S 17 KA 22/21

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 17 KA 22/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Mit der Prävalenzprüfung, bei der der Beklagte zur Ermittlung einer Praxisbesonderheit das Verhältnis der F-Diagnosen nach der PT-Richtlinie zu den abgerechneten GOP 35110 EBM bildet und dieses mit der Prüfgruppe vergleicht, sind Unschärfen verbunden, die bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind.

2. Eine Vergleichbarkeit mit der Prüfgruppe kann nur hergestellt werden, wenn sowohl die Ermittlung der F-Diagnosen als auch die Abrechnungshäufigkeit der GOP 35110 EBM patientenbezogen erfolgen. 

3. Die Zielsetzung der psychosomatischen Grundversorgung besteht nach den Vorgaben der Psychotherapie-Richtlinie in einer seelischen Krankenbehandlung, die während der Behandlung von somatischen, funktionellen und psychischen Störungen von Krankheitswert durchgeführt werden kann. Insoweit können funktionelle Störungen von Krankheitswert Anlass für eine verbale Intervention nach der GOP 35110 EBM sein, wenn mit dieser Störung eine seelische Belastung einhergeht.

4. Eine anerkannte Praxisbesonderheit, die sich in einer besonderen Häufung der Abrechnung der GOP 35110 EBM niederschlägt, kann nicht mit einer rein pauschalen Schätzung eines Mehrbehalts von +200% zur Vergleichsgruppe abgegolten werden.
 


Der Beschluss des Beklagten vom 12. Januar 2021 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über Honorarprüfungen betreffend die Quartale I/2015 bis IV/2016 wegen eines „offensichtlichen Missverhältnisses" im Vergleich zur Fachgruppe (FG) bei der Gebührenordnungsposition (GOP) 35110 (verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM).

Die Klägerin, hausärztlich tätige Fachärztin für Innere Medizin, war im streitgegenständlichen Zeitraum in einer Einzelpraxis in A-Stadt niedergelassen und nahm an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Sie verfügt über die Zusatzbezeichnung „Psychotherapie“.

Das Prüfverfahren wurde durch die Prüfungsstelle (PS) von Amts wegen eingeleitet. Es wurden folgende Auffälligkeiten festgestellt: 

Qtl. GO- NR. Anz.-GO-NR. je 100-Fälle- Praxis Durch. je Fall-Praxis  Anz.-GO-NR. je 100-Fälle ausf. Praxen Durch. je Fall ausf. Praxen-PG Abw. in %
2015/1 35110                      47      7,44                   8            1,32 +463,64
2015/2 35110                      48      7,60                   8            1,32 +475,76
2015/3 35110                      48      7,52                   8            1,29 +482,95
2015/4 35110                      53      8,34                   8            1,30 +541,54
2016/1 35110                      43      6,93                   8            1,22 +468,03
2016/2 35110                      52      8,28                   8            1,24 +567,75
2016/3 35110                      49      7,79                   7            1,16 +571,74
2016/4 35110                      52      8,38                   7            1,13 +641,59


Mit Schreiben vom 27. Februar 2018 teilte die PS der Klägerin die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit hinsichtlich ihrer Leistungserbringung bezogen auf die GOP 35110 EBM mit und bat um Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten und kompensatorischer Einsparungen.

Die Klägerin legte daraufhin dar, dass Schwerpunkt ihrer Praxistätigkeit aufgrund der Zusatzbezeichnung „Psychotherapie“ die sprechende Medizin sei. Aus den Diagnosen der Patient*innen, die bei ihr regelmäßig behandelt worden seien, ergebe sich, dass viele Patient*innen mit psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen regelmäßig in ihrer Praxis behandelt würden und auch nach Beendigung einer psychotherapeutischen Behandlung in der Praxis verblieben seien und weiterhin mit der verbalen Intervention bei psychosomatischen Beschwerden nach der GOP 35110 EBM von ihr behandelt worden seien. Dies sei in der Zeit zur Abklärung von notwendigen psychotherapeutischen Behandlungen oder auch zur Krisenintervention bei akuten psychischen Krisen geschehen und auch um stationäre Behandlungen in psychosomatischen Kliniken zu überprüfen oder auch selbige überflüssig zu machen oder zu verhindern. Auch nach Abschluss von Psychotherapien und stationären psychosomatischen Behandlungen in der Reha sei von ihr regelmäßig die verbale Intervention erfolgt, um die Erfolge dieser Behandlungen zu stabilisieren. Dies sei sicher eine Praxisbesonderheit bei ihr, die sich entsprechend im Abrechnungsverhalten wiederspiegele. Dazu sei auch nicht die GOP 03230 EBM (Problemorientiertes Ärztliches Gespräch) geeignet, die sie im hausärztlichen Bereich bei den chronisch kranken Patienten natürlich ebenfalls angewandt habe. Zudem seien die Fallzahlen ihrer Praxis im Vergleich zu den anderen hausärztlichen Praxen deutlich geringer gewesen. Aufgrund ihrer besonderen Ausbildungs- und Arbeitssituation als hausärztliche Internistin und Psychotherapeutin hätten besonders viele psychosomatisch erkrankte Patienten ihre Praxis aufgesucht und seien ihr über die Jahre treu geblieben, weil sie von dieser Behandlung profitiert hätten und insgesamt teure apparative Untersuchungen, gegebenenfalls auch Operationen und Krankenhausaufenthalte beziehungsweise auch Berentungen vermieden wurden. Diese Arbeitsweise führe auf gar keinen Fall zu einem Mehrbedarf an erhöhten Behandlungskosten.

Die PS nahm Prävalenzprüfungen für alle zu prüfenden Quartale vor. Dabei wurden entsprechend § 22 der Psychotherapie-RL des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) die Indikationen für die psychosomatische Grundversorgung mit den ICD-10 Verschlüsselungen pro Quartal geprüft. Sie bestätigte zunächst die von der Klägerin dargelegte deutlich unterdurchschnittliche Fallzahl gegenüber der FG der vollzugelassenen Allgemeinärzte/hausärztlich tätigen Internisten (-45,09% bis -55,31 %). Darüber hinaus konnte bezüglich der zehn häufigsten F-Diagnosen ein Mehr gegenüber der FG und damit eine anzuerkennende Praxisbesonderheit festgestellt werden. Diese wurde mit +23% bis +48% berechnet. Weil die PS dieses sich ergebende Mehr bei dem vorliegend zu betreuenden Klientel als zu gering eingeschätzt hatte, wurde ein Mehr zum Fachgruppendurchschnitt von +100% zugestanden.

Mit Bescheid vom 28. November 2018 erkannte die PS wegen der ermittelten Praxisbesonderheiten der Klägerin zudem zum Fallwert des Fachgruppendurchschnitts nicht nur +20% (Streubreite), sondern weitere +100% zum Fachgruppendurchschnitt pauschal an. Die PS zweifelte nicht an, dass die Klägerin die Leistungen tatsächlich erbracht hatte. Allerdings monierte sie das häufige Fehlen der ICD-10-Kodierungen aus dem Bereich des § 22 der Psychotherapie-RL.

Die PS setzte sodann in diesem Bescheid die nachfolgenden Brutto-Honorarkürzungen für die GOP 35100 EBM fest:

3,48 € je Fall x 700 Fälle = 2.436,00 € für das 1. Quartal 2015
3,64 € je Fall x 662 Fälle = 2.409,68 € für das 2. Quartal 2015
3,65 € je Fall x 718 Fälle = 2.620,70 € für das 3. Quartal 2015
4,44 € je Fall x 677 Fälle = 3.005,88 € für das 4. Quartal 2015
3,27 € je Fall x 708 Fälle = 2.315,16 € für das 1. Quartal 2016
4,56 € je Fall x 597 Fälle = 2.722,32 € für das 2. Quartal 2016
4,31 € je Fall x 671 Fälle = 2.892,01 € für das 3. Quartal 2016
4,99 € je Fall x 695 Fälle = 3.486,05 € für das 4. Quartal 2016


Insgesamt erfolgte eine Honorarkürzung in Höhe von 21.869,80€ brutto. Dies entsprach einer Nettohonorarkürzung in Höhe von 20.591,04€.

Mit Schreiben vom 4. Dezember 2018 legte die Klägerin fristgerecht Widerspruch gegen den Bescheid der PS ein. Der hohe Anteil der Patient*innen mit psychosomatischen Krankheitsbildern habe sich dadurch verstärkt, dass die Versorgung durch psychiatrische Kollegen oder Institutsambulanzen ausgedünnt worden sei. Dem oben genannten Patientengut sei es nicht möglich, zeitnah eine adäquate ärztliche Versorgung zu bekommen und die Wartezeiten bei den psychiatrisch tätigen Ärzten seien sehr lang. Sie habe daher ihre Sprechzeiten mit psychosomatischen und psychotherapeutischen Sprechstunden entsprechend angepasst. Daraus ergebe sich, dass die gewählte Vergleichsgruppe der voll zugelassenen Allgemeinärzte/hausärztlich tätigen Internisten nicht die richtige Vergleichsgruppe darstelle, weil sie als Psychotherapeutin weitaus mehr Patient*innen neben bzw. im Rahmen ihrer hausärztlichen Tätigkeit auch psychologisch betreue, als es in einer „nur" allgemeinen Hausarztpraxis regelmäßig der Fall sei. Es sei deshalb eine verfeinerte Vergleichsgruppe zu bilden. Sie sei nur mit den voll zugelassenen Allgemeinärzten/hausärztlich tätigen Internisten zu vergleichen, die in gleicher Weise berechtigt seien bzw. über die fachliche Qualifikation verfügten, psychotherapeutisch tätig zu seien. 

Eine weitere anzuerkennende Praxisbesonderheit sei die Betreuung des D.-Hauses des Blauen Kreuzes. Dies sei eine stationäre Einrichtung für alkohol- und suchterkrankte Menschen mit multiplen psychiatrischen Erkrankungen, welche sie in ihrer gesamten Praxistätigkeit über 25 Jahre hinweg betreut habe. Ferner habe sie in den Jahren 2015 und 2016 ca. 35 Patient*innen intensiv behandelt, des Weiteren 10 Patient*innen, die nicht mehr stationär, sondern teilstationär vom Blauen Kreuz betreut worden seien. Das sei sowohl in der Praxis als auch durch eine ausgedehnte, regelmäßige Hausbesuchstätigkeit, welche häufig akut gewesen sei, erfolgt, was sich anhand der überdurchschnittlich erbrachten dringenden Hausbesuchstätigkeit belegen lasse. Durch die — wenn auch kurzfristig — angebotene psychologische Behandlung der Patient*innen hätten sich viele Krankenhauseinweisungen vermeiden lassen, was als kompensatorische Einsparungen zu berücksichtigen sei. Der durchschnittliche Tagessatz einer psychosomatischen Klinik liege bei 310 bis 370 Euro. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in einer psychosomatischen Klinik belaufe sich auf sechs Wochen. Ein durchschnittlicher Aufenthalt von sechs Wochen koste somit 13.440 Euro. 

Letztlich habe sie mit dem psychosomatischen Schwerpunkt vorweggenommen, was der Gesetzgeber im Jahr 2017/2018 gefordert und umgesetzt habe. So sei später die GOP 35152 EBM (Psychotherapeutische Akutbehandlung) und die GOP 35151 EBM (Psychosomatische Sprechstunde) eingeführt worden. Im Prüfzeitraum habe somit keine andere Möglichkeit bestanden, als diese Tätigkeiten mit der GOP 35110 EBM abzurechnen.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Beschluss vom 12. Januar 2021 zurück. Nach den Überprüfungen der PS liege ein offensichtliches Missverhältnis im Vergleich zu den Durchschnittswerten der FG der Allgemeinärzte/hausärztlich tätigen Internisten bei der GOP 35110 EBM vor. Der Vergleich sei nur mit denjenigen Praxen der Vergleichsgruppe, die diese Leistung auch tatsächlich selbst abrechneten, erfolgt. Eine weitere Verfeinerung der Vergleichsgruppe sei nicht geboten. Auch die Betreuung des D.-Hauses des Blauen Kreuzes könne pauschal keine Praxisbesonderheit begründen.  

Des Weiteren sei bereits der PS im Rahmen ihrer intellektuellen Prüfung bei der orientierenden Durchsicht der Behandlungsscheine aufgefallen, dass Leistungen bezüglich der GOP 35100 EBM abgerechnet worden seien, die nicht den erforderlichen Codierungen für den Ansatz dieser GOP entsprochen hätten. Auch im Rahmen der Sitzung des Beklagten seien Behandlungsscheine einzelner Patient*innen durchgesehen worden. Hierbei sei unter anderem festgestellt worden, dass die bei den geprüften Patienten angegebenen Diagnosen den Ansatz der teilweise auch mehrfach abgerechneten GOP 35100 EBM nicht rechtfertigten. Dies gelte beispielhaft für die Diagnosen „Unwohlsein und Ermüdung; Luxation des Humerus Schulter...; Luxation des Schultergelenks...; ...Einfache chron. Bronchitis; sonst... Bandscheibenverlagerung; Chlamydieninfektion und Asthma bronchiale...". Der Beklagte verwies zudem auf die Dokumentationspflicht nach § 57 des Bundesmantelvertrages der Ärzte (BMV-Ä). 

Mit den von der PS anerkannten von +200% zum Fachgruppendurchschnitt sei den Besonderheiten der klägerischen Praxis hinreichend Rechnung getragen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 10. Februar 2021 zum Sozialgericht Marburg erhobene Klage. Die Klägerin verweist zur Begründung über ihren Vortrag im Verwaltungsverfahren hinaus auf ihren ganzheitlichen Behandlungsansatz, nach dem jede Krankheit nicht nur den Körper, sondern auch die Seele betreffe. Aus diesem Grund sei mittlerweile eine Facharztausbildung für psychosomatische Medizin etabliert, die in diesem Sinne - über die F-Diagnosen hinaus - arbeite, so dass diese Arbeitsweise unstreitig wissenschaftlich anerkannt sei. Die Klägerin erläutert zudem ausführlich den Behandlungsverlauf aller von dem Beklagten als unwirtschaftlich dargestellten Patient*innen.

Die Klägerin beantragt, 
den Beschluss des Beklagten vom 12. Januar 2021 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen.

Er ist über die Ausführungen in seinem streitgegenständlichen Beschluss der Auffassung, dass kompensierende Einsparungen nicht substantiiert dargelegt worden seien. Bei der GOP 35110 EBM handele sich um eine Leistung des 35. Kapitels des EBM: „Leistungen gemäß der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinie)". Die Leistungen des 35. Kapitels seien damit entsprechend der Vorgaben der Psychotherapie-RL zu erbringen. Folglich sei es bei der Leistungserbringung nach GOP 35100 EBM erforderlich, dass die Diagnose den Vorgaben der Psychotherapie-RL entspreche. Sowohl § 21 Abs. 1 PT-RL als auch § 21 Abs. 2 PT-RL bezögen sich auf psychische Störungen.

In § 22 Abs. 1 der PT-RL würden die Indikationen zur Anwendung von Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung aufgeführt. Seitens des Beklagten sei festgestellt worden, dass beispielsweise im Quartal I/2015 auf 155 Behandlungsscheinen keine F-Verschlüsselung vorgelegen hätte und im Quartal I/2016 auf 106 Behandlungsscheinen. In § 37 PT-RL sei ausdrücklich geregelt, dass Leistungen nach dieser Richtlinie eine schriftliche Dokumentation des Datums der Leistungserbringung, der diagnostischen Erhebungen, der wesentlichen Inhalte der psychotherapeutischen Interventionen sowie der Ergebnisse in der Patientenakte, erforderten. Die Dokumentationspflichten dienten bei gesetzlich versicherten Patient*innen auch dem Nachweis einer wirtschaftlichen und ordnungsgemäßen Leistungserbringung. Die Klägerin müsse dementsprechend Fehler bei der Dokumentation gegen sich gelten lassen.

Mit Beschluss vom 12. Februar 2021 hat die Kammer die Vertragsparteien der Gesamtverträge nach § 83 SGB V zum Verfahren beigeladen. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.


Entscheidungsgründe

Die Kammer hat in der Besetzung mit einer ehrenamtlichen Richterin aus den Kreisen der Vertragsärzte und einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Sie konnte dies trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beigeladenen zu 1) bis 7) tun, weil diese ordnungsgemäß geladen worden sind.

Die zulässige Klage ist auch begründet. 

Der Beschluss des Beklagten vom 12. Januar 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. 

Gegenstand des Verfahrens ist nur der Bescheid des Beklagten, nicht auch der der Prüfungsstelle. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird.

Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V i.V.m. der Prüfvereinbarung gemäß § 106 Abs. 3 SGB V, gültig ab 1. Januar 2008 (PV).

Die Wirtschaftlichkeit der Versorgung wird durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten beurteilt, hier § 10 PV (Auffälligkeitsprüfung). Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode. Die Abrechnungs- bzw. Verordnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe – bzw. mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe – im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog. intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt. 

Vorliegend hat der Beklagte die Klägerin mit der Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinärzte/hausärztliche Internisten in Hessen) verglichen, soweit diese die GOP 35110 EBM auch tatsächlich abrechneten. Dies ist zur Überzeugung der Kammer nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf einen Vergleich mit einer verfeinerten Prüfgruppe. Auf die Bildung einer besonderen, engeren Vergleichsgruppe kann nur dann nicht verzichtet werden, wenn die jeweils maßgebenden Leistungsbedingungen so verschieden sind, dass von einem statistischen Vergleich von vornherein keine verwertbaren Aussagen über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit einer Leistung oder eines Leistungskomplexes zu erwarten sind (BSG, Urteil vom 10. Mai 2000, B 6 KA 25/99 R).

Das bedeutet nicht, dass jede abweichende Behandlungsausrichtung oder sonstige Behandlungsbesonderheit einer Arztgruppe stets zur Bildung einer engeren Vergleichsgruppe nötigt. Die Bildung einer engeren Vergleichsgruppe unterliegt einem Beurteilungsspielraum der Prüfgremien, der gerichtlich nur begrenzt überprüfbar ist (BSG, Urteil vom 27. April 2005, B 6 KA 39/04 R). Der Vortrag der Klägerin, dass sie im psychotherapeutischen Bereich deutlich mehr tätig sei als die Kollegen derselben Fachgruppe, setzt zur Überzeugung der Kammer nicht zwangsläufig die Bildung einer verfeinerten Vergleichsgruppe voraus, da die Besonderheiten im Rahmen des späteren Prüfungsschrittes, bei den Praxisbesonderheiten, hinreichend quantifiziert und berücksichtigt werden können (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 11. Dezember 2002, B 6 KA 21102 B).

Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten in einem offensichtlichen Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, d. h., ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02). Von welchem Grenzwert an ein offensichtliches Missverhältnis anzunehmen ist, entzieht sich einer allgemein verbindlichen Festlegung (BSG, Urteil vom 15. März 1995, 6 RKa 37/93). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt zwischen dem Bereich der normalen Streuung, der Überschreitungen um bis zu ca. 20 % erfasst, und der Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis der Bereich der Übergangszone. Die Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis hat das BSG früher bei einer Überschreitung um ca. 50 % angenommen. Seit längerem hat es – unter bestimmten Voraussetzungen – auch niedrigere Werte um ca. 40 % ausreichen lassen. Die Prüfgremien haben einen Beurteilungsspielraum, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis höher oder niedriger festzulegen. 

Jedenfalls ist nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte den Vergleichsgruppendurchschnitt als Bezugswert ansetzt. Diese Bezugswerte hat die Klägerin in den streitgegenständlichen Quartalen jeweils um mehrere hundert Prozent überschritten, so dass der Anscheinsbeweis der Unwirtschaftlichkeit rein statistisch geführt ist.

Das BSG stellt jedoch in ständiger Rechtsprechung klar, dass die statistische Betrachtung nur einen Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausmacht und durch eine sog. intellektuelle Prüfung und Entscheidung ergänzt werden muss, bei der die für die Frage der Wirtschaftlichkeit relevanten medizinisch-ärztlichen Gesichtspunkte, wie das Behandlungsverhalten und die unterschiedlichen Behandlungsweisen innerhalb der Arztgruppe und die bei dem geprüften Arzt vorhandenen Praxisbesonderheiten, in Rechnung zu stellen sind (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Diese Gesichtspunkte sind nicht erst in einem späteren Verfahrensstadium oder nur auf entsprechende Einwendungen des Arztes/der Ärztin, sondern bereits auf der ersten Prüfungsstufe von Amts wegen mit zu berücksichtigen; denn die intellektuelle Prüfung dient dazu, die Aussagen der Statistik zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Erst aufgrund einer Zusammenschau der statistischen Erkenntnisse und der den Prüfgremien erkennbaren medizinisch-ärztlichen Gegebenheiten lässt sich beurteilen, ob die vorgefundenen Vergleichswerte die Annahme eines offensichtlichen Missverhältnisses und damit den Schluss auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise rechtfertigen.

Denn auch nach den Regeln des Anscheinsbeweises kann aus einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts nur dann auf eine Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden, wenn ein solcher Zusammenhang einem typischen Geschehensablauf entspricht, also die Fallkostendifferenz ein Ausmaß erreicht, bei dem erfahrungsgemäß von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen ist. Ein dahingehender Erfahrungssatz besteht aber nur unter der Voraussetzung, dass die wesentlichen Leistungsbedingungen des geprüften Arztes/der geprüften Ärztin mit den wesentlichen Leistungsbedingungen der verglichenen Ärzte übereinstimmen. Der Beweiswert der statistischen Aussagen wird eingeschränkt oder ganz aufgehoben, wenn bei der geprüften Arztpraxis besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende Umstände vorliegen, die für die zum Vergleich herangezogene Gruppe untypisch sind. Sind solche kostenerhöhenden Praxisbesonderheiten bekannt oder anhand der Behandlungsweise oder der Angaben des Arztes/der Ärztin erkennbar, so müssen ihre Auswirkungen bestimmt werden, ehe sich auf der Grundlage der statistischen Abweichungen eine verlässliche Aussage über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise treffen lässt. Das gilt umso mehr, als mit der Feststellung des offensichtlichen Missverhältnisses eine Verschlechterung der Beweisposition des Arztes verbunden ist, die dieser nur hinzunehmen braucht, wenn die Unwirtschaftlichkeit nach Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles als bewiesen angesehen werden kann (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Die Wirtschaftlichkeit einzelner Leistungen darf also nicht losgelöst von der Gesamttätigkeit und den Gesamtfallkosten des Vertragsarztes beurteilt werden (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02 R).

Der Beklagte hat zutreffend eine Praxisbesonderheit der Klägerin bei der psychosomatischen Grundversorgung anerkannt. 

Als Praxisbesonderheiten des geprüften Arztes kommen nur solche Umstände in Betracht, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind. Für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit ist es deshalb nicht ausreichend, dass bestimmte Leistungen in der Praxis eines Arztes erbracht werden. Vielmehr muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade in Bezug auf diese Merkmale von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet (BSG, Urteil vom 21. Juni 1995, 6 RKa 35/94). Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patient*innen und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken (BSG, Urteil vom 23. Februar 2005, B 6 KA 79/03 R). Ein bestimmter Patientenzuschnitt kann z. B. durch eine spezifische Qualifikation des Arztes, etwa aufgrund einer Zusatzbezeichnung bedingt sein (vgl. BSG, Urteil vom 6. September 2000, B 6 KA 24/99 R). Dies ist bei der Klägerin aufgrund der Zusatzbezeichnung „Psychotherapie“ unzweifelhaft der Fall. 

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der angefochtene Bescheid hinsichtlich des „Ob“ der Anerkennung von Praxisbesonderheiten nicht zu beanstanden. 

Die Kammer beanstandet hingegen den streitgegenständlichen Beschluss des Beklagten insoweit, als der Beklagte das ihm obliegende Ermessen hinsichtlich der Höhe der anzuerkennenden Praxisbesonderheit nicht in hinreichend präziser Weise ausgeübt hat. 

Grundsätzlich ist dem Beklagten einzuräumen, hinsichtlich des durch Besonderheiten erhöhten Abrechnungsvolumens den verursachten Mehraufwand zu schätzen (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R). Bei dieser Schätzung und Festlegung der Höhe der Honorarkürzungen hat der Beklagte einen weiten Beurteilungsspielraum, der eine ganze Bandbreite denkbarer vertretbarer Entscheidungen bis hin zur Kürzung des gesamten unwirtschaftlichen Mehraufwandes ermöglicht (BSG, Urteil vom 2. November 2005, B 6 KA 53/04 R). Auch eine Schätzung muss jedoch die vorhandenen Erkenntnismöglichkeiten zur Quantifizierung der Praxisbesonderheit nutzen. 

Der Beklagte geht zwar vom Vorliegen einer Praxisbesonderheit aufgrund der von der Prüfungsstelle im Rahmen der Prävalenzprüfung festgestellten Häufigkeit der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen beim Patientenklientel der Klägerin aus und ermittelt die Praxisbesonderheit auch quartalsweise.  

Grundsätzlich hält die Kammer die Vorgehensweise des Beklagten, Prävalenzen zu ermitteln und daraus Rückschlüsse auf die Quantität der Praxisbesonderheit zu ziehen für sehr geeignet, um Praxisbesonderheiten festzustellen. Dies ist jedoch nicht 1:1 möglich (SG Marburg, Urteil vom 16. November 2022, S 17 KA 234/21, nicht rechtskräftig). Soweit der Beklagte die Quantifizierung der Praxisbesonderheit ausschließlich in Bezug auf eine im Rahmen der Prävalenzprüfung ermittelte Diagnosehäufung bei der GOP 35110 EBM stützt, ist dies zur Überzeugung der Kammer zu beanstanden. 

Die Kammer hat bereits mehrfach entschieden, dass bei der Bemessung der Höhe der Praxisbesonderheit zu berücksichtigen ist, dass die Prävalenzprüfung fallbezogen durchgeführt wird, während sich die Überschreitung bei der Einzelziffer nach deren Ansatzhäufigkeit – die gerade keinen Fallbezug aufweist (vgl. SG Marburg, S 17 KA 346/15) – richtet. Die Prävalenzen werden nach der Häufigkeit der Diagnoseerfassung ermittelt. Da alle Diagnosen erfasst werden, fließen Patienten mehrfach in die Bewertung ein, bei denen mehrere der aus Sicht des Beklagten relevanten Diagnosen parallel kodiert wurden. Nicht berücksichtigt wird hingegen die Anzahl der pro Diagnose abgerechneten GOP. Letzteres führt im Ergebnis gerade bei der GOP 35110 EBM dazu, dass Patient*innen, die mehrfach im Quartal zu einer verbalen Intervention erscheinen, das Gesamtbild erheblich verzerren. § 21a der Psychotherapie-RL in der im streitgegenständlichen Zeitraum maßgeblichen Fassung (geändert am 16. Oktober 2014, in Kraft ab 3. Januar 2015) definiert für die verbale Intervention den Anwendungsbereich und eröffnet gerade die Anwendung über einen längeren Zeitraum, solange eine Psychotherapie nicht indiziert ist. Wenn die Klägerin darlegt, dass sie bei vielen ihrer Patient*innen eine entsprechende psychosomatische Begleitung vor oder nach psychotherapeutischer Therapie sowie auch bei sonstigem Krankheitsgeschehen als Schwerpunkt ihrer Praxis durchgeführt hat, so legt dies nahe, dass für diese Patient*innen häufig ein Mehrfachansatz der GOP 35110 EBM vorgenommen wurde. Dies dürfte nach Einschätzung der Kammer in der Vergleichsgruppe nicht mit vergleichbarer Häufigkeit vorkommen. Der vorliegende Fall offenbart insofern sehr exemplarisch die Unschärfe der Prävalenzprüfung im Hinblick auf die Häufung bei der Abrechnungsziffer. Die Kammer kann nicht ermessen, ob dieser Besonderheit der Praxis der Klägerin mit einem Mehrbehalt von +200% hinreichend Rechnung getragen wurde. Für diesen Schätzwert gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Betrachtet man die Häufung der Abrechnung der GOP 35110 EBM im Vergleich zur Fachgruppe, die in den streitgegenständlichen Quartalen bei +463, 64% bis +641,59% lag, so liegt es nahe, dass mit den +200% die Besonderheit nicht hinreichend abgebildet war.  

Grundsätzlich gilt weiterhin zur Überzeugung der Kammer, dass die Prävalenzwerte in zwei Richtungen eine Unschärfe aufweisen. Einerseits werden Patienten mit einer Diagnosehäufung (von zwei und mehr F-Diagnosen) mehrfach erfasst. Andererseits werden Mehrfachabrechnungen der Ziffer – bei nur einer Diagnose – nicht erfasst. Es ist davon auszugehen, dass diese Streubreite grundsätzlich in der gesamten Vergleichsgruppe vertreten ist, wobei jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass – gerade in Praxen mit psychosomatischem Schwerpunkt – aufgrund der Schwere und der Regelmäßigkeit der dort behandelten Erkrankungen eine überdurchschnittliche Häufung der Abrechnungsziffern auftritt, die bei der Prävalenzermittlung nicht berücksichtigt ist. Insofern hält die Kammer an der Auffassung fest, dass der Wert der Prävalenzen ein bedeutender Orientierungswert für das Ausmaß einer Praxisbesonderheit ist, keinesfalls aber für die betroffenen Kläger*innen der Weg verschlossen ist, darüber hinausgehend eine überdurchschnittliche Abrechnungshäufigkeit zu belegen. 

Zur Überzeugung der Kammer kann eine Vergleichbarkeit mit der Fachgruppe nur dann hergestellt werden, wenn sowohl bei der Ermittlung der F-Diagnosen als auch bei der Abrechnungshäufigkeit der GOP 35110 EBM patientenbezogen vorgegangen wird. So lassen sich die Unschärfen, die sowohl durch eine Häufung von F-Diagnosen bei einzelnen Patient*innen auftreten als auch durch eine Mehrfachabrechnung bei einzelnen Patient*innen auftreten, vollständig vermeiden. 

Grundsätzlich hält die Kammer zudem an ihrer ständigen Rechtsprechung (Urteil vom 19. Juni 2019, S 17 KA 409/17) dahingehend fest, dass es an einer Vorschrift fehlt, die die Angabe einer F-Diagnose bereits in der Abrechnung als Voraussetzung für die Erbringung der hier streitigen GOP 35110 EBM vorsieht und deshalb den Ausschluss weiteren Tatsachenvortrages rechtfertigen könnte. Aus den EBM Ziffern ergibt sich keine Pflicht zur Angabe einer bestimmten Diagnose, es sind auch keine bestimmten Diagnosen aufgezählt, die Voraussetzung für die Leistungserbringung wären. Die GOP 35110 EBM sieht allein eine mindestens 15minütige Arzt-Patienten-Interaktion bei psychosomatischen Krankheitszuständen vor. 

Die PT-RL lautet in § 22 Abs. 1 wie folgt:
„(1) Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie gemäß Abschnitt B und Maßnahmen der Psychosomatischen Grundversorgung gemäß Abschnitt C der Richtlinie bei der Behandlung von Krankheiten können nur sein:
1. Affektive Störungen: depressive Episoden, rezidivierende depressive Störungen, Dysthymie;
2. Angststörungen und Zwangsstörungen;
3. Somatoforme Störungen und Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen);
4. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen;
5. Essstörungen;
6. Nichtorganische Schlafstörungen;
7. Sexuelle Funktionsstörungen;
8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen;
9. Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend.“

Die hier streitige Leistung der GOP 35110 ist im Kapitel 35 EBM genannt, das überschrieben ist mit: Leistungen gemäß den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien). Sie fallen also unter die PT-RL und sind daher nur bei Vorliegen der in § 22 Abs. 1 PT-RL genannten Indikationen wirtschaftlich. Jedoch folgt daraus nicht, dass diese Indikationen nur dann gegeben sind, wenn sie als F-Diagnosen in der Abrechnung benannt sind. Vielmehr ist insoweit die Patientendokumentation des Arztes/der Ärztin zu prüfen. Die PT-RL selbst erfordert eine Dokumentation allein in § 12. Danach erfordern Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung eine schriftliche Dokumentation der diagnostischen Erhebungen und der wesentlichen Inhalte der psychotherapeutischen Interventionen. Daraus ergibt sich aber nicht, dass die Diagnosen als Abrechnungsdiagnosen anzugeben sind, vielmehr ist eine entsprechende Patientendokumentation in den Unterlagen des Vertragsarztes/der Vertragsärztin vorgesehen, die dann auch vom Beklagten zu prüfen ist (so auch SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18). Es erscheint zur Überzeugung der Kammer denkbar, dass die GOP 35110 EBM auch bei anderen Diagnosen, z.B. Krebserkrankungen oder Schmerzpatient*innen angesetzt wird. Dies sieht auch die PT-RL ausdrücklich so vor, wenn es dort in § 21 Abs. 2 heißt, dass die Zielsetzung der psychosomatischen Grundversorgung in einer seelischen Krankenbehandlung besteht, die während der Behandlung von somatischen, funktionellen und psychischen Störungen von Krankheitswert durchgeführt werden kann. Insoweit können funktionelle Störungen von Krankheitswert Anlass für eine verbale Intervention nach der GOP 35110 EBM sein, wenn mit dieser Störung eine seelische Belastung einhergeht. Beispielhaft kommt dies auch im Rahmen der Reproduktionsmedizin (vgl. SG Marburg, Urteile vom 12. Oktober 2022, S 17 KA 12/18 und S 17 KA 13/18) oder bei orthopädischen Beschwerden (vgl. SG Marburg, Urteil vom 3. Mai 2023, S 17 KA 527/20) in Betracht, was die Kammer ebenfalls bereits entschieden hat. Allein diese Feststellung untermauert die Tatsache, dass eine rein statistische Betrachtung nach Prävalenzen im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht ausreichend ist, sofern Anhaltspunkte für eine Besonderheit bestehen. 

Jedoch können den Prüfgremien insoweit keine Ermittlungen ins Blaue hinein zugemutet werden, sondern es obliegt dem Vertragsarzt/der Vertragsärztin, die Behandlungsfälle, bei denen keine F-Diagnose angesetzt wurde und dennoch Anlass für eine psychosomatische Grundversorgung bestand, auf Anforderung der Prüfgremien substantiiert darzulegen. Dies hat die Klägerin vorliegend ausführlich getan. Sie hat insbesondere häufig „Unwohlsein und Ermüdung“ im Zusammenhang mit funktionellen Symptomen dokumentiert. Dies vermag zur Überzeugung der Kammer den Ansatz der GOP 35110 EBM zu begründen. Der Beklagte ist dem nicht entgegengetreten. 

In nicht zu beanstandender Weise hat der Beklagte eine Praxisbesonderheit aufgrund der Betreuung des D.-Hauses des Blauen Kreuzes verneint. Sofern dort insbesondere psychiatrische Patient*innen versorgt werden, ist der Besonderheit in dieser Versorgung mit der Prävalenzbetrachtung bereits Rechnung getragen.

Aus den genannten Gründen musste die Klage dennoch vollumfänglich Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

 

Rechtskraft
Aus
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