L 7 VE 14/18

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 14 VE 15/15
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 VE 14/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Eine sog Kann-Versorgung setzt für die Annahme eines Ursachenzusammenhangs zwischen einer Impfung und einem Gesundheitsschaden eine "qualifizierte Möglichkeit" bzw eine wissenschaftlich vertretene "Mindermeinung" voraus. Eine nur theoretische Möglichkeit genügt nicht.

2. Die Frage der Entstehung der Multiplen Sklerose (MS) ist medizinisch-wissenschaftlich umstritten. Demgegenüber ist geklärt, dass eine Grippeschutz- bzw Tetanusimpfung nicht zur Entstehung einer MS beitragen kann. Ein allenfalls möglicher Pseudoschub kann damit nicht gleichgesetzt werden.

 

Die Berufung wird zurückgewiesen.

 

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand:

 

Die Klägerin begehrt im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Anerkennung einer Multiplen Sklerose (MS) als Impfschaden und die Bewilligung einer Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Schädigungsfolge (GdS) von mindestens 30.

 

Die am ... 1963 geborene Klägerin war in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) als Krankenschwester beschäftigt und erhielt am 26. September 1985 eine Grippeschutzimpfung. Der Chefarzt der Inneren Abteilung des Krankenhauses T. Dr. P. teilte am 10. Dezember 1985 über eine stationäre Behandlung vom 7. bis 29. November 1985 mit: Bei der Klägerin sei vermutlich ein Erstschub einer Encephalomyelitis disseminata oder MS aufgetreten. Nach fachärztlichen Literaturangaben könne eine Impfencephalitis auch nach Wochen auftreten und sei nach der beobachteten Symptomatik ebenfalls nicht auszuschließen. Unter dem 7. März 1986 gab Obermedizinalrat Dr. N. an, dass die Klägerin inzwischen voll arbeitsfähig sei.

 

In einer Entscheidung der Bezirkskommission zur Anerkennung von Gesundheitsschäden als Folge von Schutzimpfungen vom 25. März 1986 wird ausgeführt, dass die Klägerin nach eingeholten Befunden am 31. Oktober 1985 morgens eine körperliche Reaktion in Gestalt von heftigem Schwindel und Erbrechen gezeigt habe, die auch mit Doppelbildern verbunden gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt sei die Klägerin nicht mehr in der Lage gewesen, selbstständig das Bett zu verlassen. Am 1. November 1985 sei sie auf die Intensivstation des Kreiskrankenhauses T. verlegt worden. Am Aufnahmetag seien Zeichen einer linksseitigen peripheren Facialisparese sowie einer inkompletten Oculomotoriusschwäche festgestellt worden. Es habe bei ihr ein grobschlägiger Nystagmus bei Blick nach rechts bestanden. Der Befund sei neurologisch bestätigt worden und entweder als Erstschub einer MS oder einer Impfencephalitis gedeutet worden. Die Bezirkskommission zur Anerkennung von Gesundheitsschäden als Folge von Schutzimpfungen traf folgende Entscheidung: „Wegen des großen zeitlichen Abstandes (35 Tage) zwischen der Grippeschutzimpfung und der encephalitischen Symptomatik werde aufgrund der bisher vorliegenden Literatur ein Zusammenhang abgelehnt.“

 

Am 5. April 1990 erhielt die Klägerin eine Tetanusschutzimpfung.

 

Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. (Kreispoliklinik S.) berichtete am 10. Juli 1990, dass die Klägerin Anfang Juni 1990 offenbar den 3. Schub einer organischen ZNS-Affektion erlitten habe, was mit großer Wahrscheinlichkeit als MS zu werten sei. Hierfür sprächen das jugendliche Alter der Klägerin, der schubmäßige Verlauf (1985, 1988, 1990) und die nahezu erloschenen Bauchhautreflexe.

 

Am 5. April 1993 beantragte die Klägerin die Anerkennung eines Impfschadens nach der Grippeschutz- sowie der Tetanusimpfung. Der Beklagte ließ eine gutachterliche Stellungnahme durch den Leitenden Arzt Medizinalrat Dr. T. sowie die Fachärztin für Pädiatrie Dr. R. vom 17. Januar 1994 erstatten, in der ausgeführt wird: Anhand der vorliegenden Unterlagen sei retrospektiv einzuschätzen, dass es sich bei dem Krankheitsbild 1985, das 35 Tage nach der Influenzaschutzimpfung aufgetreten sei, nicht um eine Encephalitis, sondern um einen akuten Schub einer MS gehandelt habe. In der Literatur gebe es umfangreiche Untersuchungen zum Zusammenhang der Influenzaschutzimpfung und einer MS, die alle übereinstimmend einen Ursachenzusammenhang verneint hätten. Auch wenn nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht (AHP) und nach dem Schwerbehinderungsgesetz 1983 unter Punkt 64 S. 199 ein zeitlicher Zusammenhang bestehe und demnach eine Kann-Versorgung zu diskutieren wäre, sei gerade in der Wissenschaft die Frage des Zusammenhangs zwischen einer Influenzaschutzimpfung und einer MS gründlich erforscht. Daher komme eine Kann-Versorgung bei dieser Impfung und einer MS-Erkrankung nicht in Betracht, weil von einer guten Studienlage auszugehen sei. Dies rechtfertige die Schlussfolgerung, dass eine Impfung gegen Influenza bei MS-Patienten kein Risiko darstelle. Bei der Klägerin habe keine Impfencephalitis im zeitlichen Zusammenhang vorgelegen. Vielmehr habe sich der 1. Schub einer MS manifestiert. 5 Jahre nach dem 1. Schub sei bei der Klägerin die MS durch eine Kernspintomografie gesichert worden. Die MS nach Influenzaschutzimpfung sei kein Impfschaden im Sinne des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG).

 

Dem folgend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 15. Februar 1994 die Anerkennung als Impfschaden und eine Beschädigtenversorgung wegen des fehlenden kausalen Zusammenhangs zwischen der Influenzaschutzimpfung und dem Auftreten einer MS ab. Hiergegen legte die Klägerin am 10. März 1994 Widerspruch ein und wies zudem auf eine Tetanusimpfung im Jahr 1990 hin. Der Beklagte holte eine weitere Stellungnahme von Medizinalrat Dr. T. und Dr. R. vom 26. September 1994 ein: Aus den nachgereichten ambulanten Unterlagen des Hausarztes sowie des Nervenarztes von 1994 gehe hervor, dass die Klägerin vom 10. März 1994 bis 8. April 1994 wegen eines 3. Schubs der MS arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Die von der Klägerin geltend gemachte Auslösung des 2. Schubs der MS durch eine Tetanusimpfung sei genau wie die Auslösung des 1. Schubs durch die Influenzaschutzimpfung nach dem BSeuchG abzulehnen. Weder in den gezielten Studien noch aus der Spontanerfassung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen habe sich bisher ein Hinweis auf eine Häufung von Neuerkrankungen oder neuen Schüben ergeben. Konsistenzen von Impfungen und der Manifestation einer relativ seltenen Erkrankung, wie der MS, seien zufällig. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Tetanusimpfung und dem 2. Schub der MS sei daher abzulehnen. Dem folgend wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13. April 1995 den Widerspruch zurück.

 

Am 4. März 2015 stellte die Klägerin einen Überprüfungsantrag nach § 44 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuches - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) und machte geltend: Es gebe neue Erkenntnisse und zahlreiche Gerichtsurteile, die eine Überprüfung und Neubewertung des Sachverhaltes rechtfertigen würden.

 

Der Beklagte ließ die medizinischen Unterlagen durch seinen ärztlichen Gutachter Dipl.-Med. K. am 13. April 2015 auswerten. Nach dem epidemiologischen Bulletin des Robert-Koch-Instituts von Juni 2007 werde eine MS nicht als bekannte Komplikation nach einer Influenzaimpfung angegeben. Dies ergebe sich auch aus den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP). Zudem sei eine Großtante der Klägerin ebenfalls an MS erkrankt, was auf eine gewisse familiäre Häufung hindeute. Der angegriffene Bescheid sei daher aus medizinischer Sicht nicht zweifelsfrei unrichtig.

 

Mit Bescheid vom 12. Mai 2015 lehnte der Beklagte die Erteilung eines Rücknahmebescheides ab. Hiergegen legte die Klägerin am 2. Juni 2015 Widerspruch ein. Dr. P. habe nicht ausschließen können, dass die Grippeschutzimpfung die MS ausgelöst habe. Auch werde ihre Auffassung durch zahlreiche sozialgerichtliche Entscheidungen gestützt.

 

Der Beklagte holte eine sozialmedizinische Stellungnahme seiner ärztlichen Gutachterin Dr. W. vom 17. Juli 2015 ein. Danach habe es 9 große Fallkontroll-Studien aus verschiedenen Ländern im Zeitraum von 1964 bis 2004 gegeben, die sich mit dem Risiko einer MS-Entstehung nach Tetanusimpfung beschäftigt hätten. Aus den Studien gehe hervor, dass sich das Risiko einer MS nach einer Tetanusimpfung signifikant um ein Drittel reduziert habe. In den Studien sei außerdem das MS-Erkrankungsrisiko nach einer Grippeschutzimpfung ausgewertet worden. Auch nach diesen Studien sei ein vermindertes Risiko für die Entwicklung einer MS, wenn auch geringer als bei der Tetanusimpfung, festgestellt worden. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Tetanus- sowie der Grippeschutzimpfung und der Entstehung einer MS sei nicht feststellbar. Wegen dieser eindeutigen Faktenlage komme auch keine Kann-Versorgung in Betracht. Mit Widerspruchsbescheid vom 31. August 2015 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

 

Hiergegen hat die Klägerin am 17. September 2015 Klage beim Sozialgericht Magdeburg (SG) erhoben und ihr Begehren weiterverfolgt.

 

Das SG hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt. Oberarzt Dr. S. (Krankenhaus H. gGmbH, Klinik für Neurologie) hat am 11. Juni 2018 aufgrund der Behandlung von November 2017 einen Erkrankungsschub bei Verdacht auf chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung (chronische Entzündung des Gehirns und des Rückenmarkes), bisher extern als MS klassifiziert, diagnostiziert. In einem beigefügten Brief vom 4. November 2017 wird aufgrund eines MS-Schubs ausgeführt: Bei der Klägerin sei im Jahr 1989 erstmals die Diagnose MS gestellt worden. Bis 2014 seien alle 3 bis 4 Jahre MS-Schübe aufgetreten. Der Facharzt für Neurologie Prof. Dr. J. hat am 23. September 2018 berichtet, dass er die Klägerin seit 2014 mehrfach wegen einer MS mit vorherrschend schubförmigen Verlauf behandelt. habe.

 

Das SG hat mit Urteil vom 27. September 2018 die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Überprüfungsantrag der Klägerin nach § 44 Abs. 1 SGB X habe keinen Erfolg. Die Ablehnung der Beschädigtenversorgung durch den Beklagten im Bescheid vom 15. Februar 1994 sei rechtlich nicht zu beanstanden. Es bestehe kein Kausalzusammenhang zwischen der Grippe- bzw. der Tetanusschutzimpfung und der MS-Erkrankung der Klägerin. Ein Impfschaden nach § 60 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) sei nicht gegeben. Das Impfgutachten vom 17. Januar 1994 sei weiterhin nachvollziehbar und überzeugend. Auch eine Kann-Versorgung komme nicht in Betracht. Die Studienlage zum Ursachenzusammenhang zwischen der Grippeschutzimpfung und der MS sei ausreichend erforscht. Es fehle daher nicht an wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Ursachenzusammenhang zwischen der Grippe- bzw. Tetanusimpfung und der Entstehung einer MS.

 

Die Klägerin hat gegen das ihr am 15. November 2018 zugestellte Urteil am 4. Dezember 2018 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) eingelegt und ihr Begehren weiterverfolgt. Zwar existiere keine Studie, die den Zusammenhang zwischen Impfung und dem Auftreten von Immunerkrankungen nachgewiesen habe. Dies entbinde den Beklagten jedoch nicht davon, eine notwendige Einzelfallprüfung bei ihr vorzunehmen. Nach einer Stellungnahme von Frau F. von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft aus dem Jahr 1997, die sie als Anlage übersandt hat, könne ein MS-Schub durch eine Impfung hervorgerufen werden. Der Verlauf bei ihr spreche nach Auffassung von Frau F. für einen Erstschub.

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 27. September 2018 sowie den Bescheid des Beklagten vom 12. Mai 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2015 aufzuheben und den Beklagten unter Rücknahme des Bescheides vom 15. Februar 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. April 1995 zu verpflichten, die Multiple Sklerose als Schädigungsfolge nach dem Bundesseuchengesetz anzuerkennen und ihr eine Beschädigtenversorgung nach einem GdS von mindestens 30 zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält seine Entscheidung sowie die der Vorinstanz für zutreffend.

 

Mit Beschluss vom 20. August 2020 hat der Senat die BGW Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege zum Verfahren beigeladen.

 

Der Senat hat Beweis erhoben durch die Einholung eines neurologischen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Z. vom 24. November 2021 nach Aktenlage. Hiernach sei die MS eine chronische Erkrankung, die hauptsächlich durch immun vermittelte Mechanismen angetrieben werde. Der Mechanismus der Aktivierung sei sehr vielfältig und noch nicht vollständig aufgeklärt. Das primäre Antigen, das diese Reaktion auslöse, sei noch unbekannt und möglicherweise unterschiedlicher Genese. Nach einer Schädigung des ZNS-Gewebes würden Immunzellen in einem komplexen Verlauf aktiviert. Da Impfungen auf die Aktivierung des Immunsystems wirken, sei die Hypothese aufgestellt worden, dass ein Stimulus des Immunsystems eine Autoimmunerkrankung hervorrufen oder verschlimmern könne. Der Influenza-Impfstoff sei der am meisten untersuchte Impfstoff im Zusammenhang mit einer MS. Es gebe bisher keinen ausreichend wissenschaftlichen Beweis dafür, dass eine MS durch eine Grippeimpfung ausgelöst werden könne. Die saisonale Grippeschutzimpfung gelte bei MS-Patienten als sicher und werde auch jährlich empfohlen. Bezogen auf die Tetanusschutzimpfung seien 8 Studien bekannt, die sich mit dem Risiko für die Entwicklung von MS nach einer Tetanusschutzimpfung beschäftigt hätten. Keine dieser Studien habe einen Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer MS ergeben. Bei 3 Studien habe sich sogar ein möglicher Schutzeffekt der Tetanus-Impfung gezeigt. Zusammenfassend sei nach aktuellem Wissensstand eine MS nicht durch die genannten Impfungen beeinflussbar.

 

Die Klägerin hat gegen das Gutachten geltend gemacht: Es sei widersprüchlich, wenn der Sachverständige auf der einen Seite davon ausgehe, dass eine Influenzainfektion zu einer Verschlimmerung einer MS bzw. zu entsprechenden MS-Schüben führen könne und auf der anderen Seite einen Kausalzusammenhang zwischen Impfung und einem MS-Schub verneine.

 

Der Beklagte hat eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Leitenden Ärztin Dr. S. vom 15. Februar 2022 vorgelegt. Die Klägerin verkenne den Unterschied zwischen einer Grippeinfektion sowie einer Grippeschutzimpfung. Ihre Argumentation sei medizinisch nicht nachvollziehbar. Es ergäben sich keine neuen Anknüpfungspunkte für eine sog. Kann-Versorgung.

 

Der Sachverständige Prof. Dr. Z. hat in einer ergänzenden Stellungnahme vom 19. Mai 2022 zu den Kritikpunkten der Klägerin ausgeführt: Die Tatsache, dass die Entstehung einer MS noch nicht geklärt sei, bedeute nicht, dass es Pathomechanismen neurologischer Erkrankungen gebe, die als Ursache für eine MS ausgeschlossen werden könnten. Dass eine Grippeschutzimpfung eine akute Impfung-Enzephalitis auslösen könne, sei richtig. Eine akute Impfung-Enzephalitis sei jedoch etwas völlig anderes als ein MS-Schub. In der Fachliteratur werde nicht belegt, dass auch ein MS-Schub durch Impfungen initiiert werden könne. Die Aussage, dass Influenzainfektionen zu einer Verschlimmerung der MS oder einem MS-Schub führen könnten, sei daher korrekt. Dabei dürfe jedoch der immunpathogenetische Unterschied zwischen einer Influenzainfektion und einer Influenzaimpfung nicht verwechselt werden. Gerade deswegen werde die jährliche Influenzaimpfung bei MS-Patienten empfohlen.

 

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Chefarzt der Abteilung Neurologie und Facharzt für Neurologie und Nervenheilkunde Dr. F. (A. Klinik B. W.) ein Sachverständigengutachten vom 18. Mai 2022 (Untersuchung vom 13. Mai 2022) erstattet: Die Klägerin leide danach an einer primär schubförmigen MS. Sie habe bisher mehrere schubförmige Ereignisse erlitten, die erfolgreich behandelt worden seien (letztmalig im November 2017). Bei der Großtante der Klägerin väterlicherseits habe der Verdacht auf eine MS bestanden. Es bestehe kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der MS und den beiden Impfungen von September 1985 bzw. April 1990. Der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. Z. sei daher zuzustimmen. Es seien keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorhanden, die maßgeblich für eine Neubewertung der bisherigen Einschätzung sein könnten. Aufgrund einer Aktivierung des Immunsystems könne in seltenen Fällen nicht sicher ausgeschlossen werden, dass sich infolge einer Impfung ein Pseudoschub im Rahmen einer MS-Erkrankung entwickeln könne. Der Pseudoschub sei jedoch nur Ausdruck der vorhandenen Erkrankung und habe nichts mit der ursächlichen Entstehung der Erkrankung durch eine etwaige Impfung zu tun. Pathognomonisch gehe man davon aus, dass die Impfreaktion zu Fieber führen könne. Die erhöhte Körpertemperatur könne kurzzeitig vorhandene MS-Symptome verschlechtern (Uhthoff-Phänomen). Gleichwohl sei im Fall der Klägerin auch der zeitliche Abstand zwischen Impfung und Schub mit 34 Tagen bzw. 8 Wochen recht lang, sodass das Uhthoff-Phänomen nicht anzunehmen sei. Die Klägerin habe mehrere Schübe unabhängig von etwaigen Impfungen erlitten, sodass ein Impfzusammenhang höchst unwahrscheinlich sei. Die Initiierung eines MS-Pseudoschubes durch eine Grippeschutzimpfung sei im Fall der Klägerin ebenfalls höchst unwahrscheinlich. Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft seien Grippe- und Tetanusschutzimpfungen weder für die Entstehung einer MS noch für eine mögliche Symptomverstärkung der Erkrankung verantwortlich.

 

Die Klägerin hat zu dem Gutachten ergänzend ausgeführt: Vor der Impfung habe sie keine Symptome einer schubförmigen MS gehabt. 34 Tage nach der erfolgten Grippeschutzimpfung sei sie von einem Tag auf den anderen hilflos geworden. Sie sehe unter Hinweis auf die erstbehandelnden Ärzte Dr. G. und Dr. P. eine Bestätigung darin, dass die aufgetretenen Krankheitssymptome Folge der Impfung gewesen seien. Diese Auffassung werde zudem durch verschiedene Urteile der Sozialgerichtsbarkeit bestätigt. Zudem werde die sog. Kann-Versorgung unzutreffend gewürdigt. Unter Berücksichtigung der gegensätzlichen Ausführungen seitens der Mediziner bestehe eine Ungewissheit in der medizinischen Wissenschaft. In einem weiteren Schreiben hat die Klägerin auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) C-621/15 – Urteil vom 21. Juni 2017 – hingewiesen und ausgeführt, dass hiernach von einer Beweiserleichterung ausgegangen werden könne. Sie habe hinreichende Indizien für einen Kausalzusammenhang im Sinne der EuGH-Rechtsprechung vorgetragen.

 

Der Beklagte hat ausgeführt, dass auf der Basis der vorliegenden Gutachten keine Hinweise auf die Voraussetzungen einer sog. Kann-Versorgung bestünden. Diese setze voraus, dass eine kausal gute Möglichkeit bestehe, dass die Impfung als ursächlich auslösendes Element für den 1. Erkrankungsschub angesehen werden könne.

 

Der Beklagte hat eine sozialmedizinische Stellungnahme seiner ärztlichen Gutachterin Dr. W. vom 2. September 2022 vorgelegt. Hiernach sei auf die beiden neurologischen Gutachten zu verweisen. Eine Beweiserleichterung im Rahmen von versorgungsmedizinischen Kausalitätsbeurteilungen komme für die Klägerin nicht in Betracht.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten ergänzend verwiesen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung des Senats gewesen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die statthafte und auch in der von § 151 Abs. 1 SGG vorgeschriebenen Form und Frist eingelegte Berufung der Klägerin ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Anerkennung der MS als Schädigungsfolge und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung.

 

Streitgegenstand ist das Begehren der Klägerin, die MS als Impfschaden festzustellen, sowie eine Beschädigtenversorgung. Dabei bildet der Anspruch auf eine sog. Kann-Versorgung keinen eigenen Streitgegenstand (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2017, L 7 VE 7/14, juris m.w.N.).

 

Rechtsgrundlage für den von der Klägerin in zulässiger Weise mit einer kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) geltend gemachten Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 15. Februar 1994, die begehrte Feststellung der Anerkennung einer MS als Folge einer Impfung sowie die verfolgte Gewährung von Grundrente sind § 44 SGB X, §§ 51, 52 BSeuchG (ab 1. Januar 2001: § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG) i. V. m. §§ 30 und 31 Bundesversorgungsgesetz (BVG).

 

Die Klägerin verfolgt ihren Anspruch im Wege eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X. Soweit sie die Feststellung begehrt, die MS als Impfschaden anzuerkennen, handelt es sich nicht um Sozialleistungen, so dass § 44 Abs. 2 SGB X Anwendung findet. Danach ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (Satz 1). Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Satz 2). Hinsichtlich der von der Klägerin geltend gemachten Beschädigungsversorgung handelt es sich um eine Sozialleistung, so dass § 44 Abs. 1 SGB X heranzuziehen ist. Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein bereits bei seinem Erlass rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, auch wenn er unanfechtbar geworden ist.

 

Dabei ist innerhalb des Zugunstenverfahrens maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des zur Überprüfung gestellten Bescheides der Zeitpunkt seines Erlasses (vgl. Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 44, Rdn. 11). Zur Beurteilung der Fehlerhaftigkeit des Bescheides vom 15. Februar 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. April 1995 kommt es im Übrigen nicht auf den Stand der Erkenntnis bei Erlass, sondern bei der Überprüfung an (vgl. Schütze a.a.O.).

 

Materiell-rechtlich ist für die Anerkennung der MS als Impfschaden daher das im Zeitpunkt des Bescheides vom 15. Februar 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. April 1995 geltende BSeuchG anzuwenden, obwohl am 1. Januar 2001 nach Art. 5 Abs. 1 Seuchenneuordnungsgesetz das IfSG in Kraft und das BSeuchG zeitgleich ohne Übergangsvorschrift außer Kraft getreten ist (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18. Februar 2016, L 6 VJ 2595/14, juris).

 

Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit das BSeuchG nichts Abweichendes bestimmt, wer durch eine Impfung, die gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund des BSeuchG angeordnet oder von einer zuständigen Behörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen oder auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, einen Impfschaden erlitten hat. Die schädigende Einwirkung (die Impfung), die gesundheitliche Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und die Schädigungsfolge (ein Dauerleiden) müssen nachgewiesen und nicht nur wahrscheinlich sein (BSG, Urteil vom 19. März 1986, 9a RVi 2/84, SozR 3850 § 51 Nr. 9). Die Legaldefinition in § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG stellt klar, dass Impfschaden nicht jede Gesundheitsstörung ist, die mit Wahrscheinlichkeit auf der Impfung beruht, sondern nur der über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende (dazu BSG, Urteil vom 27. August 1998, B 9 VJ 2/97 R, juris). Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Impfung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (§ 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG).

 

Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist (BSG, Urteil vom 7. April 2011, B 9 VI 1/10 R m.w.N., juris).

 

Ein anderer Beweismaßstab kommt auch nicht aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 21. Juni 2017 (C-621/15) in Betracht. Der EuGH hat sich dort mit einer europäischen Richtlinie zur Haftung für fehlerhafte Produkte beschäftigt. Diese Richtlinie verändert jedoch nicht den Beweismaßstab im sozialen Entschädigungsrecht (vgl. BSG, Beschluss vom 4. Mai 2021, B 9 V 67/20 B, juris).

 

Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalitätsbeurteilung waren im sozialen Entschädigungsrecht bis Ende 2008 die verschiedenen Fassungen der geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales - BMAS) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog. antizipierte Sachverständigengutachten (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Sie waren in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts generell anzuwenden und wirkten dadurch wie eine Rechtsnorm normähnlich (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Sie enthielten in den Fassungen seit 1996 bis 2008 unter den Nr. 53 bis 143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr. 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr. 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

 

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr. 57 AHP 1996 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl. auch Nr. 57 AHP 2008): Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete Ständige Impfkommission (STIKO) entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.

 

Die seit dem 1. Januar 2009 an die Stelle der AHP getretene Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.) Anders als die AHP 1996 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Dabei sind alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.).

 

Bezogen auf die Impfungen sowie die Primärschädigung steht zunächst fest, dass die Klägerin im September 1985 eine Grippeschutzimpfung und im April 1990 eine Tetanusschutzimpfung erhalten hat. Außerdem steht im Vollbeweis fest, dass die Klägerin an einer seit 1989 diagnostisch gesicherten MS erkrankt ist. Dies lässt sich nach dem umfassend dokumentierten Krankheitsgeschehen sicher belegen und ist zwischen den Beteiligten auch nicht umstritten.

 

Nach den in der Vergangenheit vom Beklagten veranlassten gutachterlichen Stellungnahmen durch den Leitenden Arzt Medizinalrat Dr. T. sowie die Fachärztin für Pädiatrie Dr. R. vom 17. Januar 1994 sowie vom 26. September 1994 kann nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Grippe- bzw. die Tetanusimpfung die Entstehung der MS bei der Klägerin verursacht haben kann. Diese bisherige Einschätzung des Beklagten hat sich auch nach dem aktuellen Wissenstand nicht entscheidend verändert. So bestätigen der Sachverständige Prof. Dr. Z. und der Sachverständige Dr. F. in ihren jeweiligen Gutachten, dass es an einem Ursachenzusammenhang zwischen beiden Impfungen und der bei Klägerin aufgetretenen MS fehlt. Dr. F. hat zudem darauf hingewiesen, dass bei der Klägerin keine kurzzeitige Reaktion im Sinne des sog. Uhthoff-Phänomens aufgetreten ist. So kann eine Impfreaktion zu Fieber führen und über die erhöhte Körpertemperatur kurzzeitig MS-Symptome verschlechtern, was bei der Klägerin ärztlich jedoch nicht dokumentiert ist.

 

Gegen einen Ursachenzusammenhang spricht weiter eine naheliegende genetische Belastung der Klägerin als Alternativursache (vgl. Versorgungsarzt Dipl.-Med. K. vom 13. April 2015 und der Sachverständige Dr. F.).

 

Auch die Voraussetzungen für einen Anspruch nach der sog. Kann-Versorgung gemäß § 52 Abs. 2 Satz 2 BSeuchG scheiden bei der Klägerin aus. Eine Versorgung ist nach dieser Vorschrift mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde zu gewähren, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Als Voraussetzung dafür ist in Teil C, Nr. 4b der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) festgelegt, dass über die Ätiologie und Pathogenese des Leidens keine durch Forschung und Erfahrung genügend gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Auffassung herrschen darf. Außerdem darf wegen mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungen die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen oder Schädigungsfolgen für die Entstehung und den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden können. Weiterhin wird für die Kann-Versorgung vorausgesetzt, dass ein ursächlicher Einfluss der im Einzelfall vorliegenden Umstände in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen wird. Dabei reicht nicht allein die theoretische Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs aus. Denn die Verwaltung ist nicht ermächtigt, bei allen Krankheiten ungewisser Genese immer die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs – die so gut wie nicht widerlegt werden kann – ausreichen zu lassen (BSG, Urteil vom 10. November 1993, 9/9a RV 41/92, juris). Es genügt nicht, wenn ein Arzt oder auch mehrere Ärzte einen Ursachenzusammenhang nur behaupten. Vielmehr ist erforderlich, dass durch eine nachvollziehbare wissenschaftliche Lehrmeinung Erkenntnisse vorliegen, die für einen generellen, in der Regel durch statistische Erhebungen untermauerten Zusammenhang sprechen (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 1995, 9 RV 17/04, juris). Es darf nicht nur eine theoretische Möglichkeit des Zusammenhangs bestehen, sondern vielmehr eine "gute Möglichkeit", die sich in der wissenschaftlichen Medizin nur noch nicht so weit zur allgemeinen Lehrmeinung verdichtet hat, dass von gesicherten Erkenntnissen gesprochen werden kann (BSG, Urteil vom 12. Dezember 1995, a.a.O.; vom 17. Juli 2008, B 9/9a VS 5/06 R, juris; bzw. "qualifizierte Möglichkeit", Rösner, MedSach 1990, S. 4) und damit zumindest einen eingeschränkten Personenkreis der Fachmediziner im Sinne einer "Mindermeinung" überzeugt (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1. Februar 2011, L 7 VJ 42/03; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16. November 2011, L 4 VJ 2/10; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2017, L 7 VE 7/14, juris; LSG Niedersachen-Bremen, Urteil vom 5. November 2020, L 10 VE 46/17; LSG für das Saarland, Urteil vom 17. November 2021, L 5 VE 7/17, juris).

 

Nach den Ausführungen der in diesem Verfahren tätig gewordenen Mediziner besteht über Ätiologie und Pathogenese der MS, was ihre Entstehung angeht, keine klare medizinisch-wissenschaftliche Lehrmeinung, aber eine klare Meinung darüber, dass weder eine Grippeschutz- noch eine Tetanusimpfung zur Entstehung einer MS-Erkrankung beitragen kann. So hat Prof. Dr. Z. nach dem aktuellen Wissensstand keine Hinweise dafür gefunden, dass eine MS durch die genannten Impfungen überhaupt beeinflussbar ist. Zwar kann eine Influenzainfektion zu einer Verschlimmerung der MS oder einem MS-Schub führen. Hierbei darf jedoch der Unterschied zwischen einer Influenzainfektion und einer bloßen Influenzaimpfung nicht verwechselt werden. Gerade deswegen wird die Influenzaimpfung z.B. bei MS-Patienten auch ausdrücklich empfohlen. Dieser Einschätzung folgt auch der Sachverständige Dr. F.. Nach seiner Auffassung kann eine Grippeschutz- oder Tetanusimpfung allenfalls einen sog. Pseudoschub einer MS-Erkrankung auslösen. Dieser Pseudoschub ist jedoch nur Ausdruck der vorhandenen Erkrankung und darf nicht mit der ursächlichen Entstehung der eigentlichen MS-Erkrankung gleichgesetzt werden. Hinweise für Studien, die für eine "gute Möglichkeit" sprechen könnten, dass durch die beiden genannten Impfungen die MS verursacht worden ist, werden von keinem der beiden Sachverständigen genannt und auch von Seiten der Versorgungsärzte des Beklagten nicht bestätigt. Es fehlt an einer dokumentierten sowie ärztlich und statistisch begründeten Mindermeinung, die einen Ursachenzusammenhang zwischen den beiden genannten Impfungen und der Entstehung einer MS qualifiziert vertritt. Die Klägerin kann sich daher auf keine ärztliche Mindermeinung stützen. Der bloße Umstand, dass der 1. MS-Schub zeitnah nach der Grippeschutzimpfung aufgetreten ist, kann das Fehlen einer qualifizierten Mindermeinung für das Entstehen einer MS durch eine Grippeschutz- oder Tetanusimpfung nicht ersetzen.

 

Der Verweis der Klägerin auf anderslautende Urteile in der Rechtsprechung greift nicht durch. Die vom SG beigezogenen Urteile betreffen gerade nicht Grippeschutz- und Tetanusimpfungen im Ursachenzusammenhang zu einer MS, sondern Impfungen gegen andere Erkrankungen und ersetzen keinesfalls die wissenschaftlich notwendige Meinung.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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