches am anderen Ende der Terrasse gestoßen und sei hierbei zusammen mit ihm ins Gebüsch gefallen. Auf dem Rasen sei es ihr gelungen, ihm den Schraubenzieher zu entwenden. Er sei auf dem Rücken gelegen, sie auf ihm gesessen und habe ihn am Brustkorb auf den Boden gedrückt.
Ihr Nachbar von der Wohnung direkt über ihr sei auf seinem Balkon gestanden und habe offensichtlich das Geschehen verfolgt. Sie habe ihn gebeten, die Polizei zu rufen, worauf dieser verschwunden sei. Dann habe sie nach ihrem Nachbarn J1 gerufen, bei dem Licht gewesen sei. In diesem Moment habe der Mann mit einer Wodkaflasche gegen ihre rechte Kopfhälfte über dem Ohr geschlagen. Trotz starker Schmerzen habe sie ihm die Flasche wegnehmen können, ihn auf den Bauch gedreht und ihn durch das Verdrehen seines Armes fixiert. J1 sei dann gekommen; auf ihre Aufforderung habe er sofort die Polizei gerufen und nach seinem Zurückkommen geholfen, den Mann festzuhalten. Der Mann habe nun angefangen deutsch zu reden, gebeten ihn gehen zu lassen und nicht die Polizei zu rufen. Auf die Frage, was er auf der Terrasse gesucht habe, habe er nicht geantwortet. Gemeinsam mit J1 hätte sie den Mann bis zum Eintreffen der Polizei weiter auf dem Boden mit auf den Rücken verschränkten Armen festgehalten. Dieser habe sich zwar wehren wollen, sie habe ihm aber gesagt, dass es wehtun würde, wenn er sich weiter wehre.
Mit dem Krankenwagen sei sie ins Krankenhaus gebracht und dort ambulant behandelt worden. Die Stichwunde am Oberarm habe genäht werden müssen, am Kopf sei ein ca. 2 x 2 cm großes Hämatom festgestellt worden.
Einen Alkoholgeruch habe sie beim Täter nicht feststellen können, aufgrund seines abnormen Verhaltens aber vermutet, dass er betrunken gewesen sei.
Als Zeuge sagte F3 aus, am 8. Juli 2019 sich in seiner Wohnung aufgehalten und durch seine Terrassentür gehört zu haben, wie jemand schrill, hysterisch und ängstlich seinen Namen rufe. Er dachte, dass dies von seiner Nachbarin, der Klägerin, komme und sei rausgegangen. Diese habe außerhalb ihres Terrassenbereichs auf dem Rasen einen Mann auf dem Boden festgehalten; sie sei irgendwie kniend, liegend oder halbliegend auf dem Mann gewesen. Als sie ihn gesehen habe, habe sie ihn gebeten, die Polizei zu rufen, was er sofort getan habe. Dann habe er der Klägerin geholfen, den Mann bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten. Während dieses Zeitraums seien von ihm keine Tätlichkeiten mehr ausgegangen, er habe sich nicht wehren können, sei gut fixiert gewesen. Zum Zustand des Mannes könne er nichts sagen.
Aus dem Bescheid der Deutschen Rentenversicherung B1 (DRV) vom 18. Juli 2019 ergab sich die Bewilligung einer stationären Rehabilitationsmaßnahme gegenüber R. in einer Rehabilitationsklinik für Abhängigkeitserkrankungen.
Das Amtsgericht N1 (AG) verurteilte R. wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen vorsätzlicher Körperverletzung aufgrund der Hauptverhandlung vom 8. Dezember 2020 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten. Aus dem Urteil ergab sich u. a. eine seit vielen Jahren bestehende Alkoholabhängigkeit des R. und eine zusätzlich bestehende Drogenabhängigkeit (Cannabis, Ecstasy, Amphetamine, Kokain, phasenweise Subutex). Hinsichtlich des Ereignisses vom 8. Juli 2019 legte das AG seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, wie er sich aus der Geschädigtenvernehmung der Klägerin ergeben hatte. Eine bei R. am 9. Juli 2019 um 0.30 Uhr entnommene Blutprobe habe einen Blutalkoholgehalt von 0,94 Promille ergeben, weitere Substanzen hätten nicht festgestellt werden können. Im Hauptverhandlungstermin habe sich R. mit der Klägerin auf eine Schmerzensgeldzahlung i. H. v. insgesamt 2.500 € geeinigt. Die körperlichen Verletzungen der Klägerin seien folgenlos ausgeheilt. Psychisch sei sie infolge der Tat hingegen schwer in Mitleidenschaft gezogen, sie habe über einen längeren Zeitraum nicht ihren Beruf als Fußpflegerin ausüben können. Bis heute leide sie unter Angstzuständen und schweren Schlafstörungen, habe sich vom 12. Mai bis zum 23. Juni 2020 in einer Rehabilitationsmaßnahme befunden und erst danach wieder ihre berufliche Tätigkeit aufnehmen können. Eine psychiatrische Behandlung erfolge auch weiterhin. Der Verurteilung des R. lag eine weitere Körperverletzung am 19. November 2019 zugrunde, bei der er mit der Faust auf den Kopf eines vierjährigen Mädchens schlagen wollte und hierbei deren Mutter, die ihre Tochter schütze, am Kopf traf, nochmals gegen den Kopf schlug und ihr auf dem Boden liegend in die rechte Rippengegend trat. Erst nach Intervention eines Passanten habe R. von der Geschädigten abgelassen, diese, den Passanten aber verfolgt und versucht, eine von diesen mit Körperkraft geschlossen gehaltene Tür zu öffnen. Das AG ging von einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des R. aufgrund dessen Alkoholisierung aus (§ 21 Strafgesetzbuch <StGB>).
R. legte gegen das Urteil des AG Berufung ein.
Aus der zur Vorlage gekommenen Rechnung des S1 ergab sich eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) der Klägerin.
Das LRA lehnte durch Bescheid vom 2. Februar 2021 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Das Tatbestandsmerkmal einer vorsätzlichen, gegen die Klägerin gerichteten Handlung sei nicht gegeben. Die erste physische Gewalteinwirkung gegen den Körper einer anderen Person sei nachweislich durch die Klägerin selbst mittels eines Besenstiels erfolgt. Ob und inwieweit die Reaktion des R. unter erheblichem Alkoholeinfluss als Abwehr- oder eigenständige Angriffshandlung zu werten sei, könne dahingestellt bleiben. Es seien keine Anhaltspunkte ersichtlich gewesen, dass seitens des R. von vorneherein ausschließlich eine gegen den Körper der Klägerin gerichtete tätliche Angriffshandlung beabsichtigt gewesen sei. Vielmehr seien seine im nicht voll zurechnungsfähigen Bewusstseinszustand erfolgten Stichbewegungen mit dem Schraubenzieher ausschließlich gegen einen Blumentopf gerichtet gewesen. Daneben liege auch der Versagungsgrund des § 2 Abs. 1 OEG vor, weil die Klägerin die Schädigung selbst leichtfertigt verursacht bzw. sich einer konkret erkennbaren Gefahrensituation leichtfertig nicht entzogen habe. Vorliegend habe es sich um ein mehrstufiges Tatgeschehen gehandelt, dass sich über einen bestimmten Zeitraum hingezogen und gleichzeitig eine Zunahme der Intensität der Auseinandersetzung habe erkennen lassen. Spätestens nach dem erstmaligen zur Rede stellen des R., infolgedessen dieser mit dem Schraubenzieher dann gegen die wieder verschlossene Terrassentür eingestochen habe, habe die Klägerin erkennen müssen, dass weitere Diskussionen mit ihm und/oder eine eigenständige Gewalteinwirkung mit dem Besen zu Überreaktionen und ggf. zu tätlichen Auseinandersetzungen führen könnten. Dies gelte nicht zuletzt deshalb, weil die Stichbewegungen mit dem Schraubenzieher bereits von Anfang an klar erkennbar gewesen seien.
Deswegen erhob die Klägerin Widerspruch.
Im Widerspruchverfahren teilte sie mit, dass R. aufgrund einer gutachterlich bestätigten Schuldunfähigkeit im Berufungsverfahren freigesprochen worden sei. Seine Einweisung in eine Entziehungsanstalt mit einer Unterbringungsdauer von mindestens einem Jahr und neun Monaten nach § 64 StGB sei erfolgt. Das Berufungsurteil sei rechtskräftig.
Zur Begründung des Widerspruchs führte die Klägerin aus, der Angriff des R. auf sie sei vorsätzlich erfolgt, wie sich aus dem Urteil des AG ergebe. Die im Berufungsverfahren festgestellte Schuldunfähigkeit des R. stehe seinem vorsätzlichen Handeln nicht entgegen. Die Voraussetzungen einer Leistungsversagung nach § 2 Abs. 1 OEG lägen nicht vor. Sie habe sich, weil sie ihr Eigentum habe schützen wollen, entschlossen, den Besenstiel zu nehmen und R. zu vertreiben. Ihr Handeln sei vom Notwehr- und Notstandsrecht gedeckt gewesen. Sie habe zwar die Alkoholisierung des R. erkannt, aber aufgrund ihres Eigentums- und Hausrechts gegen diesen vorgehen dürfen. Wenn sie in ihrer Wohnung verblieben wäre, hätte R. die Terrassentür in kürzester Zeit durch sein Einstechen mit dem Schraubenzieher zum Zersplittern bringen können. In der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit habe sie sich deshalb entschlossen, das Handeln des R. zu unterbinden. Auch sei ihr nicht ersichtlich gewesen, ob sich R. bei dessen Abwehr weiterhin aggressiv gegenüber ihr verhalten werde. Sie habe insbesondere nicht damit rechnen müssen, dass dieser einer Wodka-Flasche mit sich führe und ihr diese gegen den Kopf schlagen werde.
Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 2022 zurück. Bei der nochmaligen Überprüfung des angefochtenen Bescheides unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin sei festgestellt worden, dass dieser der Sach- und Rechtslage entspreche. Ziel des Handelns der Klägerin sei nur gewesen, dass ihre Terrassentür nicht beschädigt werde. Der Versuch der Vertreibung des R. mit einem hüfthohen Kleinbesen aus Plastik sei sicherlich kein geeignetes Mittel gewesen, um ihr Eigentum zu schützen. Es sei vielmehr als leichtfertige und unvernünftige Selbstgefährdung einzustufen. Sinnvoller wäre es gewesen, sofort nach dem Auftauchen des R. die Polizei zu rufen und bei einer eventuellen Zuspitzung der Lage die Nachbarn um Unterstützung zu bitten.
Mit der am 10. Februar 2022 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin zuletzt die Aufhebung des Bescheides vom 2. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2022 und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung über ihren Antrag vom 17. September 2019 an das LRA verfolgt.
Die Klägerin hat die Überweisung des B2 an einen Neurologen/Psychiater, aus der sich die Diagnosen PTBS, mittelgradige depressive Episode und Somatisierungsstörung ergeben haben, vorgelegt.
Die vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen haben ebenso diese Diagnosen enthalten.
Dem ärztlichen Bericht zum Antrag auf Leistungen zur Teilhabe (Rehabilitationsantrag) der überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft F2/ W2/ J2, , haben sich die Diagnosen PTBS und mittelgradige depressive Episode entnehmen lassen.
Neben weiteren bereits im Verwaltungsverfahren zur Vorlage gekommenen medizinischen Unterlagen hat der Kurzbrief der Rehabilitationsklinik K1 über den stationären Aufenthalt der Klägerin vom 12. Mai bis zum 23. Juni 2020 die Entlassdiagnosen Anpassungsstörungen, Angststörung, nicht näher bezeichnet, und Adipositas durch übermäßige Kalorienzufuhr Grad I enthalten.
Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen befragt:
Der J2 hat von einer letzten Vorstellung der Klägerin vor anderthalb Jahren berichtet. Die psychische Symptomatik sei mittelschwer gewesen. Alle Gesundheitsstörungen wegen denen er die Klägerin behandelt habe, seien auf das Ereignis vom 8. Juli 2019 zurückzuführen gewesen.
Aus der sachverständigen Zeugenaussage des B2 haben sich eine schwere PTSB und ein depressives Symptom ergeben, für die das Ereignis vom 8. Juli 2019 ursächlich gewesen sei.
Der S1 hat von der ambulanten Behandlung der Klägerin vom 29. Juli 2019 bis zum 2. Dezember 2020 berichtet. Die PTBS sei mittelschwer ausgeprägt gewesen und habe in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Ereignis vom 8. Juli 2019 gestanden. Beigefügt war der ärztliche Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik K1 über den vorgenannten stationären Aufenthalt der Klägerin.
Mit Verfügung vom 13. Mai 2022 hat das SG den Beklagten darauf hingewiesen, dass, wenn es im noch anzuberaumenden Termin zur mündlichen Verhandlung zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass die Klägerin einen Anspruch nach dem OEG habe, die Sache wohl nach § 131 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) an den Beklagten zurückzuverweisen wäre.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 29. Juli 2022 hat die Klägerin zum Tatverlauf ergänzt, dass Hilfe durch die Nachbarn, etwa durch laute Hilferufe, in ihrem russischen und von häuslicher Gewalt geprägten Wohnumfeld nicht zu erwarten gewesen wäre. Im Weiteren hat sie angegeben, noch keinen Antrag auf Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) gestellt zu haben; sie wolle erst den Ausgang des vorliegenden Verfahrens abwarten. Nach der sachverständigen Zeugenaussage ihres B2 gehe sie von einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 aus.
Das SG hat durch Urteil vom 29. Juli 2022 den Bescheid vom 2. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2022 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über den Antrag der Klägerin vom 10. September 2019 (gemeint wohl 17. September 2019) an das LRA zurückverwiesen.
Die Frist für die Zurückverweisung sei noch nicht abgelaufen gewesen, weil seit dem erstmaligen Eingang der Verwaltungsakte beim SG am 21. März 2022 noch keine sechs Monate vergangen seien.
Es bestehe noch erheblicher Ermittlungsbedarf, bevor über das Begehren der Klägerin entschieden werden könne. Ihr materiell-rechtliches Begehren sei auf die Feststellung eines GdS von 50 ab dem 8. Juli 2019 gerichtet. Das Ausmaß der durch sie zu ertragenden Schädigungsfolgen sei für die Kammer noch nicht mit dem erforderlichen Beweismaß – dem Vollbeweis – feststellbar, ohne dass die vorhandenen Beweismittel ausgeschöpft wären. Hierzu bedürfe es einer psychiatrischen Begutachtung.
Die Anspruchsvoraussetzungen nach dem OEG lägen dem Grunde nach vor. Die Klägerin sei Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden; dem stehe die im strafrechtlichen Berufungsverfahren angenommene Schuldunfähigkeit des Täters nicht entgegen.
Auch ergäben sich keine Versagungsgründe i. S. des § 2 OEG. Eine Mitverursachung könne zwar auch dann vorliegen, wenn das Opfer keinen Straftatbestand erfüllt habe, sich aber leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen insbesondere zeitlich eng zusammenhängende Förderung der Tat, z. B. eine Provokation des Täters, der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet habe, ohne dass dieses Verhalten sozial nützlich oder sogar sozial erwünscht wäre. Gleiches gelte, wenn sich das Opfer einer konkret erkannten Gefahr leichtfertig nicht entziehe, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre. Das OEG verlange jedoch nicht, dass der Angegriffene sich verstecke; er dürfe vielmehr einen Angriff durch tätiges Verhalten abwehren.
Im vorliegenden Fall habe die Klägerin nicht grob vernunftwidrig gehandelt. Als sie R. aufgefordert habe, die Terrasse zu verlassen und die Terrassentür hiernach wieder geschlossen habe, sei er dieser Aufforderung nicht nachgekommen und habe mit dem Schraubenzieher auf die Terrassentür eingestochen. In dieser Situation sei es der Klägerin nur möglich gewesen, die Polizei zu rufen, in ihrer Wohnung zu verbleiben oder zu flüchten, wie dies der Beklagte fordere. Hätte die Klägerin die Polizei gerufen, wären bis zu deren Eintreffen mehrere Minuten vergangen. Sie habe damit rechnen müssen, dass es dem mit einem Schraubenzieher ausgerüsteten R. gelinge, die Terrassentür aufzubrechen oder das Glas der Tür einzuschlagen und in die Wohnung einzudringen. Weiter habe sie damit rechnen müssen, dass R. im Falle des Eindringens in die Wohnung einen Angriff auf sie selbst oder ihr Eigentum verübe und dass dieser Angriff erst nach dem Eintreffen der Polizei beendet werden könne. Bis zum Eintreffen der Polizei hätte R. die Rechtsgüter der Klägerin weiter ungehindert verletzen können bzw. es hätte sogar die Möglichkeit bestanden, dass er nach einer Verletzung der Klägerin bzw. ihres Eigentums flüchte und von der Polizei nicht mehr gefasst werden könne. Die Klägerin wohne in einer standardmäßigen Mietwohnung, nicht aber in einem modernen, mit einem Panic-Room ausgestatteten Einfamilienhaus. Sichere Rückzugsmöglichkeiten hätten ihr gerade nicht zur Verfügung gestanden. Bei einer Flucht aus der Wohnung wäre sie R. ebenso ausgeliefert gewesen wie auf der Terrasse.
Bereits das Betreten der Terrasse – insbesondere um diese Uhrzeit – habe einen Hausfriedensbruch durch R. dargestellt. Er sei in das befriedete Besitztum der Klägerin eingedrungen und habe sich trotz deutlicher Aufforderung der Klägerin aus diesem nicht entfernt. Dann sei er dazu übergegangen, mit dem Schraubenzieher gegen die Terrassentür zu stechen, was eine – jedenfalls versuchte – Sachbeschädigung gewesen sei. Diese gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffe auf ihre Rechtsgüter habe sich die Klägerin unter keinen Umständen gefallen lassen und allein darauf hoffen müssen, dass der Schaden sich in Grenzen halte bis die Polizei eintreffe, zumal sich die Angriffe immer weiter intensiviert und mit weiteren Straftaten zu ihren Lasten zu rechnen gewesen sei. Auf Hilfe durch die Nachbarn habe die Klägerin nach ihren Ausführungen im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 29. Juli 2022 nicht hoffen können. Ihr Handeln sei durch das ihr zustehende Notwehrrecht gerechtfertigt gewesen. Es sei niemandem zumutbar, sich der Gegenwehr auf einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff zu enthalten und in der Hoffnung, es werde in der Zwischenzeit alles gutgehen, auf staatliche Hilfe zu warten.
Bereits die notwendige Einholung eines einzigen Sachverständigengutachtens im vorliegenden Verfahren stelle nach Art und Umfang „erhebliche“ Ermittlungen i. S. des § 131 Abs. 5 SGG dar. Fachpsychiatrisch werde insbesondere aufzuklären sein, inwieweit die Klägerin noch heute in ihrer Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit eingeschränkt sei.
Die Entscheidung über die Zurückverweisung stehe im Ermessen des Gerichts. Sie diene vorliegend dem öffentlichen Interesse an einer verfassungsmäßigen Verwaltung, dem Interesse beider Beteiligten an der Beschleunigung des Verfahrens und dem pekuniären Interesse des Beklagten an einem möglichst niedrigen Kostenaufwand. Irgendwelche Gründe, wegen denen eine Zurückverweisung im vorliegenden Einzelfall nicht sachdienlich bzw. nicht ermessensgerecht sein sollte, seien weder zur Überzeugung der Kammer vorgetragen noch von Amts wegen ersichtlich. Hierbei habe das Gericht nicht nur berücksichtigt, dass die noch erforderlichen erheblichen Ermittlungen besser, insbesondere schneller, durch den Beklagten durchgeführt werden können, sondern auch den Wunsch der Klägerin nach einem erneuten Tätigwerden des Beklagten. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass bei Durchführung der Ermittlungen durch das Gericht die hierfür anfallenden Kosten dem Beklagten aufzuerlegen wären.
Am 18. August 2022 hat der Beklagte gegen das ihm am 4. August 2022 zugestellte Urteil des SG Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.
Zur Berufungsbegründung führt er aus, dass er auch weiterhin am Vorliegen des Versagungsgrundes der grob fahrlässigen Selbstgefährdung der Klägerin festhalte. Es wäre sinnvoller gewesen, wenn diese sofort nach dem Auftauchen des Täters die Polizei gerufen und bei einer eventuellen Zuspitzung der Lage ihre Nachbarn um Unterstützung gebeten hätte. Der Rechtsauffassung des SG könne er sich nicht anschließen, denn es habe verkannt, dass das Leben und die körperliche Unversehrtheit über dem Schutz der eigenen Wohnung bzw. des Eigentums stünden. Die Klägerin habe in unvernünftiger Weise auf die Zuverlässigkeit ihrer Karatekünste vertraut und sich deswegen dem Täter entgegenstellt. Nur so sei es auch zu erklären, warum sie, nachdem sie bereits eine Stichwunde erlitten hatte, noch versucht habe, dem Täter in einem körperlichen Gerangel den Schraubenzieher zu entwenden. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Klägerin nicht sofort, nachdem sie ein Eindringen des Täters in ihre Wohnung befürchtete, auf die Straße gelaufen sei, um zunächst einen räumlichen Abstand zum Täter zu schaffen und dann die Polizei gerufen, um Hilfe gerufen oder ihre Nachbarn verständigt habe. Zwar habe sie in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vorgetragen, ihre Nachbarschaft sei überwiegend russisch geprägt, doch sei nicht vorstellbar, dass diese ihr eine Unterstützung verweigert hätte.
Zudem hätten die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung nicht vorgelegen. Die Zurückverweisung habe Ausnahmecharakter. Ein erheblicher Ermittlungsbedarf bestehe nicht. Vom SG sei nicht berücksichtigt worden, dass aufgrund der Annahme eines Versagungsgrundes keine medizinischen Ermittlungen hätten erfolgen müssen. Es sei nicht Aufgabe der Verwaltung, die Rechtssache durch Ermittlungen im Verwaltungsverfahren für das SG spruchreif zu machen; das SG habe als Tatsacheninstanz selbst den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Bei der Notwendigkeit lediglich eines Gutachtens seien die vorzunehmenden Ermittlungen auch nicht „erheblich“ i. S. des § 131 Abs. 5 SGG. Zudem sei die Zurückverweisung auch nicht „sachdienlich“ i. S. der vorgenannten Bestimmung, weil die notwendigen Ermittlungen nicht effektiver als durch das SG erfolgen könnten. Letztlich werde die Klägerin infolge der Zurückverweisung auch nicht begünstigt, sondern belastet, da eine erhebliche Verzögerung der endgültigen Streitentscheidung eintrete.
Der Beklagte beantragt – sinngemäß –,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29. Juli 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29. Juli 2022 aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht Karlsruhe zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Der Beklage verkenne auch weiterhin, dass nicht jedwede Selbstgefährdung zum Ausschluss von Leistungen nach dem OEG führe. Das Rechtsbewährungsprinzip, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen brauche, sei ein Grundpfeiler der deutschen Rechtsordnung und werde von dieser, wie die Kodifizierung der Notwehr sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht zeige, ausdrücklich nicht missbilligt, sondern jedem Bürger zugestanden. Noch deutlicher werde dies bei der Betrachtung der Historie des Notwehrrechts. So leite sich die Notwehr aus dem antiken römischen Rechtsgrundsatz „vim vi repellere licet“ ab (Gewalt darf mit Gewalt erwidert werden). Das Notwehrrecht durchbreche das staatliche Gewaltmonopol; sie habe sich deshalb nicht darauf beschränken müssen, auf das baldige Eintreffen der Polizei zu hoffen. Auch berücksichtige der Beklagte nicht, wenn er darauf verweise, dass der Schutz von Leib und Leben über dem des Eigentums stehe, dass das Notwehrrecht keine Güterabwägung erfordere. Entgegen der Ansicht des Beklagten sei ihre Notwehrhandlung auch erfolgreich gewesen, sie habe den R. nicht nur von ihrer Terrasse vertreiben, sondern einen Einbruch in ihre Wohnung verhindern wollen. Ein Ausnahmecharakter sei § 131 Abs. 5 SGG nicht zu entnehmen. Durch diese Bestimmung solle die ursprüngliche fehlerhafte Rechtsauffassung des Beklagten korrigiert und darauf zurückzuführende Versäumnisse nachgeholt werden. Vielmehr mache es den Anschein, als scheue der Beklagte eine erneute Befassung mit der Angelegenheit, was jedoch in rechtlicher Hinsicht unbeachtlich sei.
Der Beklagte hat die strafrechtlichen Erwägungen der Klägerin für nicht überzeugend gehalten. Das Notwehrrecht sei gegenüber dem staatlichen Schutz nur subsidiär. Eine Erforderlichkeit der Selbstverteidigung bestehe damit nicht, wenn polizeiliche Hilfe ohne Weiteres herbeigerufen werden könne. Die Klägerin habe sich stattdessen im Vertrauen auf ihre Karatekünste R. entgegengestellt und auf einen körperlichen Kampf eingelassen, obwohl sie nach ihrer polizeilichen Vernehmung vermutet habe, dass R. „aufgrund seines abnormen Verhaltens“ betrunken gewesen sei. In der zweiten Instanz im Strafverfahren sei sogar dessen Schuldunfähigkeit festgestellt worden. Es habe daher nur ein beschränktes Notwehrrecht bestanden; schon aus diesem Grund habe die Klägerin von einer körperlichen Auseinandersetzung mit R. absehen müssen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung des Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig und begründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 29. Juli 2022, mit dem das SG, auf den entsprechenden Antrag der Klägerin, die zunächst im Wege einer kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) die Verurteilung des Beklagten, ihr unter Aufhebung des Bescheides vom 2. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2022 (§ 95 SGG) Beschädigtenversorgung nach dem OEG aufgrund des Ereignisses vom 8. Juli 2019 zu gewähren, verfolgt hat, den vorgenannten Bescheid aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über den Antrag der Klägerin vom 17. September 2019 an das LRA zurückverwiesen hat.
Der Senat hat das Berufungsbegehren des Beklagten sinngemäß nach § 123 SGG i. V. m. § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) (vgl. LSG Nordrhein-Westfahlen, Beschluss vom 9. März 2021 – L 2 AS 872/20 NZB –, juris, Rz. 23) dahingehend ausgelegt, dass er im Hauptantrag die Aufhebung des Urteils des SG vom 29. Juli 2022 und die Abweisung der Klage und im Hilfsantrag die Aufhebung des vorgenannten Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das SG verfolgt, mithin sich das Verhältnis von Haupt- zu Hilfsantrag umkehrt. Das ergibt sich vorliegend daraus, dass das nach Auslegung als Hauptantrag verfolgte Begehren des Beklagten weitergehender ist, da mit ihm im Erfolgsfall die Klage voll umfänglich abgewiesen wird und damit sowohl das erst- als auch das zweitinstanzliche Verfahren beendet werden, was die Zurückverweisung entbehrlich macht.
Die Begründetheit der Berufung des Beklagten im Hauptantrag folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Das SG hat durch Urteil vom 29. Juli 2022 zu Unrecht den Bescheid vom 2. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2022 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über den Antrag der Klägerin vom 17. September 2019 an das LRA zurückverwiesen.
Die Voraussetzungen der Sätze 1 und 2 des § 131 Abs. 5 SGG haben nicht vorgelegen. Hiernach kann das Gericht, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist (Satz 1). § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG gilt auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsakts und bei Klagen nach § 54 Abs. 4 SGG; § 131 Abs. 3 SGG ist entsprechend anzuwenden (Satz 2).
Im Rechtsmittelverfahren sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 131 Abs. 5 SGG (Erforderlichkeit einer weiteren Sachaufklärung, Erheblichkeit von Art und Umfang der noch erforderlichen Ermittlungen, Sachdienlichkeit) voll überprüfbar, während die Entscheidung des SG, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 131 Abs. 5 SGG zurückzuverweisen, nur auf Ermessensfehler zu überprüfen ist (vgl. Senatsurteil vom 23. Januar 2020 – L 6 SB 3637/19 –, juris, Rz. 29; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 131 Rz. 20a).
Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben haben die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 131 Abs. 5 SGG deshalb nicht vorgelegen, weil zur Überzeugung des erkennenden Spruchkörpers eine weitere Sachaufklärung nicht erforderlich war. Denn der angefochtene Bescheid vom 2. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2022 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Zur Überzeugung des Senats, wie auch des Beklagten, steht einem Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung der Versagungsgrund des § 2 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 OEG entgegen. Demnach hat das SG zu Unrecht durch Urteil vom 29. Juli 2022 den vorgenannten Bescheid aufgehoben und die Sache zu erneuten Entscheidung über den Antrag der Klägerin vom 17. September 2019 an das LRA zurückverwiesen.
Rechtsgrundlage des ursprünglich von der Klägerin verfolgten Anspruchs auf Beschädigtenversorgung, insbesondere auf Beschädigtengrundrente, ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG). Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, u. a. auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG).
Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 31 BVG, Rz. 2). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS – bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als MdE bezeichnet – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG).
Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG i. V. m. dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):
Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG i. V. m. § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist. Nach dieser Maßgabe erhalten Versorgung auch Personen, die in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zum Zeitpunkt der Schädigung hatten, wenn die Schädigung in der Zeit vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist (§ 10a Abs. 1 Satz 2 OEG).
Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff i. S. d. § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 23 ff.).
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.).
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit i. S. des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
Bei dem „Glaubhafterscheinen“ i. S. des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3d m. w. N.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15).
Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend – seit Juli 2004 – den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008, den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), (VG, Teil C, Nrn. 1 bis 3; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 17).
Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben und der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der der Senat folgt, hat der Beklagte zu Recht die Gewährung von Beschädigtenversorgung durch Bescheid vom 2. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2022 abgelehnt.
Die Klägerin ist zwar am 8. Juli 2019 durch die körperliche Auseinandersetzung mit R. Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden, ihrem Anspruch auf Beschädigtenversorgung steht aber ein Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 OEG entgegen.
Soweit das LRA im Bescheid vom 2. Februar 2021 das Vorliegen eines vorsätzlichen Angriffs auf die Klägerin verneint hat, war dies nicht nachvollziehbar. Der Beklagte hat hieran auch nicht im Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 2022 oder im weiteren Verfahrensverlauf festgehalten.
Einem Anspruch auf Beschädigtenversorgung steht aber § 2 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 OEG entgegen.
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung entweder selbst verursacht hat (Alt. 1) oder wenn es aus sonstigen, insbesondere aus in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (Alt. 2). Als Sonderfall der Unbilligkeit (Alt. 2) ist die Alt.1 der Vorschrift – Mitverursachung – stets zuerst zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 R – BSGE 88, 96; vgl. zum Verhältnis der beiden Alternativen insbesondere BSG, Urteile vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 –, BSGE 66, 115 und vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R –, BSGE 84, 54).
Eine Mitverursachung in diesem Sinne kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm nicht nur einen nicht hinweg zu denkenden Teil der Ursachenkette, sondern eine wesentliche Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt (st. Rspr. des BSG, vgl. z. B. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der entschädigungsrechtliche Kausalitätsmaßstab nicht mit dem der gesetzlichen Unfallversicherung identisch ist. Während dort nur ein gegenüber den betrieblichen Gefahren deutlich überwiegendes selbstgeschaffenes Risiko den Versicherungsschutz ausschließt, führt auf dem Gebiet des OEG bereits eine etwa gleichwertige Mitverursachung zur Versagung der Entschädigung (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 –, BSGE 66, 115).
Ein Leistungsausschluss ist unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung vor allem dann gerechtfertigt, wenn das Opfer in der konkreten Situation in ähnlich schwerer Weise wie der Täter gegen die Rechtsordnung verstoßen hat (vgl. BSG, Urteile vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R –, BSGE 84, 54 und vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87). Sie kann aber auch dann vorliegen, wenn das Opfer zwar keinen Straftatbestand erfüllt hat, sich aber leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen insbesondere zeitlich eng zusammenhängende Förderung der Tat, z. B. eine Provokation des Täters, der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat. Gleiches gilt, wenn sich das Opfer einer konkret erkannten Gefahr leichtfertig nicht entzogen hat, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre (vgl. BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 5/95 –, BSGE 77, 18; vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87 und vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62).
Ein Hauptzweck des § 2 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 OEG ist es gerade, diejenigen von der Versorgung auszuschließen, die sich selbst bewusst oder leichtfertig in hohem Maße gefährden und dadurch einen Schaden erleiden. Wer bewusst oder leichtfertig ein hohes Risiko eingeht, hat die Folgen selbst zu tragen; das Opferentschädigungsrecht schützt ihn dann nicht. Das BSG hat im Opferentschädigungsrecht die bewusste oder leichtfertige Selbstgefährdung in Fällen einer hohen Gefahr immer als Leistungsausschlussgrund beurteilt. Die bewusste Selbstgefährdung hat das BSG nur dann nicht dem Opfer angelastet, wenn für sie ein beachtlicher Grund vorlag, so dass die Selbstgefährdung nicht missbilligt werden konnte. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich das Opfer nach der besonderen Fallgestaltung für andere eingesetzt hat (vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 5/95 –, juris, Rz. 16). Eine leichtfertige Selbstgefährdung in diesem Sinne setzt nach der Rechtsprechung des BSG einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit voraus, der etwa der groben Fahrlässigkeit i. S. des bürgerlichen Rechtes entspricht (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 –, juris, Rz. 18). Es gilt jedoch im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 267 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), sondern ein individueller Maßstab, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl. BSG, a. a. O.). Voraussetzung ist, dass das Opfer in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt und es in grob fährlässiger Weise unterlassen hat, einer höchstwahrscheinlich zu erwartenden Gefahr auszuweichen (vgl. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 4/97 –, juris, Rz. 15). Zu prüfen ist danach, ob sich das Opfer auch hätte anders verhalten können oder müssen und ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl dies ihm zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 –, juris, Rz. 18; Senatsurteil vom 21. März 2013 – L 6 VG 4354/12 –, juris, Rz. 38).
Ein annähernd gleichwertiger Verursachungsbeitrag des Opfers ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass eine Straftat von der Rechtsordnung stärker missbilligt wird als eine Selbstgefährdung des Opfers dieser Straftat (vgl. Senatsurteil vom 29. April 2014 – L 6 VG 4545/13 –, juris, Rz. 30).
Nach diesen Maßstäben ergibt sich hinsichtlich des Ereignisses vom 8. Juli 2019 eine leichtfertige Selbstgefährdung der Klägerin.
Bereits als die Klägerin am 8. Juli 2019 erstmals, denn sie hätte sich den erforderlichen Überblick allein durch Hochziehen eines Rollladens verschaffen können, ihre Terrasse betreten hat, hat sie, wie der Senat ihrer im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung <ZPO>) verwerteten Geschädigtenvernehmung im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren entnimmt, sich als alleinstehende Frau bei Nacht und Verlassen der geschützten Wohnung ohne Not gefährdet. Dies muss in Anbetracht des Umstandes gewürdigt werden, dass sie nicht wissen konnte, was sie draußen erwartete, insbesondere, ob es sich um mehrere Täter handelte, zumal nach eigener Aussage beim SG bereits ihr Umfeld von Gewalt geprägt war. Das gilt umso mehr, als sie gesehen hat, dass R. einen Schraubenzieher mit sich geführt hat, also leicht bewaffnet war. R. hat sich dazu nicht nur wütend angehört, sondern auch benommen, nämlich mit dem Schraubenzieher auf einen Blumenkübel eingestochen, was seine Aggressivität deutlich sichtbar machte. Die Klägerin ist zutreffend aufgrund dieses abnormen Verhaltens des R. davon ausgegangen, dass er betrunken gewesen ist. Nach ihren Angaben in der Geschädigtenvernehmung ist sie folgerichtig aus Angst zunächst in ihre Wohnung zurückgekehrt und hat die Terrassentür wieder geschlossen, was die ihr rational zur Verfügung stehende Handlungsalternative unterstreicht.
Die Klägerin hat demnach beim erstmaligen Betreten der Terrasse und der Konfrontation mit R. erkannt, dass von diesem eine erhöhte Gefährlichkeit ausgeht. Denn er hat einen Gegenstand, einen Schraubenzieher, mit sich geführt, der als Waffe verwendet werden kann. Er hatte ihn auch bereits nicht bestimmungsgemäß verwendet, sondern mit ihm auf einen Blumenkübel eingestochen, ihn damit als Hieb- und Stichwaffe eingesetzt. Darüber hinaus hat die Klägerin angenommen, dass R. betrunken gewesen ist – im Strafverfahren hat das AG eine verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB festgestellt und das Berufungsgericht ist sogar von seiner Schuldunfähigkeit ausgegangen –, sie hat demnach erkannt, dass sich R. in einem enthemmten Zustand befunden hat, in dem von ihm eine erhöhte Gefährlichkeit ausgegangen ist. Zudem hat sie seine Äußerungen als wütend interpretiert. Letztlich hat sich die Klägerin aus Angst vor R. wieder in ihre Wohnung zurückgezogen und die Terrassentür verschlossen.
Anstatt sich dann zu sichern, nämlich die Rollläden wieder herunter zu lassen, und Hilfe zu holen, kam es dann zu der Selbstgefährdung, die der Gewährung von Entschädigungsleitungen entgegensteht. Denn ab diesem Zeitpunkt hat sie sich trotz ihrer zunächst zutreffenden Analyse der Situation in hohem Maße vernunftwidrig verhalten. So hat sie sich beim zweiten Betreten der Terrasse, „bewaffnet“ mit einem hüfthohen Plastikbesenstiel, dann objektiv, weil sie sich allein einem gewaltbereiten und bewaffneten Täter mit einem untauglichen Mittel, dem Plastikbesenstiel, entgegengestellt hat – auch wenn sie über langjährige Karatekenntnisse verfügt hat –, leichtfertig gefährdet. Dass die Karatekenntnisse der Klägerin der objektiven Leichtfertigkeit ihrer Eigengefährdung nicht entgegenstehen, zeigt sich in den ihr von R. beigefügten Verletzungen mittels des Schraubenziehers und der Wodka-Flasche. Die subjektive Leichtfertigkeit der Selbstgefährdung begründet sich aus den beim erstmaligen Betreten der Terrasse von der Klägerin erlangten Kenntnisse über die Gegebenheiten und die Gemütsverfassung des R.
Soweit sich die Klägerin zur Begründung ihres Anspruchs auf Leistungen nach dem OEG vornehmlich darauf stützt, dass sie in Notwehr gehandelt habe, da R. nach ihrer Rückkehr in die Wohnung und dem Verschließen der Terrassentür begonnen habe, mit dem Schraubenzieher auf die Glasscheibe der Terrassentür einzustechen, und sie befürchtet habe, dass diese splittere und R. dann in ihre Wohnung eindringe, verkennt sie, dass ein Handeln in Notwehr nicht zwangsläufig einer leichtfertigen Selbstgefährdung entgegensteht. Denn das Notwehrrecht und die Leistungsversagung aufgrund leichtfertiger Selbstgefährdung haben verschiedene Intentionen. Das Notwehrrecht legitimiert eine an sich strafbare Handlung, weil der Handelnde seine Rechtsgüter oder die der Allgemeinheit verteidigt. Das Verteidigungshandeln ist auch dann durch das Notwehrrecht gedeckt, wenn der Handelnde hierbei Risiken eingeht, die die Rechtsordnung nicht von ihm verlangt, und sich hierdurch (leichtfertig) selbstgefährdet. Allein weil ein Handeln in Notwehr erfolgt, werden aber keine Ansprüche auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG begründet; einen solchen – wie offensichtlich von der Klägerin angenommenen – Automatismus kennt das OEG nicht. Sinn und Zweck des OEG ist es, den Opfern von Gewalttaten eine Entschädigung zukommen zu lassen, weil der staatliche Schutz vor diesen Gewalttaten zu ihren Ungunsten versagt hat (vgl. Rademacker in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 1 OEG Rz. 8). Eine Entschädigung des Opfers durch den Staat ist aber dann nicht mehr angezeigt und begründbar, wenn das Opfer selbst durch sein Verhalten dazu beigetragen hat, dass es geschädigt worden ist, (vgl. auch Rademacker, a. a. O., § 2 OEG Rz. 6), unabhängig davon, ob sein, die eigene Schädigung mitverursachendes Verhalten infolge Notwehr gerechtfertigt war.
Das Handeln der Klägerin, die Konfrontation mit dem Täter und die körperliche Auseinandersetzung mit diesem, war auch nicht alternativlos, wovon neben der Klägerin das SG mangels des Vorhandenseins eines Panic-Room in der Wohnung der Klägerin ausgegangen ist. Insofern ist es auch aus diesem Gesichtspunkt nicht anzeigt, eine leichtfertige Selbstgefährdung der Klägerin abzulehnen. Denn diese hätte, spätestens nachdem sie in ihre Wohnung nach dem erstmaligen Ansprechen des R. zurückgehrt ist, die Polizei verständigen können und den Rollladen des Terrassenfensters und der Terrassentür, den sie vor dem erstmaligen Ansprechen des R. hochgezogen hat, wieder herablassen können. Hierdurch hätte eine Beschädigung der Terrassentür und des Terrassenfensters durch R. vermieden und er hätte am von der Klägerin befürchteten Eindringen in ihre Wohnung gehindert werden können. Letztlich hätte die Klägerin auch über ihre Wohnungstür aus ihrer Wohnung flüchten, damit eine räumliche Distanz zu R. schaffen, und ihre Nachbarn um Hilfe bitten können. Insofern hat sie im Termin zur erstinstanzlichen Verhandlung zwar vorgebracht, in ihrem russischen und von häuslicher Gewalt geprägten Wohnumfeld nicht habe erwarten können, dass ihr jemand zu Hilfe kommen werde. Der tatsächliche Geschehensablauf widerlegt jedoch diese Annahme der Klägerin; denn nachdem sie den Zeugen F1 um Hilfe gerufen hat, ist ihr dieser tatsächlich und ohne zeitliche Verzögerung zu Hilfe geeilt.
Die Leichtfertigkeit der Selbstgefährdung der Klägerin wird im Weiteren dadurch deutlich, dass sie selbst nachdem ihr R. eine erste Verletzung mittels des Schraubenziehers am linken Oberarm zugefügt hat, nicht von diesem abgelassen hat und in ihre Wohnung geflüchtet ist, sondern im Gegenteil selbst gegen R. vorgegangen ist. Sie hat versucht, ihm den Schraubenzieher abzunehmen, hat ihn von der Terrasse verdrängt, ihm den Schraubenzieher dann abgenommen und auf dem Boden fixiert. Erst danach hat R. ihr die zweite – weitaus gefährlichere – Verletzung, den Schlag mit der Wodka-Flasche gegen die rechte Kopfhälfte, zugefügt.
Aufgrund des Erfolgs des Hauptantrags hat der Senat nicht mehr über den Hilfsantrag zu entscheiden (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 56 Rz. 4). Dieser wäre aber auch unbegründet gewesen, da die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung der Sache an das SG nicht vorgelegen hätten.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das LSG durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Die Regelung ist entsprechend anzuwenden, wenn das SG einen Verwaltungsakt zu Unrecht aus formellen Gründen bzw. ohne Sachentscheidung aufgehoben hat, der Klage also nach § 131 Abs. 5 SGG (teilweise) stattgegeben wurde, ohne zu den eigentlichen Fragen Stellung zu nehmen (vgl. Senatsurteil vom 23. Januar 2020 – L 6 SB 3637/19 –, juris, Rz. 25 m. w. N.).
Unabhängig davon, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG – die des Abs. 1 Nr. 2 (wesentlicher Verfahrensmangel und deshalb die Notwendigkeit einer umfangreichen und aufwändigen Beweisaufnahme) sind offensichtlich nicht gegeben – vorliegen, entscheidet das LSG nach Ermessen, ob es in der Sache selbst urteilt oder das Verfahren an das Sozialgericht zurückverweist (vgl. Senatsurteil vom 23. Januar 2020 – L 6 SB 3637/19 –, juris Rz. 40).
Bei dieser Ermessensentscheidung sind die Interessen der Beteiligten an einer zügigen Erledigung des Verfahrens mit dem Verlust einer Tatsacheninstanz abzuwägen. Dabei war es bereits nach alter Rechtslage nicht ermessensfehlerhaft, die Zurückverweisung als Ausnahme anzusehen und bei Entscheidungsreife davon Abstand zu nehmen. Nach geltender Rechtslage muss die Ermessensentscheidung berücksichtigen, dass die Zurückverweisung die Ausnahme ist und nur noch unter strengen Voraussetzungen möglich sein soll. Damit kommt der zügigen Erledigung ein besonderes Gewicht zu, das nur bei besonderen Umständen hinter dem Verlust einer Tatsacheninstanz zurücktritt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der vom Gesetzgeber angestrebte Entlastungseffekt für die erste Instanz nur eintreten kann, wenn die Zurückverweisung auf Ausnahmen beschränkt wird. Prozessökonomischen Aspekten und der zügigen Erledigung des Rechtsstreits ist auch bei gravierenden (Verfahrens-)Fehlern des Sozialgerichts der Vorrang einzuräumen (vgl. Adolf in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, Stand: 15. Juni 2022, § 159 Rz. 24 m. w. N.; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 159 Rz. 5a m. w. N.).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hätte der Senat sein Ermessen vorliegend dahingehend ausgeübt, dass er von einer Zurückverweisung der Sache an das SG absieht. Der Beklagte hat zwar ausdrücklich eine solche beantragt, was im Rahmen der vom Senat zu treffenden Ermessensentscheidung ein gewichtiges Abwägungskriterium gewesen wäre, das im Einzelfall das Interesse an einer zügigen Entscheidung überwiegen kann (vgl. Adolf in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, Stand: 15. Juni 2022, § 159 Rz. 24 m. w. N.; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 159 Rz. 5a m. w. N). Maßgeblich gegen eine erneute Befassung des SG mit dem vorliegenden Verfahren hätte aber gesprochen, dass dieses trotz der von ihm nach § 131 Abs. 5 SGG vorgenommenen Zurückverweisung über die, die Ablehnung der Gewährung von Leistungen nach dem OEG aufgrund des Ereignisses vom 8. Juli 2019 tragenden Erwägungen des Beklagten, die Annahme eines Versagungsgrundes nach § 2 Abs. 1 OEG, bereits entschieden hat. Da aber auch der erkennende Spruchköper die Ansicht des Beklagten teilt, dass der Bewilligung von Leistungen nach dem OEG an die Klägerin ein Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 OEG entgegensteht, wäre weder dem Beklagten noch der Klägerin infolge der Abstandnahme von einer Zurückverweisung an das SG durch den Senat eine Tatsacheninstanz genommen worden. Insofern hätte der Senat trotz der vom Beklagten begehrten Zurückverweisung der Sache an das SG im Rahmen der von ihm zu treffenden Ermessensentscheidung dem Grundsatz der Prozessökonomie, damit der zügigen Erledigung des Verfahrens, den Vorrang eingeräumt.
Nach alledem waren auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG vom 29. Juli 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.