L 1 BA 72/22

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Betriebsprüfungen
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 19 BA 19/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 BA 72/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 BA 7/23 R
Datum
-
Kategorie
Urteil


Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 29. September 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten auch des Berufungsverfahren mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.

Die Revision wird zugelassen. 

Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beigeladene zu 1.) in seiner Tätigkeit als Lohnbuchhalter bei dem Kläger in der Zeit vom 01.01.2018 bis 31.12.2018 in einem abhängigen und damit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stand.

Der 1959 geborene Beigeladene zu 1.) hat den Beruf des Steuerfachgehilfen erlernt. Seit 1984 hat er ein Gewerbe für „Buchführungsservice“ angemeldet und ist seitdem selbstständig tätig sowie privat kranken- und rentenversichert. Der Beigeladene zu 1.) erledigt überwiegend Lohnbuchhaltungsarbeiten für kleine Unternehmen oder für die Mandanten verschiedener Steuerberater. Der Kläger ist freiberuflicher Steuerberater. Er hat zum 01.01.2018 den Mandantenstamm der Steuerberaterin E., für die der Beigeladene zu 1.) zuvor tätig war, übernommen. Der sozialversicherungsrechtliche Status des Beigeladenen zu 1.) im Verhältnis zur Steuerberaterin E. bis 31.12.2017 ist ebenfalls streitig; ein Berufungsverfahren ist beim Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern anhängig (L 4 BA 10/22).

Der Beigeladene zu 1.) und der Kläger stellten bei der Beklagten am 06.07.2018 gemeinsam einen Antrag auf Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status für die Tätigkeit des Beigeladenen zu 1.) als „Sachbearbeiter Lohn“ [Statusanfrage nach § 7a Abs. 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV)]. Vorgelegt wurde u.a. ein Vertrag über freie Mitarbeit vom 02.01.2018. Der Vertrag enthielt u.a. die folgenden Regelungen:

㤠1 Vertragsgegenstand, Auftragsumfang, Haftung
(1) Der Auftraggeber erteilt dem Auftragnehmer mit Wirkung ab 01.01.2018 folgenden Auftrag:
Selbständige Bearbeitung und Erstellung der laufenden Lohnabrechnungen (inkl. der Vorbereitung von Lohnsteueranmeldungen, der Erstellung von Meldungen zur Sozialversicherung und Anträgen nach dem AAG, Unterstützung bei der Führung von Lohnkonten, Bereitstellung von Auswertungen für die Mandanten und gegenüber betroffenen Institutionen).
(2) Die zu erbringenden Leistungen sind den individuellen Anforderungen der jeweiligen Mandate im Einzelfall anzupassen.
(3) Darüber hinaus werden durch den Auftragnehmer Rückfragen und Anfragen der Mandanten des Auftraggebers selbständig bearbeitet. [...]
(6) Der Auftrag entsprechend dem vorgenannten Umfang wird zunächst für die in der Anlage aufgeführten Mandanten erteilt.
(7) Zusätzliche Aufträge können nur nach einvernehmlicher Absprache zwischen den Vertragsparteien auf den Auftragnehmer übertragen werden. Die Absprache kann auch mündlich erfolgen. Der Auftragnehmer kann die Annahme zusätzlicher Aufträge ohne Angabe von Gründen ablehnen. [...]

§ 2 Weisungsfreiheit, Auftragserfüllung, Status
(1) Die Vertragsparteien sind sich darüber einig, dass durch diese Vereinbarung zwischen ihnen kein Arbeitsverhältnis i.S.d. § 611a BGB entstehen soll. Insbesondere unterliegt der Auftragnehmer bei der Durchführung der übertragenen Tätigkeiten keinen Weisungen des Auftraggebers. Gegenüber Angestellten des Auftraggebers hat der Auftragnehmer keine Weisungsbefugnis.
(2) Der Auftragnehmer ist konkret in der örtlichen und zeitlichen Disposition sowie in der Art und Weise seiner Auftragsdurchführung frei. [...]
(3) Der Auftragnehmer hat die Leistungen nicht in Person zu erbringen. Er kann sich zur Erfüllung des Auftrags auch anderer Personen bedienen. [...]

§ 3 Vergütung
(1) Als Vergütung vereinbaren die Vertragsparteien ein monatliches Pauschalhonorar in Höhe von 35% des Nettoumsatzes, den der Auftraggeber mit den vom Auftragnehmer zu bearbeitenden Aufträgen erzielt. [...]'

§ 5 Konkurrenz
(1) Der Auftragnehmer darf und soll auch für andere Auftraggeber tätig sein und erklärt, dass er bei Aufnahme dieser selbständigen Tätigkeit mehrere solcher Auftraggeber hat und die Einnahmen hieraus mehr als 1/6 der in diesem Vertrag vereinbarten Einnahmen betragen. [...]

§10 Nebenabreden, Schriftform, Schlussbestimmungen
(1) Mündliche Nebenabreden bestehen nicht. [...]“

Dem Vertrag war eine Auflistung über 30 Mandaten unter Angabe einer Mandantennummer (Mandanten des Klägers) als Anlage beigefügt. Der Beigeladene zu 1.) legte außerdem eine Liste seiner eigenen Mandanten vor (Bl. 71 der Verwaltungsakte). Ergänzend trug der Kläger im Verwaltungsverfahren vor, dass der Beigeladene zu 1.) etwa 50-55 Stunden pro Monat als freier Mitarbeiter für ihn tätig sei. Er sei dauerhaft auch für andere Auftraggeber in nicht unerheblichem Umfang tätig. Die Arbeitszeiten würden durch ihn weder kontrolliert noch seien ihm die tatsächlichen Arbeitszeiten bekannt. Der Beigeladene zu 1.) erhalte hinsichtlich der externen Aufträge ausschließlich eine variable, am mit dem jeweiligen Auftrag erwirtschafteten Umsatz orientierte Vergütung. Dies spreche - unabhängig von der Höhe der Umsatzbeteiligung - klar für die Übernahme eines eigenen unternehmerischen Risikos. Neben der Lohnabrechnung für externe Mandanten erledige der Beigeladene zu 1.) auch die Lohnabrechnung für die Belegschaft des Klägers - hierfür erhalte er eine vereinbarte Pauschale in Höhe von 250,00 Euro monatlich. Der Beigeladene zu 1.) nutze für die von ihm übernommenen Aufträge teilweise die Räumlichkeiten der Kanzlei des Klägers sowie dessen IT-Infrastruktur, wofür ihm in einem quartalsweisen Abrechnungszeitraum ein pauschaliertes monatliches Nutzungsentgelt in Höhe von 35,00 Euro (netto) in Rechnung gestellt werde. Der Kläger legte ergänzend die Rechnungen des Beigeladenen zu 1.) für die Monate Januar bis August 2018 vor (Bl. 135 ff. der Verwaltungsakte). Der Beigeladene zu 1.) gab im Rahmen des Antrages an, dass er eigene Arbeitnehmer beschäftige (Betriebsnummer XXX1); tatsächlich beschäftigte er lediglich bis 2017 eine Angestellte. 

Der Kläger und der Beigeladene zu 1.) erhielten mit Schreiben der Beklagten vom 15.10.2018 im Rahmen einer Anhörung Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Entscheidung über das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung. Der Kläger wies ergänzend u.a. daraufhin, dass der Beigeladene zu 1.) gegenüber den Mandanten des Klägers als freier Mitarbeiter aufgetreten sei und seine Schreiben bzw. E-Mails wie folgt unterzeichnet habe: „Mit freundlichen Grüßen - D. Steuerfachangestellter - im Auftrag für (…)“. Die Beklagte stellte mit Bescheiden vom 10.12.2018 gegenüber dem Kläger und dem Beigeladenen zu 1.) fest, dass die Tätigkeit des Beigeladenen zu 1.) als Lohnbuchhalter für den Kläger seit dem 01.01.2018 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde. In dem Beschäftigungsverhältnis bestehe Versicherungspflicht in der Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung. Gegen den Bescheid legten der Kläger und der Beigeladene zu 1.) form- und fristgerecht Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheiden vom 03.07.2019 wies die Beklagte die Widersprüche als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 06.08.2019 Klage zum Sozialgericht Gießen erhoben und zur Klagebegründung ausgeführt: Bei dem Beigeladenen zu 1.) würden die Voraussetzungen einer selbstständigen Tätigkeit vorliegen, weshalb der streitgegenständliche Bescheid aufzuheben und festzustellen sei, dass zwischen ihm und dem Kläger kein Beschäftigungsverhältnis mit Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung bestehe. Das Auftragsverhältnis mit dem Beigeladenen zu 1.) habe bereits zum 31.12.2018 geendet. Bei dem Kläger stünden ca. acht Pool-Arbeitsplätze zur Verfügung, wobei jeder Arbeitsplatz mit einem PC, Bildschirm, Telefon, Tisch, Stuhl, etc. ausgestattet sei. Auch der Beigeladene zu 1.) habe sich während des Auftragsverhältnisses einen solchen Pool-Arbeitsplatz aussuchen müssen; einen fest zugewiesenen Arbeitsplatz habe er bei dem Kläger nicht gehabt. Wenn der Beigeladene zu 1.) von zu Hause gearbeitet habe, habe er seine eigene Hardware, insbesondere seinen eigenen PC, genutzt. Die Verbindung zu dem Geschäftsserver sei dann über eine gesicherte VPN-Verbindung erfolgt. An die zeitliche Aufteilung zwischen der Tätigkeit vor Ort in den Räumlichkeiten des Klägers und der Tätigkeit bei dem Beigeladenen zu 1.) zu Hause könne sich der Kläger nicht erinnern. Diesbezüglich habe es keinerlei Vorgaben gegeben. Der Beigeladene zu 1.) habe gemäß dem mit ihm geschlossenen Vertrag zu jeder Zeit die freie Wahl gehabt, zusätzliche Mandate anzunehmen oder auch abzulehnen. Es habe in der Kanzlei des Klägers festangestellte Mitarbeiter gegeben, die teilweise die gleiche Tätigkeit (Lohnbuchhaltung) ausgeführt hätten wie der Beigeladene zu 1.). Der Beigeladene zu 1.) habe von dem Kläger keine Visitenkarte und auch keine personenspezifische E-Mail-Adresse erhalten. Es habe bei dem Kläger eine Pool-E-Mail-Adresse für die Lohnbuchhaltung gegeben, auf die der Beigeladene zu 1.) auch hätte zugreifen können. Zudem habe der Beigeladene zu 1.) auch direkte Aufträge von Mandanten des Klägers erhalten. Diese eigenen Aufträge habe er dann auch gegenüber den Mandanten eigenständig und selbstständig direkt in Rechnung gestellt und abgerechnet. Dies sei nicht über die Kanzlei gegangen. Dem Beigeladenen zu 1.) sei kein Urlaub gewährt worden. Etwaigen Urlaub, von dem der Kläger aber keine Kenntnis gehabt habe, habe der Beigeladene zu 1.) selbst den Fristensachen angepasst. Der Beigeladene zu 1.) habe in dem Zeitraum Januar bis Dezember 2018 mehrere weitere Auftraggeber gehabt. Der Kläger gehe von mindestens 20 weiteren Auftraggebern aus, davon zwei weitere größere Steuerkanzleien. Die Beklagte hat im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Ausgangs- und Widerspruchsbescheid verwiesen. Nach Gesamtwürdigung aller zur Beurteilung der Tätigkeit relevanten Tatsachen würden die Merkmale für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis überwiegen. Diese würden sich wie folgt darstellen: Zur Ausübung der Tätigkeit werde die angemietete Software des Klägers genutzt. Es werde ein Arbeitsplatz in den Räumen des Klägers zur Verfügung gestellt. Die Tätigkeit könne aufgrund der Softwarenutzung nicht autark ausgeübt werden. Die Mandate würden zugewiesen werden. Eigene vertragliche Beziehungen zu den Mandanten würden nicht bestehen. Es werde lediglich eine Vergütung von 35% des Nettoumsatzes gezahlt. Die Mandate würden nur in einem Teilbereich bearbeitet werden. Die Bearbeitung der Mandate erfolge fortlaufend; dadurch sei eine fortwährende Vergütung gewährleistet. Es würden weiterhin allgemeine Arbeiten übernommen, die nach Stunden bezahlt werden würden. Es bestehe ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis zum Kläger. Es könnten keine unternehmerischen Chancen wahrgenommen werden. Es bestehe ein Kontrollrecht und damit auch ein Weisungsrecht des Klägers.

Das Sozialgericht Gießen hat mit Beschlüssen vom 29.10.2020 und 16.09.2021 Herrn D. sowie die Deutsche Rentenversicherung Hessen notwendig zum Verfahren beigeladen (§ 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) sowie den Kläger und Beigeladenen zu 1.) im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 29.09.2022 angehört (Sitzungsniederschrift vom 29.09.2022, Bl. 101 ff. der elektronischen Gerichtsakte). 

Das Sozialgericht Gießen hat mit Urteil vom 29.09.2022 der Klage stattgegeben, den Bescheid der Beklagten vom 10.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.07.2019 wird aufgehoben und festgestellt, dass die Tätigkeit des Beigeladenen zu 1.) bei dem Kläger in der Zeit vom 01.01.2018 bis zum 31.12.2018 als Lohnbuchhalter nicht im Rahmen eines abhängigen und damit dem Grunde nach sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt wurde.

Nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV könnten die Beteiligten schriftlich eine Entscheidung der nach § 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV zuständigen Beklagten beantragen, ob eine Beschäftigung vorliege, es sei denn, die Einzugsstelle oder ein anderer Versicherungsträger habe im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet. Die Beklagte entscheide aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände, ob eine Beschäftigung vorliege (§ 7a Abs. 2 SGB IV). Einen entsprechenden Antrag auf Statusfeststellung hätten der Kläger und der Beigeladene zu 1.) am 06.07.2018 gestellt. Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt seien, unterlägen in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, in der sozialen Pflegeversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung der Versicherungs- bzw. Beitragspflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), § 1 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), § 20 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. Ti Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI), § 25 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III)). In dem vorliegenden Fall sei eine Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung nicht streitig, weil der Beigeladene zu 1.) auch in dem streitgegenständlichen Zeitraum hauptberuflich selbstständig erwerbstätig gewesen sei (§ 5 Abs. 5 SGB V, § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB XI).

Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer Beschäftigung sei § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV. Danach sei eine Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung seien eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts setze eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig sei. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb sei dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert sei und dabei einem hinsichtlich Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliege. Diese Weisungsgebundenheit könne - vornehmlich bei Diensten höherer Art - eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess verfeinert“ sein. Demgegenüber sei eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft sowie die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig sei, richte sich danach, welche Umstände das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägten und welche Merkmale überwögen (st. Rspr; vgl. z. B. BSG, Urteil vom 30.04.2013 - 12 KR 19/11 R -, juris Rn. 13). Das könne bei manchen Tätigkeiten dazu führen, dass sie in Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen sowohl als Beschäftigung als auch im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses ausgeübt werden könnten (vgl. BSG, Urteil vom 31.03.2017 - 12 R 7/15 R -, juris Rn. 21, m. w. N.). Das Gesamtbild bestimme sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinn seien die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus des abhängig Beschäftigten erlaubten. Ausgangspunkt der Prüfung sei zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergebe oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lasse. Eine im Widerspruch zur ursprünglich getroffenen Vereinbarung stehende tatsächliche Beziehung und die hieraus gezogene Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung gehe der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine - formlose - Abbedingung rechtlich möglich sei. Umgekehrt gelte, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich sei, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen sei. In diesem Sinne gelte, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag gäben, wenn sie von den Vereinbarungen abwichen. Maßgebend sei die Rechtsbeziehung so wie sie praktiziert werde, und die praktizierte Beziehung, so wie sie rechtlich zulässig sei (vgl. BSG, Urteil vom 29.08.2012 - 12 KR 25/10 R juris Rn. 16, m. w. N.). Zur Abgrenzung von Beschäftigung und Selbstständigkeit sei vom Inhalt der zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarungen auszugehen (BSG, Urteil vom 29.07.2015 - 12 KR 23/13 - juris, Rn. 17 - auch zum Folgenden). Dazu sei zunächst deren Inhalt konkret festzustellen. Lägen schriftliche Vereinbarungen vor, so sei neben deren Vereinbarkeit mit zwingendem Recht auch zu prüfen, ob mündliche oder konkludente Änderungen erfolgt seien. Diese seien ebenfalls nur maßgeblich, soweit sie rechtlich zulässig seien. Schließlich sei auch die Ernsthaftigkeit der dokumentierten Vereinbarungen zu prüfen und auszuschließen, dass es sich hierbei um einen bloßen „Etikettenschwindel“ handele, der unter Umständen als Scheingeschäft im Sinne des § 117 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zur Nichtigkeit dieser Vereinbarungen und der Notwendigkeit führen könne, gegebenenfalls den Inhalt eines hierdurch verdeckten Rechtsgeschäfts festzustellen. Erst auf Grundlage der so getroffenen Feststellungen über den (wahren) Inhalt der Vereinbarungen sei eine wertende Zuordnung des Rechtsverhältnisses zum Typus der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit vorzunehmen.

Nach den genannten Grundsätzen gelange die Kammer unter Abwägung aller Umstände zu der Überzeugung, dass der Beigeladene zu 1.) im streitgegenständlichen Zeitraum keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bei dem Kläger ausgeübt habe und daher nicht der Sozialversicherungspflicht unterliege. Aufgrund des vorliegenden Vertrags über freie Mitarbeit, der vorgelegten Unterlagen und Rechnungen, sowie der konsistenten Angaben des Klägers im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gehe die Kammer davon aus, dass der Beigeladene zu 1.) für den Kläger im gesamten streitigen Zeitraum als Lohnbuchhalter in dessen Steuerkanzlei mitgewirkt habe. Er habe bis auf wenige Ausnahmen eine Vergütung in Höhe von 35% des Nettoumsatzes erhalten. Die Mandate, die von dem Beigeladenen zu 1.) zu bearbeiten gewesen seien, seien zunächst durch den Vertrag über die freie Mitarbeit bestimmt gewesen, anschließend seien im Laufe der Auftragszeit noch wenige weitere Mandanten und Mandate hinzugekommen. Dabei sei der Beigeladene zu 1.) frei gewesen zu entscheiden, ob er einen weiteren Auftrag bearbeiten wolle. Nach der glaubhaften Aussage des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung am 29.09.2022 sei Grund für die Beauftragung des Beigeladenen zu 1.) gewesen, dass dieser Arbeiten der Lohnbuchhaltung habe erledigen sollen, die über die Kapazitäten der festangestellten Mitarbeiter hinausgegangen seien. In Einzelfällen habe der Beigeladene zu 1.) auch eigene Mandanten in die Kanzlei des Klägers mitgebracht. Der Beigeladene zu 1.) habe die Tätigkeit sowohl in den Räumlichkeiten des Klägers als auch zu Hause ausgeübt. Er habe keinen festen Arbeitsplatz in der Kanzlei gehabt, sondern sich vielmehr einen aus einem Pool an Arbeitsplätzen ausgesucht. Wenn er in den Kanzleiräumlichkeiten gearbeitet habe, habe er die dort zur Verfügung gestellte Hardware genutzt. Bei seiner Tätigkeit von zu Hause aus habe er seinen eigenen PC genutzt. Der Beigeladene zu 1.) habe die ihm übertragenen Mandate grundsätzlich eigenständig und ohne Inanspruchnahme von anderen Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern des Klägers erledigt. 

Die Tätigkeit als Lohnbuchhalter könne grundsätzlich sowohl in abhängiger Beschäftigung wie auch selbstständig ausgeübt werden. Im vorliegenden Einzelfall liege jedoch die typische Konstellation einer freien Mitarbeit vor, die der Annahme einer abhängigen Mitarbeit entgegenstehe. Eine maßgebliche Eingliederung des Beigeladenen zu 1.) in den Betrieb des Klägers oder eine Weisungsabhängigkeit liege unter Berücksichtigung der Gesamtumstände nicht vor. Es habe keinerlei Weisungen im Hinblick auf die einzelnen Mandate gegeben, wie auch in zeitlicher Hinsicht. Der Beigeladene zu 1.) habe völlig frei entscheiden können, zu welchen Zeiten er nach Auftragsannahme die Arbeiten ausführe. Es habe lediglich festgestanden bzw. sei durch gesetzliche Abgabefristen festgelegt gewesen, bis wann die Mandatsbearbeitung (die Lohnbuchhaltung) habe abgeschlossen werden müssen. Dieser Gesichtspunkt sei jedoch bei den hier zu beurteilenden Tätigkeiten von untergeordneter Bedeutung gewesen, denn dies ergebe sich bei der Erstellung der Lohnbuchhaltung schon aus der Natur der Sache. Auch dass der Beigeladene zu 1.) die Tätigkeiten unter anderem in den Räumlichkeiten des Klägers mit dessen Büroausstattung ausgeführt habe, spreche im vorliegenden Einzelfall nicht für eine Eingliederung in die Betriebsorganisation. Diese Arbeitsweise sei zum einen der Praktikabilität und Effizienz geschuldet und sei auch im Übrigen nicht zwingend gewesen. Für die Nutzung der Räumlichkeiten und der Software habe der Kläger dem Beigeladenen zu 1.) ein pauschaliertes monatliches Nutzungsentgelt in Höhe von 35,00 Euro (netto) in Rechnung gestellt.
Eine Abschlussbesprechung und Endkontrolle der Arbeiten des Beigeladenen zu 1.) durch den Kläger habe nicht stattgefunden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.10.2018 - L 11 R 1095/17, das selbst bei Vorliegen einer solchen Abschlussbesprechung und Endkontrolle eine selbstständige Tätigkeit nicht ausschließe, da „nicht jede Zuarbeit [...] eine abhängige Beschäftigung [sei], dies würde eine freie Mitarbeit nicht mehr ermöglichen“.).

Die Möglichkeit, Aufträge anzunehmen oder abzulehnen, könne als Indiz für das Vorliegen einer selbstständigen Tätigkeit angesehen werden, weil damit der Beigeladene zu 1.) über den Umfang seiner Tätigkeit selbst bestimme. Doch seien ebenso im Rahmen abhängiger Beschäftigung Vertragsgestaltungen nicht unüblich, die es weitgehend dem Beschäftigten überließen, wie er im Anforderungsfall tätig werden wolle oder ob er eine Anfrage ablehne (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.07.2013 - L 11 R 1083/12). In Abruf- oder Aushilfsbeschäftigungsverhältnissen, in denen auf Abruf oder in Vertretungssituationen, beispielsweise bei Erkrankung und Ausfall von Mitarbeitern, lediglich im Bedarfsfall auf bestimmte Kräfte zurückgegriffen werde, könne die Möglichkeit eingeräumt sein, eine Anfrage abzulehnen. Dieses Kriterium habe daher im vorliegenden Fall keine große Aussagekraft. Dennoch spreche insbesondere der Umstand, dass der Beigeladene zu 1.) auch in wenigen Fällen eigene Mandanten in die Kanzlei mitgebracht habe, für eine selbstständige Tätigkeit.

Ergäben die in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV genannten Anhaltspunkte damit zwar kein einheitliches, aber doch überwiegend für eine selbstständige Tätigkeit sprechendes Bild, werde dies durch andere Abgrenzungskriterien bestätigt. Dies gelte insbesondere mit Blick auf die Frage, ob der Beigeladene zu 1.) ein Unternehmerrisiko, das im Rahmen der Würdigung des Gesamtbildes zu beachten sei (BSG, Beschluss vom 16.08.2010 - 12 KR 100/09 - juris, Rn. 10 m. w. N.), getragen habe, auch wenn das Vorliegen eines Unternehmerrisikos nicht schlechthin entscheidend sei (BSG, a.a.O.). Der Beigeladene zu 1.) habe über ein Unternehmerrisiko insofern verfügt als er verpflichtet gewesen sei, alle anfallenden Lohnbuchhaltungsarbeiten der Mandanten des Klägers zu erfüllen, auch wenn dies seine eigenen zeitlichen Kapazitäten überfordert habe. Mit dem Kläger sei fast ausschließlich eine Vergütung nach Umsatzbeteiligung und nicht auf Stundenbasis vereinbart gewesen, so dass der Beigeladene zu 1.) auch diesbezüglich das wirtschaftliche Risiko getragen habe. Selbstständige trügen ein Unternehmerrisiko unter anderem dann, wenn der Erfolg des Einsatzes ihrer Arbeitskraft ungewiss sei; das gelte namentlich, wenn ihnen kein Mindesteinkommen garantiert sei (BSG, Urteil vom 27.03.1980 - 12 RK 26/79 - juris, Rn. 23; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.02.2015 - L 11 R 5165/13 - juris, Rn. 72). Ein Mindesteinkommen sei dem Beigeladenen zu 1.) nicht garantiert gewesen, denn seine Vergütung sei davon abhängig gewesen, dass er tatsächlich tätig geworden sei. Ob die vereinbarte Umsatzbeteiligung einen angemessenen Gegenwert für seine tatsächlich gearbeiteten Stunden dargestellt habe, habe ebenfalls seinem wirtschaftlichen Risiko unterlegen. Jegliche Arbeit für ein Mandat sei mit der pauschalisierten Umsatzbeteiligung abgegolten gewesen; gegebenenfalls angefallene Mehrarbeit sei nicht zusätzlich vergütet worden. Der Einsatz eigenen Kapitals bzw. eigener Betriebsmittel sei hingegen keine notwendige Voraussetzung für eine selbstständige Tätigkeit (BSG, Urteil vom 27.03.1980 - 12 RK 26/79 - juris, Rn. 23). Dies gelte schon deshalb, weil anderenfalls geistige oder andere betriebsmittelarme Tätigkeiten nie selbstständig ausgeübt werden könnten (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.2013 - 12 R 3/12 R - juris, Rn. 25). 

Für eine selbstständige Tätigkeit spreche auch, dass der Beigeladene zu 1.) neben dem Kläger noch weitere Auftraggeber gehabt habe, für die er gleichgelagerte Tätigkeiten erbracht habe. Zwar sei für jedes Vertragsverhältnis die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung gesondert vorzunehmen, jedoch spreche der Umstand, für mehrere Auftraggeber tätig zu sein, für eine selbstständige Tätigkeit, nicht zuletzt, weil er die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Auftraggeber bzw. Arbeitgeber reduziert oder gar aufhebe. Hiervon seien übrigens auch die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung in ihrem gemeinsamen Rundschreiben zum Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit vom 20.12.1999 (abgedruckt in NZA 2000, 190 ff.) ausgegangen, wonach ein Tätigwerden für mehrere Auftraggeber als ein Merkmal klassifiziert werde, dass bei der Abwägung „ein sehr starkes Gewicht“ für die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit habe (Anlage 2, Ziffer 3.2., NZA 2000, 190 (197)). Es sei im Übrigen auch keineswegs üblich, dass Arbeitnehmer mehrere Auftraggeber hätten. Vielmehr entspreche es der Regel, dass Arbeitnehmer jeweils nur einen Arbeitgeber haben (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.01.2016 – L 4 R 2796/15 – juris, Rn. 81).

Gegen das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung spreche auch, dass der Beigeladene zu 1.) keinen bezahlten Urlaub erhalten habe (vgl. BSG, Urteil vom 12.02.2004 - 12 KR 26/02 R - juris, Rn. 25). Beim Anspruch auf bezahlten Urlaub handele es sich um ein Recht, das im Regelfall Arbeitnehmern vorbehalten sei. Selbstständigen räume das Gesetz vergleichbare Ansprüche gegenüber ihrem Vertragspartner nur im Ausnahmefall der arbeitnehmerähnlichen Personen ein (vgl. § 2 Satz 2 Bundesurlaubsgesetz (BUrIG)), so dass die tatsächliche Gewährung von bezahltem Erholungsurlaub ein Indiz für das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses sei. Dem Beigeladenen zu 1.) sei hingegen kein bezahlter Erholungsurlaub gewährt worden.

Auch das Fehlen eines Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sei nach der Rechtsprechung des Bundesssozialgerichts Indiz für eine selbstständige Tätigkeit anzusehen (BSG, Urteil vom 12.02.2004 - 12 KR 26/02 R - juris, Rn. 26). Bei der Entgeltfortzahlung handele es sich ebenfalls um ein typischerweise Arbeitnehmern vorbehaltenes Recht. Selbstständigen räume das Gesetz vergleichbare Ansprüche gegenüber ihren Vertragspartnern nicht ein. Sei der Beigeladene zu 1.) krankheitsbedingt ausgefallen und deshalb die versprochene Arbeitsleistung unterblieben, habe er keinen Anspruch auf eine Vergütung gehabt und eine solche auch tatsächlich nicht erhalten. Solche Vertragsgestaltungen seien konsequent, wenn beide Seiten eine selbstständige freie Mitarbeit wollten. Insofern gelte zwar, dass dem keine entscheidende Bedeutung zukommen könne, wenn die für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung maßgeblichen Kriterien Weisungsabhängigkeit und Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers - bereits zur Annahme einer abhängigen Beschäftigung führten. In einem solchen Fall würden vertragliche Absprachen oder deren Unterlassen durch die gesetzlichen Vorschriften über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und über Urlaubsansprüche verdrängt bzw. ersetzt. Entscheidend sei hier aber die tatsächliche Handhabung durch die Beteiligten (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.04.2016 - L 4 KR 1612/15 - juris, Rn. 97; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Oktober 2014 - L 11 R 4761/13 - juris, Rn. 35), die belege, dass der Ausschluss eines Lohnfortzahlungsanspruchs im Krankheitsfall nicht nur zum Schein vereinbart, sondern tatsächlich auch so praktiziert worden sei.

Dass der Kläger vor, während und nach dem streitgegenständlichen Zeitraum die gleichen Tätigkeiten von abhängig Beschäftigten habe ausüben lassen, gebe für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung nichts her. Viele Tätigkeiten seien sowohl in abhängiger Beschäftigung als auch in Gestalt selbstständiger Tätigkeit möglich. Es komme dann jeweils auf die konkreten Vereinbarungen und die tatsächliche Durchführung an, ohne dass Rückschlüsse von einem Mitarbeiter auf einen anderen gezogen werden könnten. Der Beigeladene zu 1.) habe sich im Rahmen seines Auftragsverhältnisses gerade um die Lohnbuchhaltung der Mandanten kümmern sollen, für die die übrigen Beschäftigten keine Kapazitäten mehr gehabt hätten. Es sei demnach zu keiner Zeit beabsichtigt gewesen, den Mitarbeiterstamm des Klägers auf unbestimmte Zeit zu erweitern. Der Beigeladene zu 1.) habe lediglich für einen abgrenzbaren Zeitraum bei der Be- und Abarbeitung vorhandener Mandate behilflich sein sollen. Insgesamt überwögen damit die Umstände, die für eine selbstständige Tätigkeit sprächen, deutlich gegenüber denjenigen, die auf eine abhängige Beschäftigung schließen ließen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 24.10.2022 zugestellte Urteil am 02.11.2022 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht erhoben und zur Begründung vorgetragen: Der Beigeladene zu 1.) sei weisungsgebunden im Sinne einer funktionsgerecht dienenden Teilhabe in der fremden Arbeitsorganisation eingebunden gewesen. Er habe die Mandate des Klägers bearbeitet. Nach den Angaben der Beteiligten handele es sich dabei um Mandanten des Klägers, die nicht durch das festangestellte Personal des Klägers hätten abgedeckt werden können. Der Beigeladene zu 1.) habe somit Tätigkeiten wie das festangestellte Personal erledigt. Die Mandatsbeziehung habe ausschließlich zum Kläger bestanden, dem auch das Kontroll- und Letztentscheidungsrecht oblegen habe; die „Abnahme“ der Leistung sei somit durch den Kläger erfolgt. Die Verantwortung sei bei dem Kläger verblieben. Insofern fehle es an einer Weisungsfreiheit. Dass der Beigeladene zu 1.) ggf. im Innenverhältnis gegenüber dem Kläger hafte, sei nicht maßgeblich. Ebenso komme es nicht darauf an, dass der Beigeladene zu 1.) nicht ausschließlich in den Räumen des Klägers tätig geworden sei oder eigene Mandanten betreut habe. Darüber hinaus sei weder unternehmerisches Risiko noch eine unternehmerische Chance erkennbar: Der Beigeladene zu 1.) habe ein monatliches Pauschalhonorar in Höhe von 35 % des Nettoumsatzes, den der Auftraggeber (Kläger) mit dem vom Auftragnehmer [Beigeladener zu 1.)] zu bearbeitenden Aufträgen erzielt habe, erhalten. Insoweit werde auch auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 27.04.2021 (B 12 KR 27/19 R, Rdnr. 15 -juris) verwiesen, das auf diesen Sachverhalt übertragbar sei. In dem Urteil sei ausgeführt: 

„Unabhängig hiervon war der Kläger in die Arbeitsorganisation der Klägerin eingegliedert. Er war lediglich im Wege einer "Unterbeauftragung" tätig (§ 1 Abs 2 FMV). Indem er prozentual an den von der Klägerin den Mandanten in Rechnung gestellten Gebühren partizipierte (§ 3 Abs 1 FMV), war er in deren Abrechnungsstruktur eingebunden. Der Kläger konnte nicht konkret aufwandsbezogen gegenüber der Klägerin, zB nach Stunden, abrechnen. Angesichts dieser Weisungsunterworfenheit und Eingliederung des Klägers fallen Anhaltspunkte für eine selbstständige Tätigkeit nicht entscheidend ins Gewicht. Die Freiheit bei Ort und Zeit der Tätigkeit spricht in der modernen Arbeitswelt nicht zwingend für Selbstständigkeit. Es kommt nicht darauf an, dass die Klägerin das ihr zustehende Weisungsrecht faktisch nicht ausgeübt hat. Ein rein faktisches, nicht rechtlich gebundenes und daher jederzeit änderbares Verhalten der Beteiligten ist nicht maßgeblich. Eine "Schönwetter-Selbstständigkeit" lediglich in harmonischen Zeiten ist mit dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit sozialversicherungs- und beitragsrechtlicher Tatbestände nicht zu vereinbaren (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 19.09.2019 - B 12 R 25/18 R - BSGE 129, 95 = SozR 4-2400 § 7 Nr 43, RdNr 15 mwN). Ein die Selbstständigkeit bedingendes unternehmerisches Risiko bestand nicht. Der Verlust von Mandaten berührt die Vergütung der zuvor vom Kläger erbrachten Tätigkeiten nicht. Eine Ausdehnung seiner Geschäftstätigkeit als Ausfluss unternehmerischer Entscheidungen war immer von einem mit der Klägerin zustande gekommenen Mandatsverhältnis abhängig ..." 

Entgegen der Ausführungen des Sozialgerichts sei weder der fehlende Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall noch der fehlende Anspruch auf bezahlten Urlaub ein Indiz für eine selbstständige Tätigkeit. 

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 29.09.2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das von der Beklagten zitierte Urteil des Bundessozialgerichts vom 27.04.2022 (B 12 KR 27/19 R) sei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht übertragbar. Während in dem vom Bundessozialgericht zu entscheidenden Fall die Weisungsgebundenheit und fachliche Aufsicht bereits vertraglich festgelegt worden sei, besitze vorliegend der Beigeladene zu 1.) als erfahrener Lohnbuchhalter die Expertise und alleinige fachliche Aufsicht sowie Verantwortung für seine Tätigkeit. Der Beigeladene zu 1.) kommuniziere allein und ausschließlich mit Mandanten, deren Mitarbeitern und Behörden. Zudem sei der Beigeladene zu 1.) nicht verpflichtet gewesen, die Leistungen persönlich zu erbringen, sondern sei vertraglich berechtigt gewesen, hierzu Erfüllungsgehilfen einzusetzen. Zudem habe der Beigeladene zu 1.) neben dem Kläger noch zahlreiche weitere eigene Kunden und Mandanten betreut, was aus Sicht des Klägers ein durchaus gewichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit sei. Anders als in dem zitierten Urteil des Bundessozialgerichts habe der Beigeladene zu 1.) jederzeit in Konkurrenz zum Kläger treten können und habe dies auch getan: Der Beigeladene zu 1.) habe den Zuschnitt seines übrigen Auftragsbestandes jederzeit nach Belieben ändern können, was für ein unternehmerisches Tätigwerden zum eigenen Vorteil spreche. Entgegen der Ausführungen der Beklagten habe der Beigeladene zu 1.) gerade nicht ausschließlich die Mandate des Klägers bearbeitet. Die Beurteilung des sozialversicherungsrechtlichen Status könne auch nicht nur auf die Aufträge des Klägers reduziert werden. Zwar werde der Grad der persönlichen Abhängigkeit als hoch indiziert, wenn nur mit diesem, nicht jedoch mit weiteren Dritten, unmittelbare Auftragsverhältnisse bestünden. Daher sei auch unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts das etwaige „Bestehen weiterer Auftraggeber in nicht unerheblichem Umfang“ nach wie vor ein Kriterium gegen die persönliche Abhängigkeit. Der Kläger habe die Arbeit des Beigeladenen zu 1.) auch nicht kontrolliert. Wenn im Schreiben des Klägers vom 14.08.2018 davon die Rede sei, dass er das letzte Kontrollrecht habe, so interpretiere die Beklagte dies unzutreffend: In der Praxis habe sich der Kläger mit den Arbeitsergebnissen des Beigeladenen zu 1.) nur sporadisch und regelmäßig erst erhebliche Zeit nach erfolgter Auftragserledigung, z.B. bei Betriebsprüfungen oder Jahresabschlussarbeiten befasst. Von einer „Abnahme“ von Arbeitsergebnissen könne schon deshalb vorliegend keine Rede sein. Hinzu komme, dass für jedwede Art von Kontrollen bzw. Abnahmen seitens des Klägers keine Notwendigkeit bestanden habe. Der Beigeladene zu 1.) verfüge über eine ausreichende Deckung durch seine Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung, auf die die jeweiligen Auftraggeber gegebenenfalls hätten zugreifen können. Schließlich habe der Beigeladene zu 1.) in eigener Organisation und Verantwortung u. a. Sorge für seine fachliche Fortbildung sowie für seine Versicherung gegen Schäden aus fehlerhafter Auftragsbearbeitung getragen und in erheblichem Umfang eigene Arbeitsmittel eingesetzt. Ergänzend werde auf das bisherige Vorbringen sowie das erstinstanzliche Urteil verwiesen. 

Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.

Die Berichterstatterin des Senats hat den Kläger und den Beigeladenen zu 1.) ergänzend im Rahmen des Erörterungstermins am 23.01.2023 angehört; auf die Sitzungsniederschrift vom 23.01.2023 (Bl. 238 ff. der elektronischen Gerichtsakte) wird verwiesen. 

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidung waren, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Entscheidung konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung ergehen, da sich die Beteiligten mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben, §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

Das Sozialgericht Gießen hat der Klage mit Urteil vom 29.09.2022 zu Recht stattgegeben, den Bescheid der Beklagten vom 10.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.07.2019 aufgehoben und festgestellt, dass die Tätigkeit des Beigeladenen zu 1.) bei dem Kläger in der Zeit vom 01.01.2018 bis zum 31.12.2018 als Lohnbuchhalter nicht im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt wurde. 

Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils. Sie sind überzeugend und würdigen die fallentscheidenden Aspekte unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung vollständig.

Der Vortrag der Beklagten im Berufungsverfahren begründet keine andere Entscheidung. 

Ergänzend führt der Senat aus:

Bei der Statusbeurteilung ist regelmäßig vom Inhalt der zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarungen auszugehen, den die Verwaltung und die Gerichte konkret festzustellen haben. Liegen schriftliche Vereinbarungen vor, so ist neben deren Vereinbarkeit mit zwingendem Recht auch zu prüfen, ob mündliche oder konkludente Änderungen erfolgt sind. Schließlich ist auch die Ernsthaftigkeit der dokumentierten Vereinbarungen zu prüfen. Erst auf der Grundlage der so getroffenen Feststellungen über den (wahren) Inhalt der Vereinbarungen ist eine wertende Zuordnung des Rechtsverhältnisses zum Typus der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit vorzunehmen (st. Rspr. des Bundessozialgerichts, u.a. BSG Urteil vom 07.06.2019, B 12 R 6/18 R m.w.N.). Diese wertende Zuordnung kann grundsätzlich nicht mit bindender Wirkung für die Sozialversicherung durch die Vertragsparteien vorgegeben werden, indem sie z.B. vereinbaren, eine selbstständige Tätigkeit zu wollen. Denn der besondere Schutzzweck der Sozialversicherung schließt es aus, dass über die rechtliche Einordnung einer Person - als selbstständig oder beschäftigt - allein die Vertragsschließenden entscheiden. Über zwingende Normen kann nicht im Wege der Privatautonomie verfügt werden. Vielmehr kommt es entscheidend auf die tatsächliche Ausgestaltung und Durchführung der Vertragsverhältnisse an (vgl. BSG Urteil vom 19.10.2021, B 12 R 10/20 R RdNr. 22 m.w.N.). Allenfalls wenn nach der Gesamtabwägung aller Umstände diese gleichermaßen für Selbstständigkeit wie für eine abhängige Beschäftigung sprechen, kann im Einzelfall dem Willen der Vertragsparteien eine gewichtige indizielle Bedeutung zukommen (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2022, B 12 R 3/20 R, BSG, Urteil vom 14.03.2018, B 12 R 3/17 R).

Die sich an diesen Maßstäben orientierende Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit ist nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder vorzunehmen. Es ist daher möglich, dass ein und derselbe Beruf - je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen in ihrer gelebten Praxis - entweder in Form der Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird. Abstrakte, einzelfallüberschreitende Aussagen im Hinblick auf bestimmte Berufs- oder Tätigkeitsbilder sind daher grundsätzlich nicht - auch nicht im Sinne einer "Regel-Ausnahme-Aussage" - möglich (BSG, Urteil vom 27.04.2021 - B 12 R 16/19 R - juris RdNr. 15). 

Nach den vom Sozialgericht zutreffend dargelegten Grundsätzen gelangt auch der Senat zu der Überzeugung, dass der Beigeladene zu 1.) im streitgegenständlichen Zeitraum keine abhängige Beschäftigung ausgeübt hat, sondern selbstständig tätig war. Aus Sicht des Senats sprechen nach der Gesamtabwägung aller Umstände, wie sie sich aus den vorgelegten Unterlagen sowie den Angaben des Klägers und des Beigeladenen zu 1.) im Rahmen des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens ergeben, diese gleichermaßen für eine Selbstständigkeit wie für eine abhängige Beschäftigung, so dass im vorliegenden Einzelfall dem Willen der Vertragsparteien, eine selbstständige Tätigkeit zu vereinbaren, ausnahmsweise eine gewichtige indizielle Bedeutung zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2022, B 12 R 3/20 R; BSG Urteil vom 14.03.2018, B 12 R 3/17 R).

Der heute 63 Jahre alte Beigeladene zu 1.) ist seit fast 40 Jahren selbstständig tätig und bietet seit 1984 Buchhaltungsdienstleistungen insbesondere im Bereich der Lohnbuchhaltung für verschiedene Auftraggeber an. Der Beigeladene zu 1.) ist seit 1984 privat kranken- und rentenversichert, hat sowohl eine Berufshaftpflicht- und Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung abgeschlossen und seit 1984 auch ein entsprechendes Gewerbe angemeldet. In dem hier streitigen Zeitraum war er neben dem Kläger für mindestens 18 weitere Auftraggeber tätig (vgl. Bl. 71 der Verwaltungsakte). Diese Tätigkeit bewertet auch die Beklagte als eine selbstständige Tätigkeit und stellt Versicherungsfreiheit in der Kranken- und Pflegeversicherung wegen hauptberuflicher selbstständiger Erwerbstätigkeit gemäß § 5 Abs. 5 SGB V in Verbindung mit § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB XI fest. 

Für den Kläger war der Beigeladene zu 1.) aufgrund des „Vertrag(es) über freie Mitarbeit“ vom 02.01.2018 tätig. Er war mit der „selbständige(n) Bearbeitung und Erstellung der laufenden Lohnabrechnung (inkl. der Vorbereitung von Lohnsteueranmeldungen, der Erstellung von Meldungen zur Sozialversicherung und Anträgen nach dem AAG-Unterstützung bei der Führung von Lohnkonten, Bereitstellung von Auswertungen für die Mandanten und gegenüber betroffenen Institutionen)“ beauftragt. Ein Weisungsrecht des Klägers war vertraglich ausdrücklich ausgeschlossen (§ 2 Abs. 1 der Vereinbarung) und wurde nach den Angaben des Klägers und des Beigeladenen zu 1.) auch tatsächlich nicht ausgeübt. Es wird insoweit auf die Ausführungen des Sozialgerichts Gießen im Urteil vom 29.09.2022 verwiesen. Der Kläger hat dies noch einmal im Rahmen des Erörterungstermins am 23.01.2023 bestätigt und glaubhaft ausgeführt, dass die durch den Kläger selbstständig erstellte Lohnbuchhaltung durch ihn nicht kontrolliert worden sei; die konkreten Buchungen, Lohnlisten, Anmeldungen etc. könne er als Steuerberater auch nicht überprüfen; insoweit fehle ihm die entsprechende Ausbildung. Erst im Rahmen der Jahresabschlüsse oder bei Steuerprüfungen und Prüfungen durch den Rentenversicherungsträger führe er Plausibilitätskontrollen hinsichtlich des Ergebnisses durch, wie er dies auch bei Lohnbuchhaltungsunterlagen, die im Betrieb anderer Mandanten durch dort angestellte Lohnbuchhalter erstellt würden, mache. 

Für den Senat ist auch nicht erkennbar, dass in dem vom Kläger umschriebenen „Kontroll- und Letztentscheidungsrecht“ eines Steuerberaters, auf das sich die Beklagte in ihrer Berufungsbegründung stützt, ein Weisungsrecht im Sinne des § 7 SGB IV enthalten ist. Bei der Verrichtung der ausschließlich beauftragten Tätigkeit „Lohnbuchhaltung“ verbleibt es nach Auffassung des Senats bei einer Weisungsfreiheit.

Der Ausschluss einer Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und von Urlaubsansprüchen sind lediglich - hierauf weist die Beklagte in ihrer Berufungsbegründung zurecht hin - Ausdruck der Intention der Vertragspartner sind, eine selbstständige Tätigkeit vereinbaren zu wollen. Auch wenn unternehmerische Freiheiten mit einer entsprechenden Vereinbarung nicht verbunden sind, kann sie nach Auffassung des Senats vorliegend ausnahmsweise als ein Indiz für die Ernsthaftigkeit der Vertragsparteien herangezogen werden, eine selbstständige Tätigkeit vereinbaren zu wollen.

Aus Sicht des Senats ist die Tatsache, dass der Beigeladene zu 1.) für die Nutzung der Software, der Hardware und der Büroräume ein Nutzungsentgelt zahlen musste, ebenso ein Indiz für eine selbstständige Tätigkeit, wie die Möglichkeit, frei zu entscheiden, von wo aus er die Arbeit erbringen wollte und ob er die Leistung selbst, durch Erfüllungsgehilfen oder - hinsichtlich neuer Aufträge - gar nicht erbracht hat. 

Auch die Tatsache, dass der Beigeladene zu 1.) mit Einträgen in den „Gelben Seiten“ (www.gelbeseiten.de), „Meine-Stadt.de“, „KlickTel“ u.a. als „Buchführungsservice“ oder „Buchführungshelfer“ werbend am Markt auftrat und noch immer auftritt und ein konkurrierendes Tätigwerden gegenüber dem Kläger vertraglich ausdrücklich gestattet war (§ 5 Abs. 1 des Vertrages), spricht aus Sicht des Senats gegen ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis und für eine Selbstständigkeit. 

Es oblag der unternehmerischen Entscheidung des Beigeladenen zu 1.), wie viel seiner Arbeitszeit er in den Auftrag des Klägers „investierte“ und damit auch, wie viel Zeit ihm für seine anderen zahlreichen Auftraggeber übrigblieb, die nach seinen Angaben im Erörterungstermin am 23.01.2023 rund 70% seines Arbeitsvolumens ausmachten. Dass die Tätigkeit des Beigeladenen zu 1.) umsatzabhängig bezahlt wurde, ist aus Sicht des Senats und entgegen den Ausführungen der Beklagten im vorliegenden Einzelfall daher ausnahmsweise ein Indiz für eine selbstständige Tätigkeit. Der Beigeladene zu 1.) kann frei über seine Arbeitszeit entscheiden und hat so auch die Möglichkeit zu entscheiden, ob er für die Lohnbuchhaltung eines klägerischen Mandanten zehn oder 100 Stunden monatlich aufwendet bzw. benötigt. Er entscheidet frei, ob er die Arbeiten binnen 24 Stunden erledigt oder sich hierfür eine Woche Zeit nimmt. Der Beigeladene zu 1.) schuldet ausschließlich die Lohnbuchhaltung für einen bestimmten Mandanten des Klägers, die er aus der Natur der Sache heraus bis zu einem bestimmten Stichtag (Monatsende/Zahlungslauf) erstellt haben muss.

Das nur geringe unternehmerische Risiko des Beigeladenen zu 1.) ist aus Sicht des Senats im vorliegenden Einzelfall kein Indiz gegen eine Selbstständigkeit. Ein unternehmerisches Tätigwerden ist bei reinen Dienstleistungen, die im Wesentlichen nur Know-how, Arbeitszeit und Arbeitsaufwand voraussetzen, ohnedies nicht mit größeren Investitionen in Werkzeuge, Arbeitsgerät oder Arbeitsmaterialien verbunden. Das Fehlen solcher Investitionen ist deshalb bei reinen Dienstleistungen kein ins Gewicht fallendes Indiz für eine (abhängige) Beschäftigung und gegen unternehmerisches Tätigwerden (BSG, Urteil vom 31.03.2017, B 12 R 7/15 R). Ein unternehmerisches Risiko bestand jedoch insoweit, als er für berufsspezifische Haftpflichtversicherungen sowie für die Nutzung der Hard- und Software des Klägers (wenn auch nur geringe) Aufwendungen hatte, welchen zunächst noch keine Einnahmen gegenüberstanden. 

Hinzu kommt, dass der Beigeladene zu 1.) durch die Art der Vergütung (§ 3 Abs. 1 des Vertrages: 35% des Nettoumsatzes, den der Kläger mit den vom Beigeladenen zu 1.) zu bearbeiteten Aufträgen erzielt) das mittelbare Risiko trug, infolge des von ihm nicht gänzlich abschätzbaren Zeitaufwands ggf. unwirtschaftlich zu arbeiten. Zwar ist zu berücksichtigen, dass mit dem Vertrag vom 02.01.2018 das Auftragsvolumen (Lohnbuchhaltung für 30 Mandanten des Klägers gemäß Anlage 3 zum Vertrag) feststand und der Beigeladene zu 1.) entsprechende Einnahmen (15% des jeweiligen Umsatzes des Klägers mit dem „Gesamtmandat“) fortlaufend einkalkulieren konnte. Dennoch verblieb das (mittelbare) wirtschaftliche Risiko des Beigeladenen zu 1.) mit hohem zeitlichen Aufwand die geschuldeten Lohnbuchhaltungsarbeiten ggf. unwirtschaftlich erledigen zu müssen. Ein solches Risiko ist einem abhängigen Beschäftigten, der nach Arbeitszeit bezahlt wird, fremd. Hinzu kommt, dass der Beigeladene zu 1.) gemäß § 8 Abs. 3 des Vertrages berechtigt war, das Auftragsvolumen entsprechend einer Teilkündigung mit einer dreimonatigen Frist zu reduzieren, um so ggf. gewinnbringendere Aufträge anderer Kunden übernehmen zu können. 

Für eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation spricht entgegen den Ausführungen des Sozialgerichts zwar, dass der Beigeladene zu 1.) nach dem Vortrag des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Gießen am 29.09.2022 auch beauftragt worden sei, um Mandanten zu bearbeiten, die zum einen nicht in der dem Vertrag angefügten Liste (Anlage 3) enthalten waren und zum anderen nicht durch das festangestellte Personal hätten abgedeckt werden können. Denn der Einsatz sog. freier Mitarbeiter zur „Abfederung von Belastungsspitzen“ ist aus Sicht des Senats grundsätzlich ein Indiz für die Eingliederung in den Betrieb des Auftraggebers und damit für eine abhängige Beschäftigung. (vgl. Hess. LSG, Urteil vom 05.03.2020, L 1 BA 14/18 <Physiotherapeut>). Hierzu ist jedoch festzustellen, dass der Beigeladene zu 1.) nur ausnahmsweise „lückenfüllend“ bei Belastungsspitzen“ eingesetzt worden war. Seine Tätigkeit für den Kläger war grundsätzlich auf die dem Vertrag beigefügte Mandantenliste beschränkt. Zudem hatte der Beigeladene zu 1.) nach § 1 Abs. 7 Satz 3 des Vertrages jederzeit die Möglichkeit, weitere Aufträge des Klägers ohne die Nennung von Gründen abzulehnen, was vor dem Hintergrund der Beauftragung durch zahlreiche andere Kunden mit Lohnbuchhaltungsarbeiten nach den Angaben der Beteiligten auch so gehandhabt wurde: Der Beigegeladene zu 1.) hat weitere Aufträge des Klägers nur annehmen können, wenn er Kapazitäten frei hatte - unabhängig von der Auslastung der Mitarbeiter des Klägers. Jedenfalls reicht aus Sicht des Senats dieses Indiz nicht aus, im Rahmen der Gesamtabwägung den Ausschlag für eine abhängige Beschäftigung zu geben. 

Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 27.04.2021 (B 12 KR 27/19 R), auf das die Beklagte in ihrer Berufungsbegründung mehrfach verweist, kann nach Auffassung des Senats vorliegend nicht herangezogen werden. Zunächst unterscheidet sich die vertragliche Ausgestaltung in dem vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall maßgeblich von dem vorliegenden Vertrag zwischen Kläger und Beigeladenen zu 1.): Während in dem vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall die Weisungsgebundenheit ausdrücklich vereinbart worden war, ist sie vorliegend ausdrücklich ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass der „Auftragnehmer“ im Fall des Bundessozialgerichts mit „steuerberatenden Tätigkeiten für Mandanten des Auftraggebers“ vor allem im Bereich der Finanzbuchhaltung (vgl. Tatbestand des zugrundliegenden Berufungsurteils des Hess. LSG, Urteil vom 20.09.2018, L 8 KR 227/15) tätig war und damit schon einem berufsrechtlichen Weisungsrecht unterlag (BSG, Urteil vom 27.04.2021, B 12 KR 27/19 R, RdNr. 15). 

Aber auch die vom Bundessozialgericht in diesem Urteil (B 12 KR 27/19 R) vorgenommene Wertung der Art der Bezahlung (wie vorliegend: prozentuale Beteiligung an den den Mandanten berechneten Gebühren) als Indiz für eine Einbindung in die Abrechnungsstruktur und damit in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers überzeugt im vorliegenden Fall nicht: In dem vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall war der Auftragnehmer lediglich in geringem Umfang und erst seit kurzer Zeit nebenberuflich für einen Steuerberater (Auftraggeber) tätig, während er im Übrigen versicherungspflichtig beschäftigt war und außerdem noch IT-Dienstleistungen in geringem Umfang für andere Auftraggeber erbracht hatte. Die Erwerbsbiografie des Beigeladenen zu 1.) im vorliegend zu entscheidenden Fall ist eine völlig andere und darf aus Sicht des Senats nicht außer Betracht bleiben: Im Hinblick auf die weiteren zahlreichen Kunden des Beigeladenen zu 1.), für die er inhaltlich identische Arbeiten (Lohnbuchhaltung) unstreitig selbstständig erledigt hat, ist er darauf angewiesen, seine Arbeitszeit betriebswirtschaftlich sinnvoll einzusetzen, was er im Falle einer Umsatzbeteiligung mittelbar durch Zeitmanagement steuern kann. Hieraus kann aus Sicht des Senats keine Eingliederung in eine Arbeitsorganisation abgeleitet werden. 

Aber selbst wenn man die Art der Abrechnung auch vorliegend als ein Indiz für eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation und damit für eine abhängige Beschäftigung ansehen wollte, verbleibt es nach Auffassung des Senats im Rahmen der Gesamtabwägung der Umstände dabei, dass weder die Indizien für eine abhängige noch für eine selbstständige Tätigkeit überwiegen und daher dem Willen der Vertragsparteien, eine selbstständige Tätigkeit zu vereinbaren, die ausschlaggebende Wirkung zukommt. Letztlich darf bei einer solchen Fallgestaltung neben dem Vertragswillen der Parteien nach Auffassung des Senats entsprechend einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 24.10.1978 (Az.: 12 RK 58/76) als ultima ratio ergänzend darauf abgestellt werden, von welcher der beiden Arten von Erwerbstätigkeit das Berufsleben des Betroffenen bisher maßgeblich geprägt war. Dies rechtfertigt sich daraus, dass in Fällen, in denen weder die tatsächliche Ausgestaltung der Beschäftigung noch die vertraglichen Vereinbarungen ausreichen, entweder eine abhängige Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit anzunehmen, aus dem bisherigen Status im Erwerbsleben auf den Willen des Beschäftigten eher dahin geschlossen werden kann, diesen Status nicht zu verändern. Das bisherige Berufsleben dient dann ausnahmsweise als Indiz dafür, was der Beschäftigte gewollt hat (BSG, Urteil vom 24.10.1978 – 12 RK 58/76, juris, Rn. 15). Im Fall des Beigeladenen zu 1.) ist dies eindeutig seine seit fast 40 Jahren ausschließlich ausgeübte selbstständige Tätigkeit als Lohnbuchalter, die er auch für den Kläger ausüben wollte. 

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen zu 1.) sind nicht zu erstatten, da die Beigeladene zu 1.) keinen Antrag gestellt hat (Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Aufl., § 197a Rn. 28 f. m.w.N.).

Die Revision war vor den Hintergrund der Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 27.04.2021 (B 12 KR 27/19 R) und vom 24.10.1978, (12 RK 58/76) zuzulassen, § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG.

Gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG werden, wenn in einem Verfahren weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 SGG genannten kostenrechtlich privilegierten Personen gehört, Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes (GKG) erhoben. Der Streitwert war gemäß §§ 47, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- € festzusetzen. Geht es - wie in Verfahren nach § 7a SGB IV - nicht um eine konkrete Beitragsforderung, sondern um den sozialversicherungsrechtlichen Status, bietet der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, so dass der Streitwert auf 5.000,00 € festzusetzen ist (Beschluss des Senats vom 06.09.2019, L 1 BA 21/19 B unter Verweis auf BSG, Urteil vom 26.02.2019 - B 12 R 8/18 R; Beschluss vom 18.12.2018, B 12 R 37/18 B; Beschluss vom 20.02.2017 - B 12 KR 95/16 R).
 

Rechtskraft
Aus
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