L 3 U 18/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 68 U 414/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 U 18/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 08. Januar 2018 wird zurückgewiesen.

 

Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für das gesamte Verfahren zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Ereignisses vom 01. Dezember 2014 als Arbeitsunfall.

 

Der 1979 geborene Kläger war im Rahmen eines Angestelltenverhältnisses als Sportlehrer an der W Oberschule tätig. Am 01. Dezember 2014 erteilte er Sportunterricht. Nach dessen Ende ging er zusammen mit den etwa 30 Schülern durch den Flur zu den Umkleideräumen. Die Jugendlichen schrien und grölten dabei lautstark. Einige der Schüler hielten sich wegen des Lärms die Ohren zu, während sie selbst laut kreischten.

 

Am 15. Dezember 2014 suchte der Kläger den Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde (HNO) Dr. L auf. Bei dem von Dr. L aufgezeichneten Tonschwellenaudiogramm zeigte sich bei ansonsten regelrechtem HNO-Befund eine Hörminderung rechts im Hochtonbereich von 40 dB bei ca. 6 kHz. Er diagnostizierte einen Hörsturz und behandelte den Kläger mit drei Injektionen eines Cortisonpräparates. Die Behandlung stellte er dem Kläger privatärztlich in Höhe von insgesamt 80,43 Euro in Rechnung. Bei der Wiedervorstellung am 23. Dezember 2014 stellte Dr. L fest, dass sich das Hörvermögen gebessert, aber noch nicht den Zustand vor dem Hörsturz erreicht habe. Eine weitere Verbesserung war im Tonschwellenaudiogramm vom 30. Januar 2015 zu verzeichnen.

 

Am 09. Januar 2015 ging bei der Beklagten eine Unfallanzeige der Schule des Klägers ein. In dieser findet sich folgende Schilderung eines Unfallhergangs vom 01. Dezember 2014:

„In der 3. Stunde habe ich Unterricht in der Sportgruppe 10.67, bestehend aus 32 Jungen (den Jungen der 10.6 und 10.7) erteilt. Gegen Ende der Stunde wurde ein kurzes Abschlussspiel ausgetragen, die Schüler anschließend in den Flur zu den Kabinen entlassen. Hier feierten sich die Sieger des Spiels durch Gröhlen, Schreien und aggressives Pfeifen. Die Verlierer kommentierten ebenfalls durch Gröhlen und Pfeifen. Als ich mir den Weg zu den Umkleiden gebahnt habe, haben mich die Schüler nicht gesehen. Einige Schüler haben sich selbst die Ohren zugehalten und laut gekreischt und sich auf diese Weise einen Spaß daraus gemacht, ihre Mitschüler zu ärgern. Dieses akustische Schockereignis hat zu einem Knacken und anschließend zu einem Druckempfinden auf meinem rechten Ohr geführt, was von einem hohen, intensiven Piepton begleitet wurde. Zudem hatte ich das Gefühl einer akustischen Einschränkung (Hören wie in einer „Blase"). Da ich bisher diesbezüglich keine Erfahrung hatte, glaubte ich, das Ganze würde sich nach einiger Zeit von selbst geben. Am 2. Dezember habe ich mich mit Verdacht auf eine Mittelohrentzündung krankgemeldet. Weil das Druckgefühl relativ rasch verschwunden ist, bin ich am 3. Dezember wieder zur Arbeit gegangen. Als der Piepton auch am Wochenende des 13./14. Dezember nicht verschwunden, sondern unverändert stark wahrzunehmen war und auch dieses Empfinden „Hören wie in einer Blase" nicht besser wurde, entschloss ich mich am Montag, dem 15. Dezember 2014, zum Arzt zu gehen. Dieser diagnostizierte einen Hörsturz."

 

Der Kläger begehrte die Erstattung der ihm entstandenen Behandlungskosten i. H. v. 80,43 Euro.

 

Die Beklagte wandte sich nachfolgend mit der Bitte um Erläuterung der Behandlung an Dr. L. Dieser teilte ausweislich einer Aktennotiz der Beklagten am 02. März 2015 telefonisch mit, dass der Hörsturz mittels Cortison behandelt worden sei. Weil das Cortisonpräparat nicht für die Hörsturzbehandlung zugelassen sei, habe er ein Privatrezept ausgestellt. Inzwischen sei der Hörsturz verheilt. Er gehe davon aus, dass es sich nur um einen normalen Hörsturz ohne Bezug zu einem Unfall gehandelt habe. Der Kläger habe jedoch darauf bestanden, dass das Ereignis als Arbeitsunfall behandelt werde, damit ihm später keinerlei Nachteile entstünden.

 

Mit Bescheid vom 28. Mai 2015 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab. Nach den vorliegenden Unterlagen sei das Ereignis vom 01. Dezember 2014 nicht geeignet, einen Hörsturz hervorzurufen. Vielmehr liege ein Gelegenheitsanlass vor. Es sei davon auszugehen, dass das Ereignis auch bei jeder anderen Verrichtung des täglichen Lebens hätte auftreten können.

 

Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger am 23. Juli 2015 Widerspruch. Er machte geltend, dass auch Gefahren des täglichen Lebens versichert seien. Es bestehe hier sehr wohl ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit. Er habe den Flur zu den Kabinen aufsuchen müssen. Der durch die Schüler verursachte Lärmpegel gehöre unmittelbar zur Verrichtung der dienstlichen Tätigkeit als Sportlehrer, so dass sich bei dem Unfallereignis nicht eine allgemein wirkende Gefahr, sondern eine Gefahr verwirklicht habe, die mit der versicherten Tätigkeit im Zusammenhang stehe.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie verwies darin unter anderem auf das mit Dr. L geführte Telefonat. Bei einem Hörsturz handele es sich um eine Erkrankung, bei der plötzlich meist eine einseitige Innenohrschwerhörigkeit bestehe. Der Entstehungsmechanismus von Hörstürzen habe bisher noch nicht geklärt werden können. Vermutet werde ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die zu einer Änderung der Durchblutungsverhältnisse führten. Nachdem ein Hörsturz durch mehrere Ursachen hervorgerufen werden könne, könne hier nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass die versicherte Tätigkeit zu der Erkrankung geführt habe. Es könne insofern dahinstehen, dass ein gesundheitsgefährdender Lärm bisher nicht im Vollbeweis nachgewiesen worden sei.

 

Mit seiner am 05. August 2015 beim Sozialgericht (SG) Berlin eingegangenen Klage hat der Kläger sein Ziel der Anerkennung als Arbeitsunfall und der Kostenerstattung weiterverfolgt. Wie die Beklagte selbst ausgeführt habe, würden für die Verursachung eines Hörsturzes mit begleitenden Hörgeräuschen in der Wissenschaft verschiedene Ursachen diskutiert. Bei ihm seien der Hörsturz sowie die begleitenden Ohrgeräusche im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem plötzlich sehr hohen Lärmpegel eingetreten. Die Beklagte habe bisher nicht geprüft, ob es sich hier unter Umständen um einen akustischen Unfall gehandelt haben könnte, der die Symptome eines Hörsturzes aufgewiesen habe. Ausweislich der gutachterlichen Literatur könne ein ursächlicher Zusammenhang angenommen werden, wenn der Schallpegel von mindestens 90 dB(A), ein akutes Auftreten der Hörstörung in der Lärmsituation und ein einseitiges Auftreten der Hörstörung vorliege.

 

Die Beklagte ist dem entgegengetreten. Sie hat darauf verwiesen, dass der Kläger erstmalig am 15. Dezember 2014 ärztliche Hilfe in Anspruch genommen habe und der Entstehungsmechanismus von Hörstürzen bisher nicht abschließend geklärt sei. Ob am Ereignistag ein gesundheitsgefährdender Lärm von mindestens 90 dB(A) im Flur sowie ein Verdrehen des Kopfes in Zwangshaltung vorgelegen habe, könne nicht mehr im Vollbeweis nachgewiesen werden.

 

Das SG hat Ermittlungen angestellt, indem es eine Auskunft des Dr. L vom 06. Juni 2016 zur Behandlung des Klägers sowie dessen Behandlungsunterlagen eingeholt hat. Dr. L hat mitgeteilt, dass der Kläger am 15. Dezember 2014 geschildert habe, bereits seit zwei Wochen Ohrgeräusche zu haben, die nach einer Lärmbelastung am Arbeitsplatz aufgetreten seien. Im Tonschwellenaudiogramm habe sich bei ansonsten regelrechten HNO-Befunden eine Hörminderung im Hochtonbereich rechts von 40 dB bei 6 kHz gezeigt. Laut der übereinstimmenden Einschätzung seiner Kollegin und ihm sei ein Zusammenhang zwischen der Lärmbelastung und dem Hörsturz sowie dem Ohrgeräusch rechts sehr unwahrscheinlich. Dies sei dem Kläger auch mehrfach mitgeteilt worden. Aus den Behandlungsunterlagen ergab sich weiter, dass der Kläger sich bereits am 17. Oktober 2013 mit einem Tinnitus vorgestellt hatte, der ebenfalls mit Cortison behandelt worden war. Ein am 16. Oktober 2013 gefertigtes Tonschwellenaudiogramm hatte einen altersgerechten unauffälligen Befund ergeben.

 

Das SG hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens des Facharztes für HNO Dr. A. Dr. A hat den Kläger am 18. Oktober 2016 untersucht und sein Gutachten unter dem 28. Januar 2017 erstellt. Darin hat er ausgeführt, dass beim Kläger rechtsseitig ein kompensierter Tinnitus ersten Grades bestehe, bei Stress sei er verstärkt. Im Vergleich zu dem Tonschwellenaudiogramm vom 16. Oktober 2013 ergebe der Befund vom 15. Dezember 2014 eine signifikante Verschlechterung des Hörvermögens rechtsseitig. Das Tonschwellenaudiogramm vom 23. Dezember 2014 zeige zu den Vorbefunden eine Erholung des Innenohrs. Aus den Messergebnissen vom 30. Januar 2015 ergebe sich eine weitere Besserung des Hörvermögens. Die zunächst festgestellte Hörminderung habe sich sukzessive gebessert, bis im Januar 2015 wieder ein sehr gutes Hörvermögen erreicht worden sei. Die rechtsseitig und geringer linksseitig bestehende Hörminderung nach dem Unfall mit deutlicher Besserungstendenz über Tage und Wochen bis zur Restitution sei mit den typischen Schädigungsmustern eines Lärmtraumas mit Hörverlust der hohen Frequenzen grundsätzlich vereinbar. Auch die anamnestischen Angaben des Klägers seien mit einem Lärmtrauma vereinbar und hierfür typisch. Ein Tinnitus könne begleitend auftreten. Das spontane Auftreten eines Hörsturzes erscheine insgesamt unwahrscheinlich. Ob ein individueller Schrei eines Schülers im Gang von der Turnhalle zu den Umkleidekabinen unter Berücksichtigung der Raumakustik die geforderte Lautstärke erreiche, sei nicht abschließend zu beurteilen, da es an Messwerten fehle. Es liege jedoch im Bereich des Möglichen. In einem geschlossenen Raum werde die sich von der Schallquelle aus kugelförmig ausbreitende Schallwellenfront an den Wänden reflektiert, worauf eine inhomogene Schalldruckverteilung im Raum entstehe. Dies könne im Extremfall dazu führen, dass das Gegenohr durch ungünstige Interferenzen der reflektierten Schallwellen stärker in Mitleidenschaft gezogen werde als dass der Schallquelle zugewandte Ohr. Vorausgesetzt, der Lärm sei laut und lange genug gewesen, sei dies auf Grund des zeitlichen Zusammenhangs, der charakteristischen Hörkurve sowie der sukzessiven Besserung der Symptomatik die wahrscheinlichste Ursache.

 

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 15. März 2017 zu dem Gutachten Stellung genommen. Der Gutachter sei davon ausgegangen, dass ein mit spontanem Stress assoziierter Hörsturz mit Tinnitus grundsätzlich denkbar, hier aber wenig wahrscheinlich sei. Jedoch habe sich der Gutachter nicht dazu geäußert, ob im konkreten Fall ein adäquater Schallpegel vorgelegen habe und die entstandene Schädigung dem zu erwartenden Muster entspreche. Hinsichtlich der Lärmbelastung werde angeregt, den Zeugen Lzu hören. Er sei zum damaligen Zeitpunkt ein Schüler des Klägers gewesen.

 

Die Beklagte hat in ihrer Stellungnahme vom 24. April 2017  ausgeführt, der Gutachter habe lediglich festgestellt, dass ein Zustand nach temporärer Innenohrschwerhörigkeit rechts mehr als links sowie der Tinnitus durch ein Lärmereignis ausgelöst worden sein könnte. Hierbei sei nicht ersichtlich, dass der Gutachter sich an den Leitlinien „Hörsturz" der Deutschen Gesellschaft für HNO Heilkunde orientiert habe. Dr. A habe sich auch nicht mit den eingeholten Behandlungsakten auseinandergesetzt. Bereits im Februar 2007 habe sich der Kläger wegen Ohrenschmerzen unbekannter Ursache behandeln lassen müssen und im Oktober 2013 sei schon ein Tinnitus bei dem Kläger diagnostiziert worden.

 

Dr. A hat sich in seiner unter dem 30. Juni 2017 verfassten ergänzenden Stellungnahme mit diesen Einwänden auseinandergesetzt. Die Entscheidung zwischen Lärmtrauma, akustischem Unfall und Hörsturz sei sehr schwierig, wenn ein äußeres Ereignis unmittelbar zum Hörverlust führe. Da das Trauma zum Zeitpunkt der ersten Messung bereits 14 Tage zurückgelegen habe, sei das Ausmaß der Hörschädigung am Unfalltag nicht zu bestimmen. Es fehle an Messwerten. Die Angaben des Klägers zur Hörminderung und das Schädigungsmuster hätten dem typischen Muster einer Schädigung nach einem Lärmtrauma entsprochen. Ein Hörsturz mit Tinnitus könne auch jederzeit spontan auftreten. Der Kläger habe aber angegeben, dass er direkt nach dem Lärmereignis Beschwerden gehabt habe. Dies spreche für einen direkten Zusammenhang.

 

Die Beklagte hat hierzu eingewandt, der Gutachter stelle weiterhin nur Vermutungen an und beziehe sich allein auf die Angaben des Klägers. Welche konkreten Beschwerden unmittelbar nach dem Ereignis aufgetreten sein sollen, lege er nicht dar. Fakt sei, dass der Kläger sich wegen des Ereignisses erst 14 Tage später in ärztliche Behandlung begeben habe. Den Schilderungen des Klägers sei nicht zu entnehmen, wann genau erstmalig der Piepton aufgetreten sei. Zuvor sei lediglich ein Druckgefühl geschildert worden. Bereits im Oktober 2013 habe sich der Kläger wegen eines Tinnitus behandeln lassen müssen. Es fehle zudem nach wie vor an einem Vollbeweis der Einwirkung. Ein Nachstellen der Situation sei nicht mehr möglich.

 

Das SG hat den Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung am 08. Januar 2018 zum Hergang befragt und einen ehemaligen Schüler des Klägers, den Zeugen L, zum Ereignis vom 01. Dezember 2014 vernommen. Der Kläger hat dabei geschildert, er habe gerade die Tür zur Umkleide mit der rechten Hand aufgeschlossen, als er neben dem lauten Schreien sehr nah einen schrillen Pfiff oder Schrei vernommen habe. Danach habe direkt sein rechtes Ohr geschmerzt. Sein linkes Ohr habe er etwas geschützt gehabt, indem er es an die linke Schulter angelehnt habe. Der Zeuge hat bekundet, dass nach der Sportstunde auf dem Weg zu den Umkleiden oftmals lautstark gesungen werde, aber an dem besagten Tag sehr viel laut geschrien worden sei. Es sehr mehr ein Schreien als ein Singen gewesen. Er habe zudem gesehen, dass der Kläger nach dem Aufschließen der Tür mit schmerzverzerrtem Gesicht in das Lehrerzimmer gegangen sei und sich die Ohren gehalten habe.

 

Mit Urteil vom 08. Januar 2018  hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 2015 aufgehoben und festgestellt, dass der Kläger am 01. Dezember 2014 einen Arbeitsunfall erlitten habe. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Klage sei unzulässig, soweit der Kläger neben der Aufhebung des angefochtenen Bescheids und der Feststellung eines Arbeitsunfalls noch die Erstattung von Behandlungskosten in Form einer Leistungsklage begehre. Vor Klageerhebung sei zunächst in einem Verwaltungsverfahren, das mit einem Verwaltungsakt abschließe, über die begehrte Sozialleistung zu befinden. Daran fehle es hier. Mit dem Bescheid vom 28. Mai 2015 habe die Beklagte das Vorliegen eines Arbeitsunfalls abgelehnt und keine Entscheidung über die Gewährung/Nichtgewährung von konkreten Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung getroffen. Die auf Feststellung des Arbeitsunfalls gerichtete Klage sei zulässig und begründet. Der Kläger habe am 01. Dezember 2014 einen Arbeitsunfall erlitten. Für einen Arbeitsunfall sei in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu einem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt habe (Unfallkausalität), und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht habe. Ausschlaggebend für die Entscheidung der Kammer sei gewesen, ob hier eine geeignete schädigende Wirkung im Vollbeweis gesichert werden könne. Unstreitig habe sich der Kläger auf seiner Arbeitsstätte befunden, als es auf dem Weg zur Umkleidekabine zu den Schreien gekommen sei. Diese seien, das hätten der Zeuge und der Kläger glaubhaft geschildert, an diesem Tag besonders laut gewesen. Es habe sich um eine plötzliche und unerwartete Einwirkung auf den Kläger gehandelt. Bei dem Kläger sei auch 14 Tage später eine Gesundheitsschädigung in Form eines Hörsturzes festgehalten worden. Ausweislich der gutachterlichen Literatur, auf die auch der Sachverständige Dr. A Bezug nehme, könne ein Hörsturz jederzeit ohne jegliche äußere Einwirkung auftreten. Die Ursache eines solchen sei nach wie vor nicht umfassend geklärt. Dennoch sei es grundsätzlich möglich, dass ein Hörsturz traumatisch hervorgerufen werde. In Betracht kämen dabei ein Knalltrauma, ein akustischer Unfall oder auch ein akutes Lärmtrauma (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage, 2017, S. 342, 343). Hier gehe Dr. A davon aus, dass ein Unfall bzw. ein Lärmtrauma im Bereich des Möglichen liege. Ein akutes Lärmtrauma könne bei exzessiv hohen Schallstärken über die Dauer von einigen Minuten zwischen 130 dB(A) und 160 dB(A) auftreten, es zeige sich dann eine ein- oder doppelseitige akute Schwerhörigkeit. Dr. A habe  in seinem Gutachten darauf verwiesen, dass ein menschlicher Schrei den Wert von 120 dB(A) bis 130 dB(A) erreichen könne. Bei einer geringen Entfernung zum Ohr könne ein Schrei eine kurze Vertäubung hervorrufen. Ob der individuelle Schrei des Schülers hier diese Werte erreicht habe, habe der Gutachter nicht feststellen könne. Er habe dies unter Bezugnahme auf die Angaben des Klägers als knapp im Bereich des Möglichen gehalten. Das 14 Tage später festgehaltene Schädigungsmuster sei jedoch als typisch zu bezeichnen. Die Kammer sei insbesondere nach der erneuten Einvernahme des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass hier die Voraussetzungen eines akustischen Unfalls vorliegen würden. Erforderlich für einen akustischen Unfall seien ein Schallpegel von mindestens 90 dB(A), das Verdrehen des Kopfes in eine Zwangshaltung (teilweise umstritten), ein akutes Auftreten der Hörstörung sowie ein einseitiges Auftreten der Hörstörung. Ausweislich der gutachterlichen Literatur sei der zweite Punkt zur Abgrenzung insbesondere erforderlich, da ansonsten ein zufällig während der Lärmexposition auftretender Hörsturz nicht mehr abgrenzbar sei von einem traumatischen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 343). Dieser Ansicht folge die Kammer. Diese Halswirbelsäulenfehlbelastung habe der Kläger glaubhaft in der mündlichen Verhandlung geschildert. Er habe dies nicht auf konkrete Nachfrage getan, sondern während der Schilderung des Hergangs. Er habe die Schräghaltung auch währenddessen demonstriert. Die Kammer sehe daher dieses Erfordernis als gegeben an, zumal der Kläger auch angegeben habe, so genau habe er bei keinem der Ärzte den Hergang beschrieben bzw. beschreiben sollen. Es sei auch nachvollziehbar, dass der Kläger zum Abschirmen während des Aufschließens zumindest ein Ohr habe schützen wollen. Der Zeuge habe zudem angegeben, dass der Kläger unmittelbar danach mit schmerzverzogenem Gesicht das Lehrerzimmer aufgesucht und sich die Ohren gehalten habe. Insofern sei die Kammer auch überzeugt, dass hier eine unmittelbare Einwirkung auf das Ohr stattgefunden habe und akute einseitige Beschwerden aufgetreten seien. Diese habe der Kläger auch von Beginn an geschildert, der Zeuge habe sich an die Reaktion erinnern können und der Kläger sei am Folgetag nicht in der Lage gewesen, seinen Arbeitsplatz aufzusuchen. Auch die Untersuchung vierzehn Tage nach dem Ereignis habe ein typisches Schädigungsmuster ergeben. Die Kammer sei zudem davon überzeugt, dass ein ausreichender Lärmpegel von mindestens 90 dB(A) auf den Kläger eingewirkt habe. Dies ergebe sich in Auswertung des Gutachtens sowie der Schilderungen des Klägers und des Zeugen. Dr. A habe umfassend recherchiert und dargelegt, dass laut Gutachterliteratur durch einen menschlichen Schrei ein Spitzenschallpegel von 120 bis 130 dB erzeugt werden könne und habe konkret das Erreichen eines derartigen Werts bis zu 130 dB(A) als möglich angesehen. Die Kammer verkenne nicht, dass er dabei letztlich mutmaße. Eine Nachstellung der konkreten Situation sei aber nicht möglich, da Schreie grundsätzlich variabel seien. Unter Zugrundelegung der Erwägungen des Sachverständigen, wonach eine Einwirkung von bis zu 130 dB(A) möglich sei, gehe die Kammer aber davon aus, dass hier der doch weitaus geringere Wert von 90 dB(A) erreicht worden sei. Der Zeuge habe anschaulich beschrieben, dass an diesem Tage laut geschrien wurde. Dies reiche der Kammer aus, um von dem Nachweis dieser Einwirkung auszugeben. Dabei verkenne sie nicht, dass es an konkreten Messwerten vom 01. Dezember 2014 fehle. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit seien jedoch nicht daran gehindert, den Eigentümlichkeiten des Falles dadurch Rechnung zu tragen, dass sie an den Beweis verminderte Anforderungen stellten. Dies gelte insbesondere dann, wenn die konkreten Arbeitsplatzbedingungen nur anhand von Schätzungen rekonstruiert werden könnten. Diesen Grundsatz übertrage die Kammer aufgrund der Variabilität der Schreie und der nicht konkret nachstellbaren Verhältnisse des Unfalltags auf die hiesige Konstellation.

 

Die Beklagte hat gegen das ihr am 15. Januar 2018 zugestellte Urteil am 09. Februar 2018 Berufung beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) eingelegt. Sie hat gerügt, dass eine ausreichende Lärmeinwirkung nicht im Vollbeweis gesichert sei, sondern auf Mutmaßungen des SG und des Sachverständigen beruhe. Darüber hinaus bezweifele sie, dass es sich bei dem vom Kläger beschriebenen Hochziehen der linken Schulter, um das Ohr vor dem Lärm zu schützen, um die geforderte extreme Zwangshaltung handele. Des Weiteren habe der Gutachter ein typisches Schädigungsbild für ein Lärmtrauma zeitnah zu dem Ereignis nicht feststellen können, weil der Kläger sich erst ca. zwei Wochen später in ärztliche Behandlung begeben habe. Es könne wegen der Einseitigkeit der Hörminderung auch nicht von einem typischen Schädigungsbild gesprochen werden, denn auch bei einem unfallunabhängigen Hörsturz trete typischer Weise die Minderung nur einseitig auf. Der Gutachter habe darüber hinaus die durch Dr. L dokumentierten vorherigen Vorstellungen in Bezug auf Ohrenerkrankungen und den Tinnitus nicht ausreichend gewürdigt.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des SG Berlin vom 08. Januar 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Es könne eine extreme Zwangshaltung angenommen werden. Er habe in der Sitzung beim SG demonstriert, dass er den Kopf bis an seine physiologische Grenze geneigt gehalten habe. Das erstinstanzliche Gutachten sei überzeugend und bestätige einen Arbeitsunfall.

 

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens der Fachärztin für HNO Dr. Am. Sie hat den Kläger am 03. April 2019 untersucht und ihr Gutachten am 04. Juni 2019 erstellt. Sie hat darin ausgeführt, dass es aufgrund des unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs der Lärmeinwirkung bzw. des akustischen Unfalls mit temporärer Hörminderung rechts und Tinnitus rechts äußerst wahrscheinlich sei, dass die angegebene Gesundheitsstörung in ursächlichem Zusammenhang mit dem Lärmtrauma stehe. Kinderschreien könne einen Schall von über 90 dB erzeugen. Da der Schalldruckpegel stets von der Entfernung zu der Schallquelle abhänge, könne der Lärmpegel in der Schule in Extremsituationen über 80 dB ansteigen. Von der Einschätzung des Dr. L, der einen Ursachenzusammenhang zwischen schädigender Einwirkungen und dem akuten Hörsturz rechts mit Begleittinnitus verneine, weiche sie ab, da sich im Tonschwellenaudiogramm eine deutliche Seitendifferenz zeige, die für den vom Kläger geschilderten Unfallhergang typisch sei. Auch die zeitliche Entwicklung der Hörminderung und des Tinnitus rechts würden mit der Arbeitssituation und den geschilderten Vorgängen übereinstimmen. Zwischen dem bereits im Oktober 2013 aufgetretenen und dem nach dem Lärmereignis aufgetretenen Tinnitus bestehe kein direkter ursächlicher Zusammenhang, da der Kläger an keinem dauerhaften Gesundheitsschaden leide, der für einen Tinnitus relevant wäre. Der Tinnitus sei als Dauerfolge des Unfalls anzunehmen.

 

Auf die Einwände der Beklagten, dass die Sachverständige die Beweislastregeln nicht berücksichtigt habe, die Ätiologie und Pathogenese eines Hörsturzes bis heute ungeklärt seien und sich die Schädigungsmuster bei einem Lärmtrauma nicht von dem eines unfallunabhängigen Hörsturzes unterschieden, hat die Sachverständige unter dem 07. November 2019 und dem 13. Mai 2020 ergänzend Stellung genommen. Darin hat sie bekräftigt, dass die temporäre Hörminderung rechts mit Begleittinnitus auf das Unfallereignis zurückgeführt werden könne, da die vier Voraussetzungen, die für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem akustischen Unfall und einer Hörminderung gefordert würden (Schallpegel über 90 dB(A), Drehen des Kopfes in eine extreme Zwangslage, akutes Auftreten der Störung in dieser Situation, einseitiges Auftreten der Störung) bei dem Kläger vorgelegen hätten. Die Hörminderung habe auch – typisch für einen akustischen Unfall - in den hohen Frequenzen begonnen. Allerdings könne das Muster auch für einen unfallunabhängigen Hörsturz zutreffen. Die Behandlung eines Hörsturzes unterscheide sich nicht von der einer unfallbedingten Hörminderung.

 

Der Senat hat am 10. Dezember 2020 einen Termin zur mündlichen Verhandlung durchgeführt, in dem der Kläger erneut die Situation am 01. Dezember 2014 und seine Beschwerden geschildert sowie eine Skizze der Räumlichkeiten angefertigt hat. Der Kläger hat dabei erneut das Hochziehen der linken Schulter und das Anlegen des linken Ohrs auf die Schulter beschrieben. Er hat nunmehr angegeben, in der linken Hand den Eimer mit den Wertsachen der Schüler getragen zu haben. Anschließend hat der Senat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines schalltechnischen Sachverständigengutachtens des Dipl. Ing. G. Der Sachverständige hat am 28. Juni 2021 schalltechnische Messungen auf dem Flur der Schule vorgenommen und sein Gutachten unter dem 03. Mai 2022 erstellt. Dabei wurden die Messungen nicht mit lärmenden Schülern, sondern (u. a. wegen der Pandemiebedingungen) unter Nutzung künstlicher Schallquellen durchgeführt. Der Sachverständige hat für den durch Rufen und Schreien verursachten Lärm die in der VDI-Richtlinie 3770 für Einzelpersonen vermerkten Werte zu Grunde gelegt. Soweit keine Maximalleistungspegel (Rufen sehr laut, Schreien normal, Schreien äußerst laut) oder keine Werte (Pfeifen, Pfeifen äußerst laut) in der Richtlinie angegeben waren, hat er die Werte aus dem äquivalenten Dauerschallpegel bzw. aus einem Wert für das Pfeifen auf Fingern aus einem Freifeldversuch abgeschätzt. Daraus hat er die Schallleistungsmaximalpegel und den Schalldruckmaximalpegel im Flurteil vor den Umkleideräumen bestimmt. Diese betrugen bei sehr lautem Schreien von 30 Personen 129,8 bzw. 129,4 dB(A), bei einem Pfeifen von 3 Personen 134,8 bzw. 134,65 dB(A) und bei einem äußerst lautem Pfiff 135,0 bzw. 134,7 dB(A).

 

Die Beklagte hat die Berechnungen des Sachverständigen nachfolgend kritisiert. Sie habe erhebliche Zweifel, dass die der VDI-Richtlinie entnommenen Werte die konkreten Verhältnisse am 01. Dezember 2014 widerspiegelten. Insbesondere begegne die Zugrundelegung nicht aus der VDI-Richtlinie stammender Werte Bedenken. Der Sachverständige hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 17. Januar 2023 an seinen Berechnungen festgehalten und diese sowie die Rechercheergebnisse zu den Schallleistungs- und Schalldruckpegeln der einzelnen Ereignisse noch einmal erläutert.

 

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 11. August 2023 (Beklagte) und vom 21. August 2023 (Kläger) einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Zu den weiteren Einzelheiten hinsichtlich des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der von der Beklagten übersandten Verwaltungsakten, die bei der Entscheidungsfindung vorgelegen haben, ergänzend Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, nachdem sich alle Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.

 

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet. Das  Urteil des SG Berlin vom 08. Januar 2018 erweist sich, soweit es von der Beklagten angegriffen worden ist, als rechtmäßig. Das SG hat den mit der Klage angegriffenen Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 2015 zu Recht aufgehoben und festgestellt, dass der Kläger am 01. Dezember 2014 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

 

Nach der Vorschrift des § 8 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach der gesetzlichen Definition des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitserstschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis geführt (Unfallereignis) und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität; ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteile vom 05. Juli 2016 - B 2 U 5/15 R -, Rn 13, 19. Juni 2018 – B 2 U 2/17 R -, Rn 13, und 30. Januar 2020 – B 2 U 2/18 R – , Rn 20, alle zitiert nach juris). Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt, dass die Merkmale „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung zur Zeit des Unfalls“, „Unfallereignis“ sowie „Gesundheitserst- bzw. Gesundheitsfolgeschaden“ im Wege des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der wesentlichen Ursachenzusammenhänge zwischen diesen Voraussetzungen die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit. Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden. Ob der Gesundheitsschaden eines Versicherten durch einen Arbeitsunfall (wesentlich) verursacht wurde, entscheidet sich - bei Vorliegen einer Kausalität im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne - danach, ob das Unfallereignis selbst - und nicht ausschließlich eine andere, unfallunabhängige Ursache - die wesentliche Bedingung für den Eintritt des Gesundheitsschadens war (ständige Rechtsprechung, BSG, vgl. Urteile vom 04. Dezember 2014 – B 2 U 18/13 R -, Rn. 16 ff., 13. November 2012 – B 2 U 19/11 R -, Rn. 20 ff., 31. Januar 2012 – B 2 U 2/11 R -, Rn. 16 ff., 02. April 2009 – B 2 U 29/07 R -, Rn. 15 ff., 27. Juni 2006 – B 2 U 20/04 R -, Rn. 18 ff., und 09. Mai 2006 – B 2 U 1/05 R -, Rn. 13 ff., alle zitiert nach juris, siehe auch: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, Kap. 1.7, S. 21 f.). Beweispflichtig für die anspruchsbegründenden Tatsachen ist nach den Regeln der objektiven Beweislast der Versicherte (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2015 – B 2 U 8/14 R - , Rn. 20 ff., zitiert nach juris).

 

Der Kläger übte als angestellter Lehrer eine nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versicherte Tätigkeit aus, als er am 01. Dezember 2014 die Schüler nach dem Sportunterricht zu den Umkleideräumen begleitete und dort die Türen aufschloss. Der Senat ist auch in dem nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG erforderlichen Maße davon überzeugt, dass an diesem Tag in dem Flurbereich ein die Gesundheit des Klägers schädigendes Ereignis stattfand und ein Gesundheitsschaden beim Kläger entstanden ist, der wesentlich durch das schädigende Ereignis verursacht worden ist.

 

Der Senat geht davon aus, dass am 01. Dezember 2015 Lärm von 129 dB(A) auf das rechte Ohr des Klägers eingewirkt hat. Zwar ist der Beklagten zuzustimmen, dass sich die Intensität des Lärms im Flur der Sporthalle am 01. Dezember 2014 im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit objektiv feststellen lässt, weil sich der durch das Schreien und Pfeifen einer Vielzahl von Schülern entstandene Lärm auf Grund seiner möglichen unterschiedlichen Zusammensetzung und der Variabilität der Rufe, Schreie und Pfiffe nicht rekonstruieren lässt. Eine 100-prozentig originalgetreue Nachstellung ist für das notwendige Maß an Überzeugungsbildung aber nicht notwendig. Das Tatsachengericht entscheidet gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es würdigt das Gesamtergebnis des Verfahrens frei nach der Überzeugungskraft der jeweiligen Beweismittel und des Beteiligtenvortrags unter Abwägung aller Umstände dahingehend, ob die anspruchsbegründenden Tatsachen mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen. Diese Beweiswürdigung ist grundsätzlich frei von gesetzlichen Vorgaben (BSG, Urteil vom 06. Oktober 2020 – B 2 U 9/19 R –, Rn. 26, juris). Danach ist der Senat von einer Lärmeinwirkung auf das rechte Ohr des Klägers über mehrere Sekunden mit einem Schalldruckpegel in Höhe von 129,4 dB(A) am 01. Dezember 2014 im Flur der Sporthalle, verursacht durch sehr lautes Schreien der Schüler, überzeugt.

 

Seine Überzeugung gründet der Senat auf die Schilderungen des Klägers und des Zeugen L zum tatsächlichen Ablauf und auf die Ausführungen des Sachverständigen Dipl. Ing. G in seinem Gutachten vom 03. Mai 2022 nebst ergänzender Stellungnahme vom 17. Januar 2023 zum resultierenden Schalldruckpegel.

 

Den Senat überzeugt das Ergebnis der von dem Sachverständigen Dipl. Ing. G vorgenommenen Berechnungen zum sehr lauten Schreien. Der Sachverständige hat im Flur vor der Sporthalle Messungen zur Ausbreitung und Reflexion des Schalls durchgeführt, indem er künstliche Schallquellen verwendet hat (Schallraummessungen). Zur Ermittlung der konkreten Lärmbelastungen hat er – den Vorgaben des Senats in der Beweisanordnung folgend – verschiedene Szenarien wie Rufen sehr laut, Schreien (normal, laut und sehr laut) sowie Pfeifen und Pfeifen äußerst laut zu Grunde gelegt. Soweit vorhanden hat er als Grundlage der Berechnungen die Angaben in der VDI-Richtlinie 3770 verwendet. Die Berechnungsansätze und die Berechnungen auf Grund der vom Sachverständigen in den baulich gegenüber dem Unfallzeitpunkt nicht veränderten Räumlichkeiten durchgeführten  Messungen werden schlüssig und nachvollziehbar dargelegt. Auch die Eingangsdaten in Bezug auf den durch Rufen und Schreien verursachten Lärm sind nicht zu beanstanden. Der Senat ist auf Grund der Schilderungen des Klägers im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, in der mündlichen Verhandlung vor dem SG sowie vor dem Senat, davon überzeugt, dass eine Vielzahl von Schülern sehr laut geschrien hat. Er folgt insoweit der vom SG in dem angegriffenen Urteil vorgenommenen Würdigung. Der Kläger hat dies von Anfang an konsequent und widerspruchsfrei vorgetragen. Seine Aussage wird auch von den Bekundungen des erstinstanzlich vernommenen Zeugen Lbestätigt. Danach hätten die Schüler an dem Tag schon sehr viel laut geschrien. Sonst würden laut Sporthymnen gesungen. An dem Tag seien es aber laute Schreie gewesen. Der Senat geht auf Grund dieser Schilderungen davon aus, dass an diesem Tag ein gegenüber den sonstigen Umständen besonders lautes Schreien der Schüler vorlag.

 

Es begegnet keinen Bedenken, dass der Sachverständige seiner Berechnung als Eingangswerte für lautes und sehr lautes Schreien die hierzu in der VDI-Richtlinie 3770 angegebenen Werte zu Grunde gelegt hat. Die VDI-Richtlinie gibt Hinweise zur kennzeichnenden Geräuschemission von Sport- und Freizeitanlagen. Die Werte sind in dem Regelwerk demnach gerade aufgeführt, um zu erwartenden Lärm in Sportstätten berechnen zu können. Im Ergebnis ergibt sich bei 30 Schülern bei sehr lautem Schreien ein Schalldruckmaximalpegel im Flurteil vor den Umkleiden in Höhe von 129,4 dB(A).

 

Soweit der Sachverständige noch höhere Werte ermittelt hat, indem er die Auswirkungen eines Pfeifens (auf den Fingern) von drei Schülern bzw. eines äußerst lauten Pfeifens eines Schülers berechnet hat (134,5 bzw. 134,7 dB(A)), ist der Senat von deren Erreichen nicht überzeugt. Zum einen wurde ein Pfeifen auf den Fingern vom Kläger nicht geschildert. Der Zeuge L hat ein Pfeifen überhaupt nicht berichtet, so dass der Senat schon nicht vom tatsächlichen Pfeifen (auf den Fingern) durch Schüler in der konkreten Situation überzeugt ist. Zum anderen liegt den diesbezüglichen Berechnungen als Eingangsdaten für die aufgebrachte Schallleistung nur eine Einzelangabe in der Literatur sowie aus einem Selbsttest des Sachverständigen zu Grunde. Der Wert aus dem Selbsttest unterschritt zudem den angenommenen Eingangswert um 4 dB(A). Das Erreichen der errechneten Werte erscheint dem Senat danach zwar möglich. Dies genügt aber nicht zur Überzeugungsbildung.

 

Der Kläger hat auch einen Gesundheitserstschaden erlitten. Der Senat ist zumindest vom Eintritt einer vorrübergehenden Hörminderung und von kurzzeitigen Schmerzen betreffend das rechte Ohr beim Kläger am 01. Dezember 2014 im Sinne eines Vollbeweiseses überzeugt. Der Hörschaden und die Schmerzen sind zwar am 01. Dezember 2014 nicht ärztlich dokumentiert worden. Vielmehr hat der Kläger erst am 15. Dezember 2014 seinen HNO-Arzt Dr. L aufgesucht und die Beschwerden geschildert. Erst dann wurde im Tonschwellenaudiogramm eine Hörminderung in den hohen Frequenzen objektiv festgestellt. Der Kläger hat aber im Rahmen des Verwaltungs- und auch des Gerichtsverfahrens geschildert, dass er am 01. Dezember 2014 nach dem Vorfall Schmerzen und sofort ein Druckempfinden sowie ein gestörtes Hörgefühl (Hören wie in einer Blase bzw. wie Watte) bemerkte, wobei Letzteres bis zur Vorstellung bei Dr. L am 15. Dezember 2014 nicht verschwunden gewesen sei. Der Senat sieht die Angaben durch den weiteren Umstand, dass der Kläger sich am Folgetag wegen der Hörstörung arbeitsunfähig gemeldet hatte, bestätigt. Darüber hinaus hat der Zeuge L in der mündlichen Verhandlung vor dem SG bestätigt, dass der Kläger sich nach dem Ereignis die Ohren gehalten und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ins Lehrerzimmer begeben habe. Auch der weitere Verlauf der Hörstörung – Verbesserung in der Folgezeit – spricht nicht gegen die Annahme, dass die Hörstörung bereits am 01. Dezember 2014 aufgetreten ist. Die beiden im gerichtlichen Verfahren mit der medizinischen Begutachtung beauftragten Sachverständigen Dr. A und Dr. Am gehen aus medizinischer Sicht ebenfalls von einer Plausibilität der Schilderungen und dem Eintritt einer Hörminderung am 01. Dezember 2014 aus. Der Senat hat nach alledem keinen Zweifel daran, dass der Kläger nach dem Ereignis am 01. Dezember 2014 unmittelbar Schmerzen verspürte und sein Hörvermögen gemindert war.

 

Der Senat hält eine wesentliche Verursachung der kurzzeitigen Schmerzen und der vorübergehenden Hörminderung durch den am 01. Dezember 2014 im Flur der Sporthalle aufgetretenen Lärm durch ein sogenanntes Mini-Lärmtrauma – und nicht wie das SG und die Sachverständige Dr. Am meinen, durch einen akustischen Unfall - für überwiegend wahrscheinlich. Er folgt insoweit dem Gutachten des Dr. A vom 28. Januar 2017 nebst ergänzender Stellungnahme vom 30. Juni 2017.

 

Nach der wissenschaftlichen und gutachterlichen Literatur können extrem hohe Schalldruckpegel das Gehör unmittelbar schädigen. Im amtlichen Merkblatt des BMAS zur BK-Nr. 2301 (2008) wird an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen, dass oberhalb des Wertes von 137 dB(C), der in der Verordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Gefährdungen durch Lärm und Vibrationen (LärmVibrationsArbSchV) als einer der oberen Auslösewerte für Präventionsmaßnahmen aufgeführt wird, gesundheitliche Schädigungen möglich sind. Eine Grenze für eine unmittelbare Schädigung wurde im BK-Merkblatt nicht angegeben. Nach den bestehenden Forschungsergebnissen können erst einmalige Schallereignisse von mehr als 150 dB(C)peak im Einzelfall akute Gehörschäden hervorrufen (Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit (BK-Nr. 2301) – Königsteiner Empfehlung – Update 2020, S. 13). Akute Hörschäden können durch hohe Lärmbelastung im Sinne eines Knall- und Explosionstraumas, eines akuten Lärmtraumas, eines akuten Mini-Lärmtraumas sowie im Sinne eines akustischen Unfalls verursacht werden. Knalltraumen werden durch Spitzenschallpegel ab 135 dB(A) (entspricht etwa einem Wertebereich von 150 bis 160 dB(C)peak; Feldmann/Brusis, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 8. überarbeitete Auflage 2019, S. 214), die äußerst kurze Zeit auftreten, verursacht und führen zu strukturellen Schäden an den Haarzellen (Feldmann/Brusis, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 8. überarbeitete Auflage 2019, S. 213, 221). Bei einem akuten Lärmtrauma treten exzessiv hohe Schallstärken von 130 bis 160 dB(A) für die Dauer einiger Minuten auf. Dadurch wird oft eine hochgradige dauerhafte Hörstörung mit erheblichen Hörverlusten ausgelöst  (Feldmann/Brusis, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 8. überarbeitete Auflage 2019, S. 229). Bei einem akuten Mini-Lärmtrauma besteht eine Lärmeinwirkung von 2 bis 3 Sekunden bei einem Lärmpegel von nur 130 dB(C). Als Folge kann eine umschriebene vorübergehende oder anhaltende Hörminderung auftreten (Feldmann/Brusis, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 8. überarbeitete Auflage 2019, S. 233). Beim Knall-, Explosions- und Lärmtrauma können vorübergehende Hörstörungen auftreten, auch wenn der Lärmpegel gering unter den anerkannten Grenzwerten gelegen hat. In der Regel klingen diese Beschwerden folgenlos ab. Ein akustischer Unfall, dessen Voraussetzungen und Genese jedoch wissenschaftlich noch nicht abschließend als geklärt gelten, kann bei einer Schallstärke ab 90 dB(A) eintreten, wenn eine Kopfneigung in einer extrem verdrehten Zwangslage vorgelegen hat und die Hörstörung einseitig gewesen ist. Die Annahme eines akustischen Unfalls geht von der Überlegung aus, dass die Schwerhörigkeit durch ein Zusammenwirken von Lärmbelastung und einem Sauerstoffmangel der Organe des Innenohrs hervorgerufen wird (Feldmann/Brusis, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 8. überarbeitete Auflage 2019, S. 239).

 

Unter Berücksichtigung dieser Grundlagen spricht für den Senat nach dem Gutachten des Dr. A mehr für als gegen die Verursachung des gesundheitlichen Erstschadens durch den Lärm. Dr. A legt in seinem Gutachten für den Senat überzeugend dar, dass die eingetretene Hörminderung, wie sie vom Kläger beschrieben und später durch die Befunde des Dr. L dokumentiert wurde, gut mit einem Lärmtrauma vereinbar sei. Auch Dr. Am geht davon aus, dass die festgestellte Hörminderung dem typischen Schädigungsmuster nach Lärmbelastung entsprach. Dr. A führt weiter aus, dass durch Erreichen oder Überschreiten der bei 120 bis 130 dB(A) liegenden Schmerzgrenze ein Schrei äußerst schmerzhaft wirken könne und bei entsprechender Dauer zu einer meist temporären Hörminderung mit einem charakteristischen Profil in der Tonaudiometrie führe. Als Alternative hat Dr. A sich auch kritisch mit der Frage des Vorliegens eines von Dr. L diagnostizierten Hörsturzes auseinandergesetzt und – insofern in Übereinstimmung mit Dr. Am -  ausgeführt, dass das Muster der Hörminderung zwar auch mit einem idiopathischen Hörsturz zu vereinbaren sei, es sich dabei aber um eine deutlich nachrangig zu stellende Diagnose handele, deren Auftreten insgesamt unwahrscheinlich sei. Vorausgesetzt, der Lärm sei laut genug gewesen, sei dies angesichts des zeitlichen Zusammenhangs, der charakteristischen Hörkurve sowie der sukzessiven Besserung der Symptomatik die wahrscheinlichste Ursache. Die Abgrenzung zwischen Lärmtrauma, akustischem Unfall und idiopathischem Hörsturz erweise sich dabei zwar als schwierig. Isoliert betrachtet sei die von Dr. L gestellte Diagnose des Hörsturzes plausibel. Hörstürze träten nach den in der Literatur verfügbaren Angaben mit einer jährlichen Inzidenz von etwa 10 bis 20 je 100.000 Einwohner in Industrienationen auf. Die Diagnose eines Hörsturzes könne erst nach differentialdiagnostischer Abklärung und dem Ausschluss aller anderen Ursachen eines akuten Hörverlustes gestellt werden. Ein akutes Mini-Lärmtrauma entstehe, wenn der Geschädigte einer extrem hohen Lärmexposition über Sekunden ausgesetzt sei. Es habe zwar nicht abschließend geklärt werden können, ob die geforderte Lautstärke konkret erreicht worden sei, dies liege aber im Bereich des Möglichen. In Zusammenschau mit dem geschilderten Lärmereignis sei ein Lärmtrauma wahrscheinlicher als ein spontanes Auftreten der Beschwerden.  Die durch das Tonaudiogramm vom 15. Dezember 2014 mit einer rechtsseitigen Absenkung der Hörkurve zwischen 1 kHz und 4 kHz bis maximal 20 dB bei 2 kHz und ab 4Kz auf maximal 40 dB bei 6 kHz und einer flachen Einsenkung links gezeigte Hörminderung mit einer deutlichen Besserungstendenz über Tage und Wochen bis zur Restitution seien mit dem typischen Schädigungsmuster eines Lärmtraumas vereinbar. Ein Vorschaden bezüglich des Hörvermögens habe auf Grund des aus dem Vorjahr vorliegenden Audiogramms ausgeschlossen werden können. Zwischen dem Vorbefund der Otalgie im Jahr 2007 und der im Dezember 2014 eingetretenen Beschwerden bestehe kein medizinischer Zusammenhang.  Dr. Am verneint ebenfalls einen Zusammenhang der am 01. Dezember 2014 aufgetretenen Beschwerden mit den aktenkundigen Vorerkrankungen. Im Hinblick auf den im Oktober 2013 aufgetretenen Tinnitus führt sie aus, dass kein ursächlicher Zusammenhang bestehe, weil ein gesundheitlicher Vorschaden, der hierfür relevant gewesen sein könnte, nicht bekannt sei.  Soweit die Sachverständige Dr. Am in ihren ergänzenden Stellungnahmen jedoch von einem akustischen Unfall als Ursache ausgeht, vermag der Senat dem dagegen nicht zu folgen. Sie legt ihrer Bewertung eine extreme Zwangshaltung des Kopfes des Klägers zu Grunde.  Der Kläger hat hingegen – und dies auch erstmals im gerichtlichen Verfahren – nur berichtet, den Kopf zur linken Seite geneigt zu haben, um wenigstens das linke Ohr vor dem Lärm etwas abzuschirmen. Nach Auffassung des Senats liegt hierin allerdings keine extreme Zwangshaltung. Grundlage der Annahme eines akustischen Unfalls ist die Vermutung, dass es auf Grund der Zwangshaltung zu einer Minderdurchblutung der Haarzellen im Ohr kommt, die zusammen mit der Lärmeinwirkung eine Schädigung der Zellen verursacht. Selbst wenn man davon ausginge, dass der Kläger tatsächlich den Kopf nach links geneigt hatte, ist nicht ersichtlich und wird von der Gutachterin auch nicht dargelegt, dass es allein durch das Neigen des Kopfes schon zu einer Minderdurchblutung der Bestandteile des Innenohrs kommen kann. Darüber hinaus dürfte davon jedenfalls nicht das rechte Ohr, bei dem die Hörminderung aufgetreten ist, betroffen sein.

 

Der Senat sieht nach alledem die Verursachung von Schmerzen und einer vorübergehenden Hörminderung durch den Vorfall im Flur der Turnhalle als überwiegend wahrscheinlich an. Die von Dr. A geäußerten Zweifel an der konkreten Verursachung beziehen sich nicht auf den Zusammenhang selbst, sondern auf das Vorliegen einer adäquaten Lärmbelastung. Die hierzu von Dr. A angestellten Überlegungen, wonach eine adäquate Lärmbelastung durch das Schreien von Schülern auf Grund des Wiederhalls „bei der Annahme von Rekordwerten“ möglich sei, sind nunmehr jedoch durch das von Dipl. Ing. G erstellte lärmtechnische Gutachten überholt bzw. bestätigt worden. Nach dem Gutachten lag ein maximaler Schalldruckpegel von bis zu 129 dB(A) vor. Er hatte somit die Schmerzgrenze überschritten und war nach den Ausführungen des Dr. A geeignet, eine vorrübergehende Hörminderung im Sinne eines Mini-Lärmtraumas auszulösen. Diese Einschätzung steht in Übereinstimmung mit der bereits angeführten gutachterlichen Literatur. Dem Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass nach der wissenschaftlichen Literatur ein Schrei ins Ohr nicht geeignet sein soll, ein Lärmtrauma – auch nicht ein Mini-Lärmtrauma – auszulösen (Feldmann/Brusis, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 8. überarbeitete Auflage 2019, S. 234). Diese Betrachtungen legen zu Grunde, dass ein einzelner Schrei in der Lage ist, am Ohr des Empfängers einen Schalldruckpegel von 120 dB(A) auszulösen. Hier kommen allerdings die besonderen und vom Sachverständigen seiner Berechnung zu Grunde gelegten räumlichen Verhältnisse und die Vielzahl an schreienden Personen hinzu, die auch bei der Annahme eines Schallleistungspegels je Person in Höhe von 110 dB(A) zu dem weitaus höheren Schalldruckpegel von 129,4 dB(A) im Flur führen.

 

Ob beim Kläger tatsächlich noch ein Tinnitus besteht und ob dieser durch den Unfall am 01. Dezember 2014 wesentlich verursacht worden ist, lässt der Senat ausdrücklich offen. Hierauf kommt es – da ein anderweitiger Gesundheitserstschaden im Sinne von kurzzeitigen Schmerzen und einem vorrübergehenden Hörverlust rechts festgestellt worden ist - für die im vorliegenden Verfahren allein zu klärende Frage, ob ein Arbeitsunfall zu bejahen ist, nicht an.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache.

 

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

 

 

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