S 19 BA 19/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Betriebsprüfungen
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 19 BA 19/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 BA 72/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 BA 7/23 R
Datum
-
Kategorie
Urteil


Der Bescheid der Beklagten vom 10.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.07.2019 wird aufgehoben und festgestellt, dass die Tätigkeit des Beigeladenen zu 1. bei dem Kläger in der Zeit vom 01.01.2018 bis zum 31.12.2018 als Lohnbuchhalter nicht im Rahmen eines abhängigen und damit dem Grunde nach sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt wurde.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen, insbesondere auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet. 


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beigeladene zu 1. (im Folgenden „der Beigeladene“) in seiner Tätigkeit als Lohnbuchhalter bei dem Kläger in der Zeit vom 01.01.2018 bis 31.12.2018 in einem abhängigen und damit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stand. 

Der Beigeladene und der Kläger stellten bei der Beklagten am 06.07.2018 einen Antrag auf Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status für die Tätigkeit des Beigeladenen als „Sachbearbeiter Lohn“ (Statusanfrage nach § 7a Abs. 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV)). Vorgelegt wurde u.a. ein Vertrag über freie Mitarbeit (geschlossen zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen) vom 02.01.2018. Der Vertrag enthielt u.a. die folgenden Regelungen:

㤠1 Vertragsgegenstand, Auftragsumfang, Haftung
(1)     Der Auftraggeber erteilt dem Auftragnehmer mit Wirkung ab 01.01.2018 folgenden Auftrag: 
Selbständige Bearbeitung und Erstellung der laufenden Lohnabrechnungen (inkl. der Vorbereitung von Lohnsteueranmeldungen, der Erstellung von Meldungen zur Sozialversicherung und Anträgen nach dem AAG, Unterstützung bei der Führung von Lohnkonten, Bereitstellung von Auswertungen für die Mandanten und gegenüber betroffenen Institutionen).
(2)    Die zu erbringenden Leistungen sind den individuellen Anforderungen der jeweiligen Mandate im Einzelfall anzupassen. 
(3)    Darüber hinaus werden durch den Auftragnehmer Rückfragen und Anfragen der Mandanten des Auftraggebers selbständig bearbeitet. […]
(6)    Der Auftrag entsprechend dem vorgenannten Umfang wird zunächst für die in der Anlage aufgeführten Mandanten erteilt. 
(7)    Zusätzliche Aufträge können nur nach einvernehmlicher Absprache zwischen den Vertragsparteien auf den Auftragnehmer übertragen werden. Die Absprache kann auch mündlich erfolgen. Der Auftragnehmer kann die Annahme zusätzlicher Aufträge ohne Angabe von Gründen ablehnen. […]
§ 2 Weisungsfreiheit, Auftragserfüllung, Status
(1)    Die Vertragsparteien sind sich darüber einig, dass durch diese Vereinbarung zwischen ihnen kein Arbeitsverhältnis i.S.d. § 611a BGB entstehen soll. Insbesondere unterliegt der Auftragnehmer bei der Durchführung der übertragenen Tätigkeiten keinen Weisungen des Auftraggebers. Gegenüber Angestellten des Auftraggebers hat der Auftragnehmer keine Weisungsbefugnis. 
(2)    Der Auftragnehmer ist konkret in der örtlichen und zeitlichen Disposition sowie in der Art und Weise seiner Auftragsdurchführung frei. […]
(3)    Der Auftragnehmer hat die Leistungen nicht in Person zu erbringen. Er kann sich zur Erfüllung des Auftrags auch anderer Personen bedienen. […]
§ 3 Vergütung
(1)    Als Vergütung vereinbaren die Vertragsparteien ein monatliches Pauschalhonorar in Höhe von 35% des Nettoumsatzes, den der Auftraggeber mit den vom Auftragnehmer zu bearbeitenden Aufträgen erzielt. […]
§ 5 Konkurrenz
(1)    Der Auftragnehmer darf und soll auch für andere Auftraggeber tätig sein und erklärt, dass er bei Aufnahme dieser selbständigen Tätigkeit mehrere solcher Auftraggeber hat und die Einnahmen hieraus mehr als 1/6 der in diesem Vertrag vereinbarten Einnahmen betragen. […]
§ 10 Nebenabreden, Schriftform, Schlussbestimmungen
(1)    Mündliche Nebenabreden bestehen nicht. […]“

Ergänzend trug der Kläger im Verwaltungsverfahren vor, dass der Beigeladene etwa 50-55 Stunden pro Monat als freier Mitarbeiter für ihn tätig sei. Er sei dauerhaft auch für andere Auftraggeber in nicht unerheblichem Umfang tätig. Die Arbeitszeiten würden durch ihn weder kontrolliert, noch seien ihm die tatsächlichen Arbeitszeiten bekannt. Der Beigeladene erhalte hinsichtlich der externen Aufträge ausschließlich eine variable, am mit dem jeweiligen Auftrag erwirtschafteten Umsatz orientierte Vergütung. Dies spreche – unabhängig von der Höhe der Umsatzbeteiligung – klar für die Übernahme eines eigenen unternehmerischen Risikos. Neben der Lohnabrechnung für externe Mandanten erledige der Beigeladene auch die Lohnabrechnung für die Belegschaft des Klägers – hierfür erhalte er eine vereinbarte Pauschale in Höhe von 250,00 Euro monatlich. Der Beigeladene nutze für die von ihm übernommenen Aufträge die Räumlichkeiten der Kanzlei des Klägers sowie dessen IT-Infrastruktur, wofür ihm in einem quartalsweisen Abrechnungszeitraum ein pauschaliertes monatliches Nutzungsentgelt in Höhe von 35,00 Euro (netto) in Rechnung gestellt werde. 

Der Kläger und der Beigeladene erhielten mit Schreiben der Beklagten vom 15.10.2018 Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Entscheidung über das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung.

Nach weiterem Vortrag durch den Kläger stellte die Beklagte mit Bescheid vom 10.12.2018 fest, dass die Tätigkeit des Beigeladenen als Lohnbuchhalter bei dem Kläger seit dem 01.01.2018 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde. In dem Beschäftigungsverhältnis bestehe Versicherungspflicht in der Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung.

Gegen den Bescheid legten der Kläger und der Beigeladene form- und fristgerecht Widerspruch ein. 

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.07.2019 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Mit der am 06.08.2019 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehr weiter. Bei dem Beigeladenen würden die Voraussetzungen einer selbständigen Tätigkeit vorliegen, weshalb der streitgegenständliche Bescheid aufzuheben und festzustellen sei, dass zwischen ihm und dem Kläger kein Beschäftigungsverhältnis mit Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung bestehe. 

Der Kläger beantragt daher,
den Bescheid der Beklagten vom 10.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.07.2019 aufzuheben und festzustellen, dass zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen zu 1. in dem Zeitraum 01.01.2018 bis 31.12.2018 kein Beschäftigungsverhältnis mit Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung bestanden hat.

Die Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Ausgangs- und Widerspruchsbescheid. Nach Gesamtwürdigung aller zur Beurteilung der Tätigkeit relevanten Tatsachen würden die Merkmale für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis überwiegen. Diese würden sich wie folgt darstellen: 
-    Zur Ausübung der Tätigkeit werde die angemietete Software des Klägers genutzt. 
-    Es werde ein Arbeitsplatz in den Räumen des Klägers zur Verfügung gestellt. 
-    Die Tätigkeit könne aufgrund der Softwarenutzung nicht autark ausgeübt werden. 
-    Die Mandate würden zugewiesen werden. 
-    Eigene vertragliche Beziehungen zu den Mandanten würden nicht bestehen. 
-    Es werde lediglich eine Vergütung von 35% des Nettoumsatzes gezahlt. 
-    Die Mandate würden nur in einem Teilbereich bearbeitet werden. 
-    Die Bearbeitung der Mandate erfolge fortlaufend; dadurch sei eine fortwährende Vergütung gewährleistet.
-    Es würden weiterhin allgemeine Arbeiten übernommen, die nach Stunden bezahlt werden würden. 
-    Es bestehe ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis zum Kläger. 
-    Es könnten keine unternehmerischen Chancen wahrgenommen werden. 
-    Es bestehe ein Kontrollrecht und damit auch ein Weisungsrecht. 

Der Beigeladene und die Beigeladene zu 2. haben keinen Antrag gestellt. 

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger ergänzend vorgetragen, dass das Auftragsverhältnis mit dem Beigeladenen bereits zum 31.12.2018 geendet habe. 

Bei ihm würden ca. acht Pool-Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, wobei jeder Arbeitsplatz mit einem PC, Bildschirm, Telefon, Tisch, Stuhl, etc. ausgestattet sei. Auch der Beigeladene habe sich während des Auftragsverhältnisses einen solchen Pool-Arbeitsplatz aussuchen müssen; einen fest zugewiesenen Arbeitsplatz habe er bei dem Kläger nicht gehabt. Wenn der Beigeladene von zu Hause gearbeitet habe, habe er seine eigene Hardware, insbesondere seinen eigenen PC, genutzt. Die Verbindung zu dem Geschäftsserver sei dann über eine gesicherte VPN-Verbindung erfolgt. An die zeitliche Aufteilung zwischen der Tätigkeit vor Ort in den Räumlichkeiten des Klägers und der Tätigkeit bei dem Beigeladenen zu Hause könne sich der Kläger nicht erinnern. Diesbezüglich habe es keinerlei Vorgaben gegeben. 

Im Laufe der Auftragszeit seien weitere Mandanten bei dem Beigeladenen hinzugekommen. Der Beigeladene habe gemäß dem mit ihm geschlossenen Vertrag zu jeder Zeit die freie Wahl gehabt, zusätzliche Mandate anzunehmen oder auch abzulehnen.

Es habe in der Kanzlei des Klägers festangestellte Mitarbeiter gegeben, die die gleiche Tätigkeit (Lohnbuchhaltung) ausgeführt hätten wie der Beigeladene. Dieser sei hingegen beauftragt worden, um Mandanten zu bearbeiten, die eben nicht durch das festangestellte Personal abgedeckt werden konnten. 

Der Beigeladene habe von dem Kläger keine Visitenkarte und auch keine personenspezifische E-Mail-Adresse erhalten. Es habe bei dem Kläger eine Pool-E-Mail-Adresse für die Lohnbuchhaltung gegeben, auf die der Beigeladene auch hätte zugreifen können. Zudem habe der Beigeladene auch direkte Aufträge von Mandanten erhalten. Diese eigenen Aufträge habe er dann auch gegenüber den Mandanten eigenständig und selbständig direkt in Rechnung gestellt und abgerechnet. Dies sei nicht über die Kanzlei gegangen.

Dem Beigeladenen sei kein Urlaub gewährt worden. Etwaigen Urlaub, von dem der Kläger aber keine Kenntnis gehabt habe, habe der Beigeladene selbst den Fristensachen angepasst.

Der Beigeladene habe in dem Zeitraum Januar bis Dezember 2018 mehrere weitere Auftraggeber gehabt. Der Kläger gehe von mindestens 20 weiteren Auftraggebern aus, davon zwei weitere größere Steuerkanzleien.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlungen waren, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. 

Der Bescheid der Beklagten vom 10.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.07.2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte hat zu Unrecht festgestellt, dass der Beigeladene in seiner Tätigkeit als Lohnbuchhalter bei dem Kläger als abhängig Beschäftigter ab dem 01.01.2018 der Versicherungspflicht in der Renten- und Arbeitslosenversicherung unterlag. Für die Zeit ab dem 01.01.2019 hat sich der Bescheid durch die Beendigung der Tätigkeit des Beigeladenen für den Kläger auf sonstige Weise erledigt (§ 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X)).

Nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV können die Beteiligten schriftlich eine Entscheidung der nach § 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV zuständigen Beklagten beantragen, ob eine Beschäftigung vorliegt, es sei denn, die Einzugsstelle oder ein anderer Versicherungsträger hatte im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet. Die Beklagte entscheidet aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände, ob eine Beschäftigung vorliegt (§ 7a Abs. 2 SGB IV). Das Verwaltungsverfahren ist in Abs. 3 bis 5 der Vorschrift geregelt. Einen entsprechenden Antrag auf Statusfeststellung hatten der Kläger und der Beigeladene am 06.07.2018 gestellt. Ein vorheriges Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung durch einen anderen Versicherungsträger oder die Einzugsstelle ist nicht ersichtlich. 

Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, unterliegen in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, in der sozialen Pflegeversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung der Versicherungs- bzw. Beitragspflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), § 1 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), § 20 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI), § 25 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III)). In dem vorliegenden Fall ist eine Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung nicht streitig, weil der Beigeladene auch in dem streitgegenständlichen Zeitraum hauptberuflich selbständig erwerbstätig gewesen ist (§ 5 Abs. 5 SGB V, § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB XI). 

Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV. Danach ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem hinsichtlich Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess verfeinert“ sein. Demgegenüber ist eine selbständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft sowie die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbständig tätig ist, richtet sich danach, welche Umstände das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägen und welche Merkmale überwiegen (st. Rspr.; vgl. z. B. BSG, Urteil vom 30.04.2013 – B 12 KR 19/11 R –, juris Rn. 13). Das kann bei manchen Tätigkeiten dazu führen, dass sie in Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen sowohl als Beschäftigung als auch im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses ausgeübt werden können (vgl. BSG, Urteil vom 31.03.2017 – B 12 R 7/15 R –, juris Rn. 21, m. w. N.).

Das Gesamtbild bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinn sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus des abhängig Beschäftigten erlauben. Ausgangspunkt der Prüfung ist zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zur ursprünglich getroffenen Vereinbarung stehende tatsächliche Beziehung und die hieraus gezogene Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine – formlose – Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von den Vereinbarungen abweichen. Maßgebend ist die Rechtsbeziehung so wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung, so wie sie rechtlich zulässig ist (vgl. BSG, Urteil vom 29.08.2012 – B 12 KR 25/10 R –, juris Rn. 16, m. w. N.). 

Zur Abgrenzung von Beschäftigung und Selbstständigkeit ist vom Inhalt der zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarungen auszugehen (BSG, Urteil vom 29.07.2015 – B 12 KR 23/13 – juris, Rn. 17 – auch zum Folgenden). Dazu ist zunächst deren Inhalt konkret festzustellen. Liegen schriftliche Vereinbarungen vor, so ist neben deren Vereinbarkeit mit zwingendem Recht auch zu prüfen, ob mündliche oder konkludente Änderungen erfolgt sind. Diese sind ebenfalls nur maßgeblich, soweit sie rechtlich zulässig sind. Schließlich ist auch die Ernsthaftigkeit der dokumentierten Vereinbarungen zu prüfen und auszuschließen, dass es sich hierbei um einen bloßen „Etikettenschwindel“ handelt, der unter Umständen als Scheingeschäft im Sinne des § 117 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zur Nichtigkeit dieser Vereinbarungen und der Notwendigkeit führen kann, gegebenenfalls den Inhalt eines hierdurch verdeckten Rechtsgeschäfts festzustellen. Erst auf Grundlage der so getroffenen Feststellungen über den (wahren) Inhalt der Vereinbarungen ist eine wertende Zuordnung des Rechtsverhältnisses zum Typus der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit vorzunehmen.

Nach den genannten Grundsätzen gelangt die Kammer unter Abwägung aller Umstände zu der Überzeugung, dass der Beigeladene im streitgegenständlichen Zeitraum keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bei dem Kläger ausgeübt hat und daher nicht der Versicherungspflicht unterlag. 

Aufgrund des vorliegenden Vertrags über freie Mitarbeiter, der vorgelegten Unterlagen und Rechnungen, sowie der konsistenten Angaben des Klägers im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren geht die Kammer davon aus, dass der Beigeladene für den Kläger im gesamten streitigen Zeitraum als Lohnbuchhalter in dessen Steuerkanzlei mitwirkte. Er erhielt bis auf wenige Ausnahmen eine Vergütung in Höhe von 35% des Nettoumsatzes. Die Mandate, die von dem Beigeladenen zu bearbeiten waren, wurden zunächst durch den Vertrag über die freie Mitarbeit bestimmt, anschließend kamen im Laufe der Auftragszeit noch weitere Mandanten und Mandate hinzu. Dabei war der Beigeladene frei zu entscheiden, ob er einen Auftrag bearbeiten wollte. Nach der glaubhaften Aussage des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung am 29.09.2022 war Grund für die Beauftragung des Beigeladenen, dass dieser Arbeiten der Lohnbuchhaltung erledigen sollte, die über die Kapazitäten der Festangestellten hinausgingen. In Einzelfällen hat der Beigeladene auch eigene Mandanten in die Kanzlei des Klägers mitgebracht. 

Der Beigeladene übte die Tätigkeit sowohl in den Räumlichkeiten des Klägers als auch zu Hause aus. Er hatte keinen festen Arbeitsplatz in der Kanzlei, sondern musste sich vielmehr einen aus einem Pool an Arbeitsplätzen aussuchen. Wenn er in den Kanzleiräumlichkeiten arbeitete, nutzte er die dort zur Verfügung gestellte Hardware. Bei seiner Tätigkeit von zu Hause aus nutze er seinen eigenen PC. Der Beigeladene bearbeitete die ihm übertragenen Mandate grundsätzlich eigenständig und ohne Inanspruchnahme von anderen Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern des Klägers. 

Die Tätigkeit als Lohnbuchhalter kann grundsätzlich sowohl in abhängiger Beschäftigung wie auch selbständig ausgeübt werden. Im vorliegenden Einzelfall liegt jedoch die typische Konstellation einer freien Mitarbeit vor, die der Annahme einer abhängigen Mitarbeit entgegensteht. Eine maßgebliche Eingliederung des Beigeladenen in den Betrieb des Klägers oder eine Weisungsabhängigkeit liegt unter Berücksichtigung der Gesamtumstände nicht vor. Es gab keinerlei Weisungen im Hinblick auf die einzelnen Mandate, wie auch in zeitlicher Hinsicht. Der Beigeladene konnte völlig frei entscheiden, zu welchen Zeiten er nach Auftragsannahme die Arbeiten ausführte. Es stand lediglich fest bzw. wurde durch gesetzliche Abgabefristen festgelegt, bis wann die Mandatsbearbeitung (die Lohnbuchhaltung) abgeschlossen sein musste. Dieser Gesichtspunkt ist jedoch bei den hier zu beurteilenden Tätigkeiten von untergeordneter Bedeutung, denn dies ergibt sich bei der Erstellung der Lohnbuchhaltung schon aus der Natur der Sache. Auch dass der Beigeladene die Tätigkeiten unter anderem in den Räumlichkeiten des Klägers mit dessen Büroausstattung ausführte, spricht im vorliegenden Einzelfall nicht für eine Eingliederung in die Betriebsorganisation. Diese Arbeitsweise war zum einen der Praktikabilität und Effizienz geschuldet und war im Übrigen auch nicht zwingend. Für die Nutzung der Räumlichkeiten und der Software stellte der Kläger dem Beigeladenen ein pauschaliertes monatliches Nutzungsentgelt in Höhe von 35,00 Euro (netto) in Rechnung. 

Eine Abschlussbesprechung und Endkontrolle der Arbeiten des Beigeladenen durch den Kläger fand nicht statt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.10.2018 – L 11 R 1095/17, das selbst bei Vorliegen einer solchen Abschlussbesprechung und Endkontrolle eine selbständige Tätigkeit nicht ausschließt, da „nicht jede Zuarbeit […] eine abhängige Beschäftigung [ist], dies würde eine freie Mitarbeit nicht mehr ermöglichen“.). 

Die Möglichkeit, Aufträge anzunehmen oder abzulehnen, kann als Indiz für das Vorliegen einer selbständigen Tätigkeit angesehen werden, weil damit der Beigeladene über den Umfang seiner Tätigkeit selbst bestimmt. Doch sind ebenso im Rahmen abhängiger Beschäftigung Vertragsgestaltungen nicht unüblich, die es weitgehend dem Beschäftigten überlassen, wie er im Anforderungsfall tätig werden will oder ob er eine Anfrage ablehnt (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.07.2013 – L 11 R 1083/12). In Abruf- oder Aushilfsbeschäftigungsverhältnissen, in denen auf Abruf oder in Vertretungssituationen, beispielsweise bei Erkrankung und Ausfall von Mitarbeitern, lediglich im Bedarfsfall auf bestimmte Kräfte zurückgegriffen wird, kann die Möglichkeit eingeräumt sein, eine Anfrage abzulehnen. Dieses Kriterium hat daher im vorliegenden Fall keine große Aussagekraft. Dennoch spricht insbesondere der Umstand, dass der Beigeladene auch in wenigen Fällen eigene Mandanten in die Kanzlei mitgebracht hat, für eine selbständige Tätigkeit.

Ergeben die in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV genannten Anhaltspunkte damit zwar kein einheitliches, aber doch überwiegend für eine selbstständige Tätigkeit sprechendes Bild, wird dies durch andere Abgrenzungskriterien bestätigt. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Frage, ob der Beigeladene ein Unternehmerrisiko, das im Rahmen der Würdigung des Gesamtbildes zu beachten ist (BSG, Beschluss vom 16.08.2010 – B 12 KR 100/09 B – juris, Rn. 10 m. w. N.), getragen hat, auch wenn das Vorliegen eines Unternehmerrisikos nicht schlechthin entscheidend ist (BSG, a.a.O.).

Der Beigeladene verfügte über ein Unternehmerrisiko insofern als er verpflichtet war, alle anfallenden Lohnbuchhaltungsarbeiten der Mandanten des Klägers zu erfüllen, auch wenn dies seine eigenen zeitlichen Kapazitäten überforderte. Mit dem Kläger war fast ausschließlich eine Vergütung nach Umsatzbeteiligung und nicht auf Stundenbasis vereinbart, so dass der Beigeladene auch diesbezüglich das wirtschaftliche Risiko trug. Selbstständige tragen ein Unternehmerrisiko unter anderem dann, wenn der Erfolg des Einsatzes ihrer Arbeitskraft ungewiss ist; das gilt namentlich, wenn ihnen kein Mindesteinkommen garantiert ist (BSG, Urteil vom 27.03.1980 – 12 RK 26/79 – juris, Rn. 23; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.02.2015 – L 11 R 5165/13 – juris, Rn. 72). Ein Mindesteinkommen war dem Beigeladenen nicht garantiert, denn seine Vergütung hing davon ab, dass er tatsächlich tätig wurde. Ob die vereinbarte Umsatzbeteiligung einen angemessenen Gegenwert für seine tatsächlich gearbeiteten Stunden darstellte, unterlag ebenfalls seinem wirtschaftlichen Risiko. Jegliche Arbeit für ein Mandat war mit der pauschalisierten Umsatzbeteiligung abgegolten; gegebenenfalls angefallene Mehrarbeit wurde nicht zusätzlich vergütet. 

Der Einsatz eigenen Kapitals bzw. eigener Betriebsmittel ist hingegen keine notwendige Voraussetzung für eine selbstständige Tätigkeit (BSG, Urteil vom 27.03.1980 – B 12 RK 26/79 – juris, Rn. 23). Dies gilt schon deshalb, weil anderenfalls geistige oder andere betriebsmittelarme Tätigkeiten nie selbstständig ausgeübt werden könnten (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.2013 – B 12 R 3/12 R – juris, Rn. 25).

Für eine selbstständige Tätigkeit spricht auch, dass der Beigeladene neben dem Kläger noch weitere Auftraggeber hatte, für die er gleichgelagerte Tätigkeiten erbrachte. Zwar ist für jedes Vertragsverhältnis die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung gesondert vorzunehmen, jedoch spricht der Umstand, für mehrere Auftraggeber tätig zu sein, für eine selbstständige Tätigkeit, nicht zuletzt, weil er die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Auftraggeber bzw. Arbeitgeber reduziert oder gar aufhebt. Hiervon sind übrigens auch die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung in ihrem gemeinsamen Rundschreiben zum Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit vom 20.12.1999 (abgedruckt in NZA 2000, 190 ff.) ausgegangen, wonach ein Tätigwerden für mehrere Auftraggeber als ein Merkmal klassifiziert wird, dass bei der Abwägung „ein sehr starkes Gewicht“ für die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit hat (Anlage 2, Ziffer 3.2., NZA 2000, 190 (197)). Es ist im Übrigen auch keineswegs üblich, dass Arbeitnehmer mehrere Auftraggeber haben. Vielmehr entspricht es der Regel, dass Arbeitnehmer jeweils nur einen Arbeitgeber haben (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.01.2016 – L 4 R 2796/15 – juris, Rn. 81). 

Gegen das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung spricht auch, dass der Beigeladene keinen bezahlten Urlaub erhalten hat (vgl. BSG, Urteil vom 12.02.2004 – B 12 KR 26/02 R – juris, Rn. 25). Beim Anspruch auf bezahlten Urlaub handelt es sich um ein Recht, das im Regelfall Arbeitnehmern vorbehalten ist. Selbstständigen räumt das Gesetz vergleichbare Ansprüche gegenüber ihrem Vertragspartner nur im Ausnahmefall der arbeitnehmerähnlichen Personen ein (vgl. § 2 Satz 2 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG)), so dass die tatsächliche Gewährung von bezahltem Erholungsurlaub ein Indiz für das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses ist. Dem Beigeladenen wurde hingegen kein bezahlter Erholungsurlaub gewährt.

Auch das Fehlen eines Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist nach der Rechtsprechung des BSG als Indiz für selbstständige Tätigkeit anzusehen (BSG, Urteil vom 12.02.2004 – B 12 KR 26/02 R – juris, Rn. 26). Bei der Entgeltfortzahlung handelt es sich ebenfalls um ein typischerweise Arbeitnehmern vorbehaltenes Recht. Selbstständigen räumt das Gesetz vergleichbare Ansprüche gegenüber ihren Vertragspartnern nicht ein. Fiel der Beigeladene krankheitsbedingt aus und unterblieb deshalb die versprochene Arbeitsleistung, hatte er keinen Anspruch auf eine Vergütung und erhielt eine solche auch tatsächlich nicht. Solche Vertragsgestaltungen sind konsequent, wenn beide Seiten eine selbstständige freie Mitarbeit wollen. Insofern gilt zwar, dass dem keine entscheidende Bedeutung zukommen kann, wenn die für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung maßgeblichen Kriterien – Weisungsabhängigkeit und Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers – bereits zur Annahme einer abhängigen Beschäftigung führen. In einem solchen Fall werden vertragliche Absprachen oder deren Unterlassen durch die gesetzlichen Vorschriften über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und über Urlaubsansprüche verdrängt bzw. ersetzt. Entscheidend ist hier aber die tatsächliche Handhabung durch die Beteiligten (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.04.2016 – L 4 KR 1612/15 – juris, Rn. 97; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Oktober 2014 – L 11 R 4761/13 – juris, Rn. 35), die belegt, dass der Ausschluss eines Lohnfortzahlungsanspruchs im Krankheitsfall nicht nur zum Schein vereinbart, sondern tatsächlich auch so praktiziert worden ist. 

Dass der Kläger vor, während und nach dem streitgegenständlichen Zeitraum die gleichen Tätigkeiten von abhängig Beschäftigten ausüben ließ, gibt für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung nichts her. Viele Tätigkeiten sind sowohl in abhängiger Beschäftigung als auch in Gestalt selbstständiger Tätigkeit möglich. Es kommt dann jeweils auf die konkreten Vereinbarungen und die tatsächliche Durchführung an, ohne dass Rückschlüsse von einem Mitarbeiter auf einen anderen gezogen werden können. Der Beigeladene sollte sich im Rahmen seines Auftragsverhältnisses gerade um die Lohnbuchhaltung der Mandanten kümmern, für die die übrigen Beschäftigten keine Kapazitäten mehr hatten. Es war demnach zu keiner Zeit beabsichtigt, den Mitarbeiterstamm des Klägers auf unbestimmte Zeit zu erweitern. Der Beigeladene sollte lediglich für einen abgrenzbaren Zeitraum bei der Be- und Abarbeitung vorhandener Mandate behilflich sein.

Insgesamt überwiegen damit die Umstände, die für eine selbständige Tätigkeit sprechen, deutlich gegenüber denjenigen, die auf eine abhängige Beschäftigung schließen lassen. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG werden, wenn in einem Verfahren weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 SGG genannten kostenrechtlich privilegierten Personen gehört, Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes (GKG) erhoben. Da weder der Kläger noch die beklagte Rentenversicherung gemäß § 183 SGG kostenprivilegiert sind, ist eine Kostenentscheidung gemäß § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO zu treffen. Die Gerichtskosten sowie die außergerichtlichen Kosten des Klägers sind von der Beklagten zu erstatten. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten, da diese keinen Antrag gestellt haben, § 154 Abs. 3 VwGO.
 

Rechtskraft
Aus
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