L 12 SB 1582/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 14 SB 3845/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 SB 1582/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28.04.2022 aufgehoben.

Der Bescheid vom 02.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2019 wird abgeändert und der Grad der Behinderung der Klägerin ab 09.11.2018 mit 20 festgestellt.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt 1/5 der außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren, im Übrigen verbleibt es bei der Kostenentscheidung im angefochtenen Gerichtsbescheid.



Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Herabsetzung des ihr zuerkannten Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).

Im Juni 2016 beantragte die 1961 geborene Klägerin die Feststellung eines GdB, nachdem bei ihr im April 2016 ein ductales Carcinoma in situ (DCIS) entfernt worden war. Mit Bescheid vom 12.07.2016 stellte der Beklagte einen GdB von 50 ab dem 12.04.2016 fest. Dabei berücksichtigte er eine Erkrankung der linken Brust (in Heilungsbewährung) mit Teilverlust der linken Brust mit einem Einzel-GdB von 50.

Mit Schreiben vom 20.09.2018 hörte der Beklagte die Klägerin zur Herabsetzung ihres GdB an, da im maßgebenden Bescheid vom 12.07.2016 ein Tumorleiden im Stadium der Heilungsbewährung zugrunde gelegt worden sei und eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen insoweit eingetreten sei, als bezüglich des Tumorleidens die 2-jährige Heilungsbewährung abgelaufen sei.

Da die Klägerin sich auf die Anhörung hin nicht äußerte, stellte der Beklagte mit Bescheid vom 02.11.2018 (abgesandt am 05.11.2018) fest, dass ein GdB von 20 seit dem 09.11.2018 nicht mehr erreicht werde. Die Schwerbehinderteneigenschaft liege somit nicht mehr vor.

Den dagegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2019 zurück. Bei der Klägerin sei ein Carcinom in situ entfernt worden, bei dem der Heilungsbewährungszeitraum 2 Jahre betrage. Nachdem dieser Zeitraum nunmehr rückfallslos abgelaufen sei, müsse der GdB allein unter Berücksichtigung der tatsächlichen Funktionseinschränkungen bzw. des verbliebenen Organschadens neu festgestellt werden. Dabei ging der Beklagte von den folgenden Funktionsbeeinträchtigungen aus:
Teilverlust der linken Brust                                                                                                   10
psychovegetative Störungen, Ohrgeräusche                                                                      10
Sehminderung                                                                                                                      10.

Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 25.11.2019 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Bei ihr liege weiterhin ein Grad der Behinderung von 50 vor. Nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) sei aufgrund der Teilentfernung der Brust bereits ein GdB von 20 zu gewähren. Hinzu komme, dass sie weiterhin Tamoxifen einnehmen müsse, sodass die Heilungsbewährung noch nicht abgeschlossen sei. Aufgrund der Einnahme von Tamoxifen könne sie das bis zur Erkrankung eingenommene Östrogengel gegen die Schlafstörungen nicht mehr einnehmen, wodurch sie unter massiver Schlaflosigkeit mit starker Tagesmüdigkeit und Konzentrationsstörungen leide. Hierfür sei ihr ein Einzel-GdB von 30 zu gewähren. Des Weiteren leide sie unter der Augenerkrankung Keratokonus beidseitig. Auch mit Spezialkontaktlinsen erreiche sie nur eine Sehfähigkeit von 20 bis 40 % links sowie 50 bis 60 % rechts. Die Einnahme von Tamoxifen führe dazu, dass die Haut und die Schleimhäute sehr viel trockener seien. Sie leide dadurch unter sehr trockenen Augen und könne häufig die Kontaktlinsen nicht tragen. Mit einer Brille könne ihr Sehfehler nicht korrigiert werden, so dass ein weiterer Einzel-GdB von 50 zu berücksichtigen sei. Des Weiteren leide sie unter chronischen Hormonstörungen aufgrund eines Hypophysenadenoms sowie einer Hashimoto-Thyreoiditis und müsse regelmäßig Hormone einnehmen, die sich erheblich auf ihr Gesamtbefinden auswirkten und mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten seien. Darüber hinaus leide sie unter mittelschweren depressiven Episoden mit sozialem Rückzug, Konzentration, Gedächtnis und Merkfähigkeitsstörungen, die mit einem Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen seien. Zudem leide sie unter Spannungskopfschmerzen. Diese würden bei ihr mindestens einmal pro Monat auftreten und hielten mindestens mehrere Stunden, häufig ein bis zwei Tage an. Auch hierfür sei ein Einzel-GdB von 30 zu gewähren.

Das SG hat die die Klägerin behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. Die O1 sieht bei der Klägerin nur fachfremd für die Schlafstörung einen Einzel-GdB von 20 und für die Bewegungseinschränkungen aufgrund postradiogener Haut bzw. Gewebe einen Teil-GdB von 20. Auf ihrem Fachgebiet selbst hat sie kein Rezidiv der Tumorerkrankung mitgeteilt und keinen Einzel-GdB angenommen. Die R1 hat mitgeteilt, die Klägerin leide unter erheblichen Schlafstörungen mit Konzentrationsstörungen und schneller Erschöpfung im Sinne einer depressiven Episode. Die Schlafstörungen mit Konzentrationsstörungen und Erschöpfungssyndrom (depressive Episode) sehe sie als mittelgradig an. Die Hashimoto-Thyreoiditis sei medikamentös gut eingestellt und insofern leichtgradig. Sie teile die Auffassung des versorgungsärztlichen Dienstes vor allem im Bereich der depressiven Episode mit sehr quälenden Schlafstörungen nicht. Hier handele es sich um eine mindestens mittelgradige Episode mit schweren Schlafstörungen als Hauptsymptom. Diese sei sicherlich zum Teil auch mit auf die Tamoxifentherapie mit weiteren Nebenwirkungen wie Trockenheit der Haut und der Schleimhäute zurückzuführen. Der P1 hat einen Einzel-GdB auf seinem Fachgebiet von 10 angenommen. Dabei hat er angeführt, die Kurzsichtigkeit und der Keratokonus stellten eine nur leichte Funktionsbeeinträchtigung dar. Die Presbyopie habe nur einen geringfügigen Schweregrad. Die S1 hat die Auffassung des versorgungsärztlichen Dienstes bezüglich der Ohrgeräusche nicht geteilt und geht davon aus, dass die Schlafstörung mindestens teilweise eine psychische Ursache habe. Durch die Schlafstörung würden aber die psychovegetativen Auswirkungen der Ohrgeräusche verstärkt. Die Ohrgeräusche selbst seien als mittelgradig zu bewerten und bedingten aufgrund der erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen einen Einzel-GdB von 20. Die W1 des M1 Zentrum für psychische Gesundheit, Akutklinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie hat über einen stationären Aufenthalt der Klägerin außerhalb des hier streitigen Zeitraums vom 18.08.2020 bis zum 15.10.2020 berichtet und den GdB auf 30-40 eingeschätzt.

Das SG hat ein Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei Frau E1  vom 28.10.2021 eingeholt. Diese hat die Störungen auf psychiatrischem Fachgebiet mit einem GdB von 20 bewertet. Der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 04.03.2021 stimme sie daher zu. Weitere Begutachtungen halte sie nicht für erforderlich. Als Funktionsstörung auf psychiatrischem Fachgebiet sehe sie Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, verminderte Belastbarkeit, depressive Verstimmungen und Zukunftsängste an. Die Schlafstörungen erachte sie als mittelgradig und die Konzentrationsstörungen, die verminderte Belastbarkeit, die depressiven Verstimmungen und die Zukunftsängste jeweils als leichtgradig.

Mit Gerichtsbescheid vom 28.04.2022 hat das SG den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin im Zeitraum vom 09.11.2018 bis 27.10.2019 einen GdB von 20 festzustellen.

Gegen den Gerichtsbescheid wendet sich die Klägerin mit ihrer am 30.05.2022 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung. Sie wiederholt ihr Vorbringen aus dem Klageverfahren. Im streitgegenständlichen Zeitraum habe sie sich sehr wohl in psychiatrischer Behandlung befunden.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28.04.2022 sowie den Bescheid vom 02.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2019 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes am 12.12.2022 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt.

Mit Beschluss
des Senats vom 10.01.2023 ist die Berufung nach § 153 Abs. 5 SGG der Berichterstatterin übertragen worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.



Entscheidungsgründe


Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt hatten.

Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerechte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 28.04.2022, über die nach Übertragung durch den Senat gemäß § 153 Abs. 5 SGG die Berichterstatterin zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern zur Entscheidung berufen war, ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Bei der Klägerin liegt eine wesentliche tatsächliche Änderung vor, auf Grund derer dieser nur noch ein GdB von 20 zusteht.

Gegenstand der Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 S 1 SGG) ist der Bescheid
vom 02.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2019, mit dem der Beklagte den Bescheid vom 12.07.2016 ab 09.11.2019 geändert hat.

Rechtsgrundlage für die Herabsetzung des Gesamt-GdB ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit § 69 Abs. 1 und 3 SGB IX. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist, soweit in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liegt vor, wenn sich durch das Hinzutreten neuer Gesundheitsstörungen oder eine Verschlimmerung der anerkannten Gesundheitsstörungen der Gesundheitszustand des behinderten Menschen verschlechtert oder er sich durch den Wegfall oder einer Besserung bereits anerkannter Gesundheitsstörungen gebessert hat. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt. Ob dies der Fall ist, ist durch einen Vergleich der für die letzte bindend gewordene Feststellung maßgebenden Befunde mit den jetzt vorliegenden Befunden zu ermitteln.

Rechtsgrundlage für die Feststellung eines GdB ist § 2 Abs. 1 i.V.m. § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX. Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX liegt eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie die Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden. Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden nach § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 6 SGB IX ist eine Feststellung nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 153 Abs. 2 SGB IX wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 241 Abs. 5 SGB IX, dass – soweit noch keine Verordnung nach § 153 Absatz 2 erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (Bundessozialgericht <BSG
>, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris). Nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Darüber hinaus sind vom Tatsachengericht die rechtlichen Vorgaben zu beachten. Rechtlicher Ausgangspunkt sind stets § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 Satz 1 SGB IX; danach sind insbesondere die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgebend (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Nach dieser Maßgabe hat der Beklagte den Bescheid vom 12.07.2016 zu Recht gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X aufgehoben, soweit darin ein Gesamt-GdB von mehr als 20 festgestellt war. Denn im entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung (BSG, Urteile vom 13.08.1997, 9 RVs 10/96, vom 10.09.1997, 9 RVs 15/96 und vom 11.08.2015, B 9 SB 2/15 R, alle in juris), somit im Oktober 2019, lag eine wesentliche Änderung als materiell-rechtliche Voraussetzung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vor, aufgrund derer der Klägerin nur noch ein Gesamt-GdB von 20 zustand.

Die ursprünglich führende Behinderung der Klägerin in Gestalt eines Zustands nach Entfernung eines DCIS ist nach rezidivfreiem Verstreichen der Heilungsbewährung von 2 Jahren nach Entfernung des Carzinoms (vgl. VG, Teil B, Nr. 14.1) unter Berücksichtigung der verbliebenen Einschränkungen aufgrund der Brustresektion nur noch mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten, wie das SG in seiner Entscheidung ausführlich dargelegt hat und worauf der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen verweist und insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe absieht (§ 153 Abs. 2 SGG).

Mit zutreffender Begründung hat das SG weiterhin die Funktionsbeeinträchtigungen auf nervenärztlichem Gebiet (VG, Teil B, Nr. 3.7) gestützt auf das Gutachten der E1 mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet, weshalb der Senat auch insoweit gem. § 153 Abs. 2 SGG die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist und von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absieht.

Eine abweichende Beurteilung ist auch nicht aufgrund des Berufungsvorbringens der Klägerin begründet. Soweit die Klägerin vorträgt, E1 habe die Schlafstörungen falsch bewertet, da diese von den behandelnden Ärzten bereits bei Erlass des Widerspruchsbescheides als schwer bewertet worden seien, so vermag der Senat dies nicht nachzuvollziehen. Im Widerspruchsverfahren hat R1 die Schlafstörungen nicht angegeben. Auch dem Attest von D1 vom 29.03.2019 lassen sich keine Schlafstörungen entnehmen. Die S1 berichtet im Mai 2019 von Beschwerden, die auf eine Dyssomnie hinweisen, die jedoch im Rahmen einer weiteren Diagnostik noch abgeklärt werden müssten. Auch dem Bericht der Knappschaftsklinik B1 lässt sich entnehmen, dass die Klägerin über Probleme beim Ein- und Durchschlafen geklagt habe, andererseits wurde während der Reha-Maßnahme diesbezüglich lediglich Gespräche über Schlafhygiene geführt hat, weitere Maßnahmen oder eine Empfehlung von schlaffördernden Medikamenten wurde hingegen nicht angesprochen. Die sachverständige Zeugin W1 (M1) hat hingegen gegenüber dem SG im Januar 2021 mitgeteilt, dass sich die Insomnie in den letzten 3-4 Monaten (und damit außerhalb des streitgegenständlichen Zeitraums) zugespitzt habe. Dies ergibt sich auch aus dem Entlassbericht der M1, wo die Klägerin im August 2020 angegeben hat, dass sich die Schlafstörungen in den letzten Wochen verschlechtert hätten. Auch dem Verlaufsbericht ist zu entnehmen, dass eine Verschlechterung im Mai 2020 eingetreten ist. Vor diesem Hintergrund konnte sich der Senat nicht davon überzeugen, dass im Gegensatz zum Gutachten der E1, im streitentscheidenden Zeitpunkt (Oktober 2019) massivere Schlafstörungen vorlagen, die einen höheren Einzel-GdB bedingten. Soweit die Klägerin vorträgt, bereits im streitgegenständlichen Zeitraum bei D1 in Behandlung gewesen zu sein, hat das SG dies bereits gewürdigt. Die Klägerin hat selbst angegeben, die Therapie nach den 3 probatorischen Sitzungen nicht fortgeführt zu haben, da die Therapeutin danach im Ruhestand war, die empfohlene stationäre Therapie hat die Klägerin hingegen nicht angetreten.

Die von der Klägerin vorgebrachten Wirbelsäulenbeschwerden sowie die Sehminderung hat das SG ebenfalls zutreffender Begründung mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet, so dass auch hier auf die Ausführungen des SG Bezug genommen werden kann (§ 153 Abs. 2 SGG). Soweit die Klägerin hierzu in der Berufungsbegründung vorträgt, es müsse auf die Einschränkungen ohne Kontaktlinsen abgestellt werden verkennt sie, dass nach den VG Teil B, Nr. 4 in erster Linie die korrigierte Sehschärfe maßgebend ist. Für den streitgegenständlichen Zeitraum hat der behandelnde P1 keine Kontaktlinsenunverträglichkeit angegeben, vielmehr ist seinem Bericht zu entnehmen, dass die Klägerin keine Beschwerden angegeben hat.

Für den Tinnitus ist im streitgegenständlichen Zeitraum ein Einzel-GdB von 20 zu berücksichtigen. Nach den VG, Teil B, Nr. 5 sind Ohrgeräusche (Tinnitus) ohne nennenswerte psychische Begleiterscheinungen mit einem Einzel-GdB von 0-10, mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen mit einem Einzel-GdB von 20 und mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägte depressive Störungen) mit einem Einzel-GdB von 30-40 zu bewerten. Wie auch die behandelnden HNO-Ärztin erkennt der Senat, dass neben den Ohrgeräuschen psychovegetative Begleiterscheinungen bestehen, die jedoch keine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit hervorrufen.

Für das Zähneknirschen sowie die Hashimoto-Thyreoiditis vermag der Senat keinen Einzel-GdB zu erkennen, da hieraus keine Funktionsbeeinträchtigungen resultieren. Allein die Angabe einer Diagnose oder bestimmter Befunde führt nicht zwingend zur Feststellung eines GdB, denn entscheidend sind allein die funktionellen Einschränkungen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.11.2011, L 13 SB 111/08; Bayer. LSG, Urteile vom 05.02.2013, L 15 SB 23/10, vom 16.11.2015, L 15 SB 13/15 und vom 10.05.2017, L 15 SB 17/16; alle juris). Konkrete Einschränkungen hat die Klägerin jedoch nicht vorgetragen, die behandelnde R1 hat in ihrem Bericht gegenüber dem SG die Hashimoto-Thyreoiditis als gut eingestellt und deshalb als leichtgradig bewertet.

Aus den ermittelten Einzel-GdB-Werten ist in einem nächsten Schritt der Gesamt-GdB zu ermitteln. Ausgangspunkt für die Bewertung des Gesamt-GdB ist der führende Einzel-GdB von 20 für die seelische Erkrankung. Der weitere Einzel-GdB von 20 für den Tinnitus führt nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 es vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d ee). Zum anderen konnte der Einzel-GdB für den Tinnitus nur deshalb mit 20 berücksichtigt werden, weil erhebliche psychovegetative Begleiterscheinungen bestehen, so dass weitreichende Überschneidungen mit der seelischen Erkrankung vorliegen. Die Einzel-GdB von 10 führen zu keiner Erhöhung des Gesamt-GdB (VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. a dd).

Entgegen dem angefochtenen Gerichtsbescheid war eine Befristung der Herabsetzungsentscheidung nicht vorzunehmen. Zutreffend geht das SG davon aus, dass entscheidungserheblicher Zeitpunkt derjenige der Widerspruchsentscheidung, mithin der 24.10.2019, ist (BSG, Urteile vom 13.08.1997, 9 RVs 10/96, vom 10.09.1997, 9 RVs 15/96 und vom 11.08.2015, B 9 SB 2/15 R, alle juris). Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit auch dem Dauerverwaltungsakt der GdB-Feststellung ein Ende zu setzen wäre. Da die Feststellung eines GdB einen Dauerverwaltungsakt darstellt (BSG, Urteil vom 10.09.1997, juris), hat dieser solange Bestand, bis nach § 48 SGB X eine (weitere) wesentliche Änderung festgestellt wird. Eine Befristung käme nur dann in Betracht, wenn der festgestellte GdB im maßgeblichen Zeitraum oder an dessen Ende keine 20 mehr betragen hätte. Hierfür sieht der Senat jedoch keine Anhaltspunkte, da sich der Gesundheitszustand der Klägerin nach Oktober 2019 eher verschlechtert als verbessert hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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