S 17 KA 157/21

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 17 KA 157/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Mit der Prävalenzprüfung, bei der der Beklagte zur Ermittlung einer Praxisbesonderheit das Verhältnis der F-Diagnosen nach der PT-Richtlinie zu den abgerechneten GOP 35100 EBM bildet und dieses mit der Prüfgruppe vergleicht, sind Unschärfen verbunden, die bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind.

2. Eine Vergleichbarkeit mit der Prüfgruppe kann nur hergestellt werden, wenn sowohl die Ermittlung der F-Diagnosen als auch die Abrechnungshäufigkeit der GOP 35100 EBM patientenbezogen erfolgen. 

3. Im Gegensatz zur GOP 35110 EBM, die pro Patient*in vielfach angesetzt werden darf, ist eine Unschärfe der Prävalenz-Betrachtung bei der GOP 35100 EBM nicht zu erwarten, da diese Diagnostikziffer in aller Regel nur zu Beginn des Krankheitsfalles angesetzt werden dürfte. 

4. Die Zielsetzung der psychosomatischen Grundversorgung besteht nach den Vorgaben der Psychotherapie-Richtlinie in einer seelischen Krankenbehandlung, die während der Behandlung von somatischen, funktionellen und psychischen Störungen von Krankheitswert durchgeführt werden kann. Insoweit können funktionelle Störungen von Krankheitswert Anlass für eine diagnostische Abklärung nach der GOP 35100 EBM sein, wenn mit dieser Störung eine seelische Belastung einhergeht.
 


1.    Der Beschluss des Beklagten vom 15. April 2021 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

2.    Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über Honorarprüfungen betreffend die Quartale II/2016 bis IV/2016 wegen eines „offensichtlichen Missverhältnisses" im Vergleich zur Fachgruppe (FG) bei der Gebührenordnungsposition (GOP) 35100 (Differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM).

Die Klägerin, Fachärztin für Allgemeinmedizin, ist seit dem 1. April 2016 in einer Einzelpraxis in A-Stadt niedergelassen und nimmt an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Sie verfügt über die Genehmigung für die „Psychosomatische Grundversorgung“.

Das Prüfverfahren wurde durch die Prüfungsstelle (PS) von Amts wegen eingeleitet. Es wurden folgende Auffälligkeiten festgestellt:

Qtl. GO- NR. Anz.-GO-NR. je 100-Fälle- Praxis Durch. je Fall-Praxis Anz.-GO-NR. je 100-Fälle ausf. Praxen Durch. je Fall ausf. Praxen-PG Abw. In %
2016/2 35100 51 8,21 5 0,85 865,88
2016/3 35100 34 5,52 5 0,81 581,48
2016/4 35100 39 6,22 5 0,80 677,50


Mit Schreiben vom 11. Dezember 2017 teilte die PS der Klägerin die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit hinsichtlich ihrer Leistungserbringung bezogen auf die GOP 35100 EBM mit und bat um Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten und kompensatorischer Einsparungen.

Die Klägerin legte keine Stellungnahme vor. Die PS nahm Prävalenzprüfungen für alle zu prüfenden Quartale vor. Dabei wurden entsprechend § 22 der Psychotherapie-RL des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) die Indikationen für die psychosomatische Grundversorgung mit den ICD-10 Verschlüsselungen pro Quartal geprüft. Die PS stellte fest, dass in diesem Bereich zwischen 34 und 35 verschiedene ICD-Verschlüsselungen angesetzt worden waren und das ermittelte Mehr gegenüber der FG. 

Mit Bescheid vom 3. September 2018 erkannte die PS wegen der ermittelten Praxisbesonderheiten der Klägerin zudem zum Fallwert des Fachgruppendurchschnitts nicht nur +20% (Streubreite), sondern +100% zum Fachgruppendurchschnitt pauschal an.  Die PS zweifelte nicht an, dass die Klägerin die Leistungen tatsächlich erbracht hatte. Allerdings monierte sie das häufige Fehlen der ICD-10-Kodierungen aus dem Bereich des § 22 der Psychotherapie-RL.

Die PS setzte sodann in diesem Bescheid die nachfolgenden Brutto-Honorarkürzungen für die GOP 35100 EBM fest:
 

4,75 € je Fall x 1.108 Fälle = 5.263,00 € für das 2. Quartal 2016
2,43 € je Fall x 1.619 Fälle = 3.934,17 € für das 3. Quartal 2016
2,99 € je Fall x 1.592 Fälle = 4.760,08 € für das 4. Quartal 2016


Insgesamt erfolgte eine Honorarkürzung in Höhe von 13.957,25€ brutto. Dies entsprach einer Nettohonorarkürzung in Höhe von 13.478,37€.

Mit Schreiben vom 26. September 2018 legte die Klägerin fristgerecht Widerspruch gegen den Bescheid der PS ein und wies auf die Stellungnahme zu einem Verfahren betreffend die Vorquartale gegen das ehemalige MVZ C-Straße GbR in A-Stadt hin. Ihr Patientenklientel bestehe zu ca. 90% aus Mitbürgern mit Migrationshintergrund, wovon ca. 90% türkischsprachiger Herkunft seien. Zu einem großen Teil seien aus der ersten Generation und nachweislich anfälliger für Erkrankungen im psychosomatischen und psychiatrischen Bereich. Dies gelte auch für die Folgegenerationen. In A-Stadt und Umgebung herrsche eine deutliche Unterversorgung an psychologischer Betreuung. Insbesondere in der Gruppe der türkischsprachigen Bevölkerung sei der Mangel eklatant. Wartezeiten bis zu einem Jahr und länger seien keine Seltenheit. Oft würden gar keine Termine mehr vergeben. Daher kämen viele Patienten ausschließlich aus diesen Gründen in ihre Praxis. Sich mitteilen zu können, sei ein wichtiger Entscheidungsgrund. Als Überbrückungsmaßnahme bis eine fachspezifische Betreuung gefunden würde, sei die GOP 35100 EBM auch vorgesehen. Da diese Betreuung in der Regel erst nach mehr als 12 bis 24 Monaten gefunden werden könne, seien die Allgemeinmediziner gefragt. Die Aufgabe des Hausarztes beinhalte sowohl die physische als auch die psychische Betreuung ihrer Patient*innen. Weil sie selbst türkischer Herkunft sei und die türkische Sprache fließend beherrsche, sei sie auch bei psychischen Problemen die erste Ansprechpartnerin.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Beschluss vom 15. April 2021 zurück. Nach den Überprüfungen der PS liege ein offensichtliches Missverhältnis im Vergleich zu den Durchschnittswerten der FG der Allgemeinärzte/hausärztlich tätigen Internisten bei der GOP 35100 EBM vor. Der Vergleich sei nur mit denjenigen Praxen der Vergleichsgruppe, die diese Leistung auch tatsächlich selbst abrechneten, erfolgt. 

Es gebe keinen Erfahrungssatz, dass bei Ausländer*innen generell ein erhöhter Behandlungsbedarf bestehe. Zahlreiche Ausländer*innen, die schon lange in Deutschland lebten, seien integriert und unterschieden sich im Krankheitsverhalten deshalb nicht von Deutschen. Auch bei erst kürzerer Zeit in Deutschland lebenden Ausländer*innen sei nicht ersichtlich, warum pro Patient*in ein höherer Behandlungsbedarf bestehen solle als bei deutschen Kranken.

Des Weiteren ist bereits der PS im Rahmen ihrer intellektuellen Prüfung bei der orientierenden Durchsicht der Behandlungsscheine aufgefallen, dass Leistungen bezüglich der GOP 35100 EBM abgerechnet worden seien, die nicht den erforderlichen Codierungen für den Ansatz dieser GOP entsprochen hätten. Auch im Rahmen der Sitzung des Beklagten seien Behandlungsscheine einzelner Patient*innen durchgesehen worden. Hierbei sei unter anderem festgestellt worden, dass die bei den geprüften Patienten angegebenen Diagnosen den Ansatz der teilweise auch mehrfach abgerechneten GOP 35100 EBM nicht rechtfertigten. Dies gelte beispielhaft für die Diagnosen „Adipositas…Essentielle Hypertonie…Nierenstein“ oder „Akute Rhinopharyntitis“ sowie „kontrazeptive Maßnahme …und sonst. nicht entzündliche Krankheiten der Vagina“. Der Beklagte verwies zudem auf die Dokumentationspflicht nach § 57 des Bundesmantelvertrages der Ärzte (BMV-Ä). 

Die ursprüngliche Prävalenz könne aufgrund des vielfachen Doppel- und Dreifachansatzes von F-Codierungen im Behandlungsfall nicht als repräsentativ angesehen werden. Beispielhaft fände sich im Quartal II/2016 die Kombination 35100/F32.1 = 400mal. In 314 der 400 Fälle werde aber gleichzeitig auch die F45.9 verschlüsselt, so dass 314 Fälle schon doppelt in der Prävalenz erfasst worden seien, 78 Fälle würden noch mal zusätzlich mit F32.9 erfasst, so dass diese Fälle sogar 3mal in die Prävalenzstatistik eingingen. Dass dies in der Fachgruppe anders verlaufe sehe man bereits an folgenden Werten: 
 

ICD Code Bez. ICD Fallzahl Praxis Häufigkeit der ICD Fälle Praxis Prozentualer Anteil ICD-Fälle Praxis Prozentualer Anteil ICD-Fälle Arztgruppe
F32.1 Mittelgradige depressive Episode 1108     494      44,5848      1,8912
F45.9 Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet 1108     465      41,9675      3,2061
F32.9 Depressive Episode, nicht näher bezeichnet 1108     231      20,8484      6,8271
F33.1 Rezidivierende depressive Störung 1108     111      10,0181      0,988
F32.8 Sonstige depressive Episoden 1108       46        4,1516      0,688
F41.9 Angststörung nicht näher bezeichnet  1108       40        3,6101      1,4046
F41.0 Panikstörung (episodisch paroxymale Angst) 1108       23        2,0758      0,9524
F43.2 Anpassungsstörungen 1108       17        1,5343      1,3549
F43.0 Akute Belastungsreaktion 1108       14        1,2635      0,6487
F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychosomatisch 1108       13        1,1733      0,499
  Gesamt (alle 35 Verschlüsselungen)      1504     135.7409    26,4637


Der Beklagte reduzierte deshalb die ursprünglich festgestellte Prävalenz um 50 %.

Mit den von der PS anerkannten Praxisbesonderheiten von zwischen +182% bis +207% zum bereinigten Fallwert und mit weiteren +100% zum Fachgruppendurchschnitt im Rahmen des eigenen Ermessens, seien eventuell nicht erkennbare Besonderheiten der Praxis, mit letztlich zwischen +282% bis +307% zum Fachgruppendurchschnitt, hinreichend gewürdigt.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis bei 100 % Überschreitung liege, sei dieser Mehraufwand der Klägerin im Rahmen des eigenen Ermessens zugestanden.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 17. Mai 2021 zum Sozialgericht Marburg erhobene Klage. Die Klägerin weist darauf hin, dass sich in ihrem Abrechnungsverhalten eine erhebliche Überschreitung in der Leistungsgruppe 8, zu der auch die GOP 35100 EBM gehöre, zeige, jedoch in den übrigen Leistungsgruppen Unterschreitungen vorlägen:

LG 2/16 3/16 4/16
1 -22% -22% -22%
2 -99% -100%  
3 -40% -69% -59%
4 -80% -85% -94%
7 -50%    
8 +135% +58% +105%
13 -98% -97%  
Durchschnitt -11% -22% -17%


Die GOP 35100 sehe keine Pflicht zur Angabe einer bestimmten Diagnose vor. Es sei allein eine mindestens 15minütige Arzt-Patient*in-Interaktion bei psychosomatischen Krankheitszuständen erforderlich. Dasselbe gelte für die Angabe einer F-Diagnose bereits bei der Abrechnung. 

Soweit der Beklagte schließlich eine Praxisbesonderheit der Klägerin auf der Basis von Prävalenzen feststelle und sich dabei auf Häufigkeit der Diagnoseerfassung bezieht, sei dies als rechtswidrig zu beanstanden, da dies zwangsläufig zu Unschärfen führe, welche die Klägerin in ungerechtfertigter Weise benachteiligten. Einerseits würden Patienten mit einer Diagnosehäufung mehrfach erfasst, andererseits würden Mehrfachabrechnungen der Ziffer - bei nur einer Diagnose - nicht erfasst. Es sei nicht auszuschließen, dass gerade bei Praxen mit psychosomatischem Schwerpunkt – aufgrund der Schwere der dort behandelten Erkrankungen - eine überdurchschnittliche Häufung der Abrechnungsziffern auftrete, die bei der Prävalenzermittlung nicht berücksichtigt sei.

Die Klägerin beantragt, 
den Beschluss des Beklagten vom 15. April 2021 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass der Ansatz der GOP 35100 EBM die Angabe einer F-Diagnose voraussetze. Es handele sich um eine Leistung des 35. Kapitels des EBM: „Leistungen gemäß der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinie)". Die Leistungen des 35. Kapitels seien damit entsprechend der Vorgaben der Psychotherapie-RL zu erbringen. Folglich sei es bei der Leistungserbringung nach GOP 35100 EBM erforderlich, dass die Diagnose den Vorgaben der Psychotherapie-RL entspreche. Sowohl § 21 Abs. 1 PT-RL als auch § 21 Abs. 2 PT-RL bezögen sich auf psychische Störungen.

In § 22 Abs. 1 der PT-RL würden die Indikationen zur Anwendung von Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung aufgeführt. Seitens des Beklagten sei bei einer Vielzahl von Fällen festgestellt worden, dass weder Diagnosen gemäß § 22 Abs. 1 PT-RL noch Diagnosen aus dem Bereich der psychischen und Verhaltens-Störungen vorgelegen hätten. Den Behandlungsscheinen sei keine indikationsbezogene Diagnose zu entnehmen.

In § 37 PT-RL sei ausdrücklich geregelt, dass Leistungen nach dieser Richtlinie eine schriftliche Dokumentation des Datums der Leistungserbringung, der diagnostischen Erhebungen, der wesentlichen Inhalte der psychotherapeutischen Interventionen sowie der Ergebnisse in der Patientenakte, erforderten. Die Dokumentationspflichten dienten bei gesetzlich versicherten Patient*innen auch dem Nachweis einer wirtschaftlichen und ordnungsgemäßen Leistungserbringung. Die Klägerin müsse dementsprechend Fehler bei der Dokumentation gegen sich gelten lassen.

Zutreffenderweise sei aufgrund des vielfachen Doppel- und Dreifachansatzes von F-Codierungen im Behandlungsfall der durch Prävalenzprüfung ermittelte Mehrversorgungsanteil nicht in voller Höhe als Orientierungswert zur Berechnung der Praxisbesonderheiten zugrunde gelegt worden. Eine Prävalenzberechnung mittels der zugrunde gelegten F-Diagnosen habe aufgrund der extrem hohen Mehrversorgung nicht erfolgen können. Die Prävalenzprüfung werde seitens des Beklagten lediglich als Hilfsmittel zur Ermittlung von Praxisbesonderheiten genutzt. Wenn jedoch - wie im vorliegenden Fall - die Prävalenzberechnung nur ein eingeschränkt verwertbares Ergebnis ergebe, könne der Beklagte im Rahmen seines weiten Beurteilungsspielraums eine anderweitige Beurteilung des Vorliegens von Praxisbesonderheiten und eine Schätzung des Mehrbehalts vornehmen.

Mit Beschluss vom 18. Mai 2021 hat die Kammer die Vertragsparteien der Gesamtverträge nach § 83 SGB V zum Verfahren beigeladen. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.


Entscheidungsgründe

Die Kammer hat in der Besetzung mit einer ehrenamtlichen Richterin aus den Kreisen der Vertragsärzte und einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Sie konnte dies trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beigeladenen zu 1) bis 7) tun, weil diese ordnungsgemäß geladen worden sind.

Die zulässige Klage ist auch begründet. 

Der Beschluss des Beklagten vom 15. April 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. 

Gegenstand des Verfahrens ist nur der Bescheid des Beklagten, nicht auch der der Prüfungsstelle. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird.

Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V i.V.m. der Prüfvereinbarung gemäß § 106 Abs. 3 SGB V, gültig ab 1. Januar 2008 (PV).

Die Wirtschaftlichkeit der Versorgung wird durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten beurteilt, hier § 10 PV (Auffälligkeitsprüfung). Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode. Die Abrechnungs- bzw. Verordnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe – bzw. mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe – im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog. intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt. 

Vorliegend hat der Beklagte die Klägerin mit der Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinärzte/hausärztliche Internisten in Hessen) verglichen, soweit diese die GOP 35100 EBM auch tatsächlich abrechneten. Dies ist zur Überzeugung der Kammer nicht zu beanstanden.

Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten in einem offensichtlichen Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, d. h., ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02). Von welchem Grenzwert an ein offensichtliches Missverhältnis anzunehmen ist, entzieht sich einer allgemein verbindlichen Festlegung (BSG, Urteil vom 15. März 1995, 6 RKa 37/93). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt zwischen dem Bereich der normalen Streuung, der Überschreitungen um bis zu ca. 20 % erfasst, und der Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis der Bereich der Übergangszone. Die Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis hat das BSG früher bei einer Überschreitung um ca. 50 % angenommen. Seit längerem hat es – unter bestimmten Voraussetzungen – auch niedrigere Werte um ca. 40 % ausreichen lassen. Die Prüfgremien haben einen Beurteilungsspielraum, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis höher oder niedriger festzulegen. 

Jedenfalls ist nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte den Vergleichsgruppendurchschnitt als Bezugswert ansetzt. Diese Bezugswerte hat die Klägerin in den streitgegenständlichen Quartalen jeweils um mehrere hundert Prozent überschritten, so dass der Anscheinsbeweis der Unwirtschaftlichkeit rein statistisch geführt ist.

Das BSG stellt jedoch in ständiger Rechtsprechung klar, dass die statistische Betrachtung nur einen Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausmacht und durch eine sog. intellektuelle Prüfung und Entscheidung ergänzt werden muss, bei der die für die Frage der Wirtschaftlichkeit relevanten medizinisch-ärztlichen Gesichtspunkte, wie das Behandlungsverhalten und die unterschiedlichen Behandlungsweisen innerhalb der Arztgruppe und die bei dem geprüften Arzt vorhandenen Praxisbesonderheiten, in Rechnung zu stellen sind (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Diese Gesichtspunkte sind nicht erst in einem späteren Verfahrensstadium oder nur auf entsprechende Einwendungen des Arztes/der Ärztin, sondern bereits auf der ersten Prüfungsstufe von Amts wegen mit zu berücksichtigen; denn die intellektuelle Prüfung dient dazu, die Aussagen der Statistik zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Erst aufgrund einer Zusammenschau der statistischen Erkenntnisse und der den Prüfgremien erkennbaren medizinisch-ärztlichen Gegebenheiten lässt sich beurteilen, ob die vorgefundenen Vergleichswerte die Annahme eines offensichtlichen Missverhältnisses und damit den Schluss auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise rechtfertigen.

Denn auch nach den Regeln des Anscheinsbeweises kann aus einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts nur dann auf eine Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden, wenn ein solcher Zusammenhang einem typischen Geschehensablauf entspricht, also die Fallkostendifferenz ein Ausmaß erreicht, bei dem erfahrungsgemäß von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen ist. Ein dahingehender Erfahrungssatz besteht aber nur unter der Voraussetzung, dass die wesentlichen Leistungsbedingungen des geprüften Arztes/der geprüften Ärztin mit den wesentlichen Leistungsbedingungen der verglichenen Ärzte übereinstimmen. Der Beweiswert der statistischen Aussagen wird eingeschränkt oder ganz aufgehoben, wenn bei der geprüften Arztpraxis besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende Umstände vorliegen, die für die zum Vergleich herangezogene Gruppe untypisch sind. Sind solche kostenerhöhenden Praxisbesonderheiten bekannt oder anhand der Behandlungsweise oder der Angaben des Arztes/der Ärztin erkennbar, so müssen ihre Auswirkungen bestimmt werden, ehe sich auf der Grundlage der statistischen Abweichungen eine verlässliche Aussage über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise treffen lässt. Das gilt umso mehr, als mit der Feststellung des offensichtlichen Missverhältnisses eine Verschlechterung der Beweisposition des Arztes verbunden ist, die dieser nur hinzunehmen braucht, wenn die Unwirtschaftlichkeit nach Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles als bewiesen angesehen werden kann (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Die Wirtschaftlichkeit einzelner Leistungen darf also nicht losgelöst von der Gesamttätigkeit und den Gesamtfallkosten des Vertragsarztes beurteilt werden (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02 R).

Der Beklagte hat zutreffend eine Praxisbesonderheit der Klägerin bei der psychosomatischen Grundversorgung anerkannt. 

Als Praxisbesonderheiten des geprüften Arztes kommen nur solche Umstände in Betracht, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind. Für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit ist es deshalb nicht ausreichend, dass bestimmte Leistungen in der Praxis eines Arztes erbracht werden. Vielmehr muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade in Bezug auf diese Merkmale von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet (BSG, Urteil vom 21. Juni 1995, 6 RKa 35/94). Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patient*innen und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken (BSG, Urteil vom 23. Februar 2005, B 6 KA 79/03 R). Ein bestimmter Patientenzuschnitt kann z. B. durch eine spezifische Qualifikation des Arztes, etwa aufgrund einer Zusatzbezeichnung bedingt sein (vgl. BSG, Urteil vom 6. September 2000, B 6 KA 24/99 R). Es muss sich um Besonderheiten bei der Patientenversorgung handeln, die vom Durchschnitt der Arztgruppe signifikant abweichen und die sich aus einem spezifischen Zuschnitt der Patientenschaft des geprüften Arztes ergeben, der im Regelfall in Wechselbeziehung zu einer besonderen Qualifikation des Arztes steht. Ein Tätigkeitsschwerpunkt allein stellt nicht schon eine Praxisbesonderheit dar (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R).

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der angefochtene Bescheid hinsichtlich des „Ob“ der Anerkennung von Praxisbesonderheiten nicht zu beanstanden. 

Die Kammer beanstandet hingegen den streitgegenständlichen Beschluss des Beklagten insoweit, als der Beklagte das ihm obliegende Ermessen hinsichtlich der Höhe der anzuerkennenden Praxisbesonderheit nicht in hinreichend präziser Weise ausgeübt hat. 

Grundsätzlich ist dem Beklagten einzuräumen, hinsichtlich des durch Besonderheiten erhöhten Abrechnungsvolumens den verursachten Mehraufwand zu schätzen (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R). Bei dieser Schätzung und Festlegung der Höhe der Honorarkürzungen hat der Beklagte einen weiten Beurteilungsspielraum, der eine ganze Bandbreite denkbarer vertretbarer Entscheidungen bis hin zur Kürzung des gesamten unwirtschaftlichen Mehraufwandes ermöglicht (BSG, Urteil vom 2. November 2005, B 6 KA 53/04 R). Auch eine Schätzung muss jedoch die vorhandenen Erkenntnismöglichkeiten zur Quantifizierung der Praxisbesonderheit nutzen. 

Der Beklagte geht vom Vorliegen einer Praxisbesonderheit aufgrund der von der Prüfungsstelle im Rahmen der Prävalenzprüfung festgestellten Häufigkeit der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen beim Patientenklientel der Klägerin aus und ermittelt die Praxisbesonderheit auch quartalsweise.  

Grundsätzlich hält die Kammer die Vorgehensweise des Beklagten, Prävalenzen zu ermitteln und daraus Rückschlüsse auf die Quantität der Praxisbesonderheit zu ziehen für sehr geeignet, um Praxisbesonderheiten festzustellen. Dies ist jedoch nicht 1:1 möglich (siehe dazu SG Marburg, Urteil vom 16. November 2022, S 17 KA 234/21, nicht rechtskräftig). 

Soweit der Beklagte das Ausmaß der Praxisbesonderheit zunächst mittels einer nunmehr angepassten Prävalenzprüfung ermittelt, ist dies zur Überzeugung der Kammer – in diesem Verfahren erstmalig und ausschließlich bezogen auf die Besonderheiten der GOP 35100 EBM – nicht zu beanstanden. 

Die Kammer hat bereits mehrfach entschieden, dass bei der Bemessung der Höhe der Praxisbesonderheit zu berücksichtigen ist, dass die Prävalenzprüfung fallbezogen durchgeführt wird, während sich die Überschreitung bei der Einzelziffer nach deren Ansatzhäufigkeit – die gerade keinen Fallbezug aufweist (vgl. SG Marburg, S 17 KA 346/15) – richtet. Die Prävalenzen werden nach der Häufigkeit der Diagnoseerfassung ermittelt. Da alle Diagnosen erfasst werden, fließen Patienten mehrfach in die Bewertung ein, bei denen mehrere der relevanten Diagnosen parallel kodiert wurden. Dies hat der Beklagte nunmehr festgestellt und im vorliegenden Verfahren dahingehend korrigiert, dass die ursprüngliche Prävalenz aufgrund des vielfachen Doppel- und Dreifachansatzes von F-Codierungen im Behandlungsfall nicht als repräsentativ angesehen werden kann. Die Klägerin hat bei vielen Patient*innen mehrere F-Diagnosen angesetzt. Beispielhaft findet sich nach den unwidersprochenen Feststellungen des Beklagten im Quartal II/2016 die Kombination 35100/F32.1 = 400mal. In 314 der 400 Fälle wird gleichzeitig auch die F45.9 verschlüsselt, so dass 314 Fälle schon doppelt in der Prävalenz erfasst worden sind. In weiteren 78 Fälle wird zusätzlich die F32.9 verschlüsselt, so dass diese Fälle sogar 3mal in die Prävalenzstatistik eingehen. Aus diesen Feststellungen ist jedoch nicht ableitbar, wie eine Reduzierung der ursprünglichen Prävalenz um 50% ermittelt wird. Der Beklagte stellt in seinem streitgegenständlichen Beschluss selber fest, dass dieser Wert auch noch höher hätte ausfallen können. Die Berechnungsparameter sind für die Kammer nicht nachvollziehbar. 

Weiterhin berücksichtigt der Beklagte nicht die Anzahl der pro Patient*in abgerechneten GOP. Dies führt dazu, dass die Prävalenzwerte in dieser Richtung eine Unschärfe aufweisen können. Diese Unschärfe ist jedoch bei der GOP 35100 EBM – im Gegensatz zur GOP 35110 EBM – zur Überzeugung der Kammer nur von geringem Gewicht, da es sich bei der GOP 35100 EBM um die Diagnostikziffer handelt, die üblicherweise zur Abklärung der psychosomatischen Krankheitszustände zu Beginn eines Krankheitsfalles genutzt wird und damit in aller Regel pro Patient*in nur einmalig zum Ansatz kommen dürfte. Dies gilt gleichermaßen für die Klägerin wie auch für die Vergleichsgruppe. Im Gegensatz dazu steht die GOP 35110 EBM, die als verbale Intervention auch über längere Zeiträume und ohne quantitative Beschränkung für einzelne Patient*innen vielfach zum Ansatz kommen kann. 

Insoweit setzt der Beklagte mit seiner Vorgehensweise im vorliegenden Verfahren die von der Kammer immer wieder angesprochene patientenbezogene Betrachtung bei der Prävalenzprüfung weitgehend um. 
Grundsätzlich hält die Kammer jedoch an ihrer ständigen Rechtsprechung (seit Urteil vom 19. Juni 2019, S 17 KA 409/17) dahingehend fest, dass es an einer Vorschrift fehlt, die die Angabe einer F-Diagnose bereits in der Abrechnung als Voraussetzung für die Erbringung der hier streitigen GOP 35100 EBM vorsieht und deshalb den Ausschluss weiteren Tatsachenvortrages rechtfertigen könnte. Aus den EBM Ziffern ergibt sich keine Pflicht zur Angabe einer bestimmten Diagnose, es sind auch keine bestimmten Diagnosen aufgezählt, die Voraussetzung für die Leistungserbringung wären. Die GOP 35100 EBM sieht allein eine mindestens 15minütige Arzt-Patienten-Interaktion bei psychosomatischen Krankheitszuständen vor. 

Die PT-RL lautet in § 22 Abs. 1 wie folgt:
„(1) Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie gemäß Abschnitt B und Maßnahmen der Psychosomatischen Grundversorgung gemäß Abschnitt C der Richtlinie bei der Behandlung von Krankheiten können nur sein:
1. Affektive Störungen: depressive Episoden, rezidivierende depressive Störungen, Dysthymie;
2. Angststörungen und Zwangsstörungen;
3. Somatoforme Störungen und Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen);
4. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen;
5. Essstörungen;
6. Nichtorganische Schlafstörungen;
7. Sexuelle Funktionsstörungen;
8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen;
9. Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend.“

Die hier streitige Leistung der GOP 35100 ist im Kapitel 35 EBM genannt, das überschrieben ist mit: Leistungen gemäß den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien). Sie fallen also unter die PT-RL und sind daher nur bei Vorliegen der in § 22 Abs. 1 PT-RL genannten Indikationen wirtschaftlich. Jedoch folgt daraus nicht, dass diese Indikationen nur dann gegeben sind, wenn sie als F-Diagnosen in der Abrechnung benannt sind. Vielmehr ist insoweit die Patientendokumentation des Arztes/der Ärztin zu prüfen. Die PT-RL selbst erfordert eine Dokumentation allein in § 12. Danach erfordern Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung eine schriftliche Dokumentation der diagnostischen Erhebungen und der wesentlichen Inhalte der psychotherapeutischen Interventionen. Daraus ergibt sich aber nicht, dass die Diagnosen als Abrechnungsdiagnosen anzugeben sind, vielmehr ist eine entsprechende Patientendokumentation in den Unterlagen des Vertragsarztes/der Vertragsärztin vorgesehen, die dann auch vom Beklagten zu prüfen ist (so auch SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18). Es erscheint zur Überzeugung der Kammer denkbar, dass die GOP 35100 EBM auch bei anderen Diagnosen, z.B. Krebserkrankungen oder Schmerzpatient*innen angesetzt wird. Dies sieht auch die PT-RL ausdrücklich so vor, wenn es dort in § 21 Abs. 2 heißt, dass die Zielsetzung der psychosomatischen Grundversorgung in einer seelischen Krankenbehandlung besteht, die während der Behandlung von somatischen, funktionellen und psychischen Störungen von Krankheitswert durchgeführt werden kann. Insoweit können funktionelle Störungen von Krankheitswert Anlass für eine differentialdiagnostische Abklärung nach der GOP 35100 EBM sein, wenn mit dieser Störung eine seelische Belastung einhergeht. Beispielhaft kommt dies auch im Rahmen der Reproduktionsmedizin (vgl. SG Marburg, Urteile vom 12. Oktober 2022, S 17 KA 12/18 und S 17 KA 13/18) oder bei orthopädischen Beschwerden (vgl. SG Marburg, Urteil vom 3. Mai 2023, S 17 KA 527/20) in Betracht, was die Kammer ebenfalls bereits entschieden hat. Allein diese Feststellung untermauert die Tatsache, dass eine rein statistische Betrachtung nach Prävalenzen im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht ausreichend ist, sofern Anhaltspunkte für eine Besonderheit bestehen. 

Jedoch können den Prüfgremien insoweit keine Ermittlungen ins Blaue hinein zugemutet werden, sondern es obliegt dem Vertragsarzt/der Vertragsärztin, die Behandlungsfälle, bei denen keine F-Diagnose angesetzt wurde und dennoch Anlass für eine psychosomatische Grundversorgung bestand, auf Anforderung der Prüfgremien substantiiert darzulegen. Der Beklagte hat im streitgegenständlichen Bescheid beispielhaft eine Reihe von Patient*innen aufgeführt, bei denen aus der reinen Codierung die Notwendigkeit einer psychosomatischen Abklärung nicht hinreichend herzuleiten ist. Diese Einschätzung teilt die Kammer. Die Klägerin hat jedoch mit ihrem Widerspruchsschreiben vom 26. September 2018 ausdrücklich angeboten, eine gesonderte Stellungnahme zu ihren Patient*innen nachzureichen, falls dies gewünscht werde. Eine entsprechende Aufforderung an die Klägerin ist nicht ergangen. Auch bei der orientierenden Durchsicht einzelner Patient*innen im Rahmen der vom Beklagten vorgenommenen intellektuellen Prüfung sind ausschließlich die Abrechnungsdiagnosen in den Blick genommen worden. Eine Begründung für den Ansatz der GOP 35100 EBM oder die Patientendokumentation wurde nicht angefordert, so dass eine finale Beurteilung der Wirtschaftlichkeit des Verhaltens der Klägerin nicht stattfinden konnte. Dies kann im Rahmen der Neubescheidung nachgeholt werden. 

In nicht zu beanstandender Weise hat der Beklagte eine Praxisbesonderheit aufgrund eines hohen Ausländeranteils in der Praxis der Klägerin verneint. Hingegen vermag die Kammer eine Praxisbesonderheit aufgrund eines hohen Migrationsanteils im Patientenklientel der Klägerin nicht anzuerkennen (vgl. SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 12. Juni 2020, S 17 KA 548/16 und Urteil vom 16. November 2022, S 17 KA 234/21). Sofern der Vortrag der Klägerin zutrifft, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland deutlich häufiger unter psychischen Erkrankungen als der Bevölkerungsdurchschnitt leiden, so wäre diesem Umstand durch die von der Beklagten durchgeführte Prävalenzprüfung bereits vollumfänglich Rechnung getragen worden. Denn gerade mit dieser Prüfung hat sie die Patient*innen mit psychischen Erkrankungen als Praxisbesonderheit der Klägerin erfasst.

Da der Beklagte die Praxisbesonderheit ausschließlich anhand der codierten F-Diagnosen ermittelt hat, musste die Klage dennoch vollumfänglich Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
 

Rechtskraft
Aus
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