Ein Neuromodulationsanzug ist in der Regel als Hilfsmittel, das vorrangig therapeutischen Zwecken dient, zu werten und daher zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erst nach Durchführung des Prüfverfahrens und positiver Bewertung zu gewähren, § 139 Abs. IV i.V.m. § 135 Abs. 1 SGB V.
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
T a t b e s t a n d :
Streitgegenständlich ist die Versorgung der Klägerin mit einem "Neuromodulationsanzug".
Die Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Für sie wurde unter Vorlage eines Kostenvoranschlags des Leistungserbringers vom 10.01.2023 die Versorgung mit einem "Exopulse Mollii Suit, Ganzkörperanzug zur Neuromodulation", zum "Kauf ohne Testphase", über 8.798,98 € beantragt. Vorgelegt wurde hierzu eine ärztliche Verordnung vom 02.01.2023, ausgestellt durch den Behandler Dr. D1, bei Angabe des Versorgungsziels: "Aktivierung der geschwächten Muskulatur" bei Multipler Sklerose. Beigefügt wurde dem Antrag außerdem jeweils ein Protokoll vom 06.12.2022 mit der Angabe: "rechter Arm etwas beweglicher, Müdigkeit (Heimfahrt), Rumpf leicht stabiler (freies Sitzen nein)" und vom 08.12.2022 mit der Angabe: "eine Art Erstverschlechterung, Arme sehr eingeschränkt, Finger sehr eingeschränkt".
Mit Bescheid vom 20.01.2023 lehnte die Beklagte die Versorgung ab mit der Begründung, das beantragte Hilfsmittel sei nicht im Hilfsmittelverzeichnis gelistet und der therapeutische Nutzen sowie die Unbedenklichkeit der Methode für den häuslichen Bereich seien wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Einzelprodukte, die nicht in eine Produktart des Hilfsmittelverzeichnisses aufgenommen seien, würden in keinem Fall der Leistungspflicht der Krankenkasse unterliegen. Des Weiteren würde die Kostenübernahme dem Wirtschaftlichkeitsgebot widersprechen.
Hiergegen erhob die Klägerin am 09.02.2023 Widerspruch unter Schilderung der Wirkweise und der Vorteile des "Exopulse Mollii Suit": Der "Exopulse Mollii Suit" sei der erste elektronisch betriebene Neuromodulationsanzug zur Verbesserung der Mobilität, des Gleichgewichts und der Reduzierung der Spasmen. Er werde verwendet, um den Antagonisten eines spastischen Muskels zu stimulieren. Durch den natürlichen Reflexmechanismus, entspanne sich der Bizepsmuskel anschließend. Das Entspannen des Muskels ermögliche eine allmähliche Verbesserung der Funktion. Der Anzug werde für 60 Minuten getragen, der Effekt halte bei den Anwendern unterschiedlich lange an, bis hin zu zwei Tagen. Daraus ergebe sich in der Folge, ob der Anzug einmal täglich oder alle zwei Tage getragen werde. Schon nach einer Stunde Erprobung habe die Klägerin Verbesserungen gespürt. Ihre Spasmen seien weniger geworden und bei Bewegungen sei weniger Widerstand vorhanden gewesen. Die Verbesserung sei messbar in einem Video festgehalten worden, z.B. beim Antreiben des Rollstuhls. Bei der Beurteilung eines Versorgungsanspruchs sei dem Teilhabeaspekt Bedeutung zuzumessen. Das Funktionsdefizit werde mit Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich im Schwerpunkt nicht kurativ behandelt, sondern lediglich möglichst weitreichend kompensiert. Ziel solcher Hilfsmittel sei nicht Heilung oder Besserung, sondern die Verbesserung der Teilhabe in der Gesellschaft. Zu den Hilfsmitteln gehörten auch Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung. Der "Exopulse Mollii Suit" diene aber dem unmittelbaren Behinderungsausgleich. Der Anzug sei der Klägerin durch Ihren Arzt nach Erprobung verordnet worden, die Ablehnung widerspreche der Verordnungshoheit des Arztes, die Klägerin sei auf das Hilfsmittel zwingend angewiesen.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 25.04.2023 als unbegründet zurückgewiesen. Das beantragte Hilfsmittel entspreche nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse, weil die Funktionstauglichkeit und der medizinische Nutzen nicht im erforderlichen Umfang nachgewiesen seien.
Dagegen richtet sich die mit Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 16.05.2023, eingegangen am 17.05.2023, zum Sozialgericht Augsburg erhobene Klage, mit der die Klägerin weiterhin die Versorgung mit dem "Exopulse Mollii Suit" begehrt. Zur Begründung ist vorgetragen worden, die Klägerin sei seit über 20 Jahren an Multipler Sklerose erkrankt. Aufgrund der fortschreitenden Erkrankung sowie einer zusätzlichen Gangstörung sei sie seit 2014 dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen. Stehen und Gehen sei nicht möglich, die Fortbewegung im Rollstuhl gelinge der Klägerin selbstständig nur wenige Meter. Es ist nochmals, wie im Widerspruchsverfahren, die Wirkweise des "Exopulse Molli Suit" beschrieben worden, er diene dem Behinderungsausgleich, indem er die Schmerzen reduziere und die Beweglichkeit erhöhe.
Das Gericht hat eine Stellungnahme des GKV-Spitzenverbands vom 30.05.2023 zu einer gerichtlichen Anfrage in einem Verfahren mit gleichem Streitgegenstand beigezogen, in der mitgeteilt wird, dem GKV-Spitzenverband liege kein Antrag auf Aufnahme des Produkts "Exopulse Mollii Suit" in das Hilfsmittelverzeichnis vor. Bereits aus diesem Grund werde dort eine Klärung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss, ob das Produkt untrennbarer Bestandteil einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode sei, nicht als erforderlich angesehen.
Das Gericht hat außerdem einen Befundbericht des verordnenden Arztes Dr. D1 vom 13.06.2023 eingeholt, der ausgeführt hat, die Lebensqualität der Klägerin werde durch ausgeprägte Beinspastiken massiv beeinträchtigt, weitere medikamentöse Möglichkeiten bestünden aus Sicht des Behandlers nicht mehr. Das verordnete Gerät solle die Spastiken vermindern. Aus der Funktionsweise des "Exopulse Mollii Suit" erschließe sich die therapeutische Funktion. Dr. D1 gibt an, er erwarte eine Verbesserung der Spastiken und der Beweglichkeit über Wochen und Monate.
Mit richterlichem Hinweis vom 15.06.2023 ist darauf hingewiesen worden, dass, soweit dem Hilfsmittel eine therapeutische Funktion zukomme, nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Sperrwirkung des § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V mit dem Erfordernis einer positiven Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) gelte.
Hierzu ist mit Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nochmals eingewandt worden, dass der Anspruch auf Hilfsmittelversorgung nicht zwingend mit der Aufnahme des Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis verknüpft sei.
Die Klägeirn beantragt zuletzt,
den Bescheid vom 20.01.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.04.2023 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin mit einem "Exopulse Mollii Suit (Neuromodulationsanzug)" zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen des weiteren Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte der Beklagen Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die zulässige Klage ist nicht begründet, der gegenständliche Ablehnungsbescheid ist zur Überzeugung des Gerichts rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Versorgung mit dem "Exopulse Mollii Suit" zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).
Gemäß § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Dabei ist das Hilfsmittelverzeichnis nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung zwar nicht abschließend, so dass grundsätzlich auch Hilfsmittel zulasten der GKV verordnet werden können, die nicht im Hilfsmittelverzeichnis gelistet sind, soweit jeweils die weiteren Anspruchsvoraussetzungen vorliegen.
Soweit das Hilfsmittel aber nicht nur dem Behinderungsausgleich, sondern im Schwerpunkt auch therapeutischen Zwecken dient, ist - neben der Funktionstauglichkeit und Sicherheit - auch ein Nachweis eines therapeutischen Nutzens erforderlich gemäß § 139 Abs. 4 SGB V (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.2004, Az.: B 3 KR 20/04 R). Wird ein Hilfsmittel als untrennbarer Bestandteil einer neuen vertragsärztlichen Behandlungs- oder Untersuchungsmethode eingesetzt, hat die Krankenkasse die Kosten hierfür grundsätzlich erst zu übernehmen, wenn der GBA die Methode positiv bewertet hat (vgl. BSG, Urteil vom 11. Mai 2017, Az.: B 3 KR 6/16 R). Denn im Hinblick auf die Sicherung von Nutzen und Wirtschaftlichkeit von Behandlungsmethoden ist das Prüfungsverfahren beim GBA vorgeschaltet, es gilt die Sperrwirkung des § 135 Abs. 1 SGB V. Erst wenn diese Prüfung positiv ausgefallen ist, sind die für den Einsatz der dann anerkannten Methode notwendigen Hilfsmittel Gegenstand der Leistungspflicht der Krankenkassen (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 10. Dezember 2019, Az.: L 11 KR 1110/19 m.w.N.) Entsprechend gilt für Hilfsmittel, die im Rahmen einer neuen vertragsärztlichen Behandlungs- oder Untersuchungsmethode eingesetzt werden, dass die Krankenkasse diese regelmäßig erst nach einer positiven Bewertung durch den GBA zu gewähren hat (vgl. BSG, Urteil vom 11. Mai 2017, Az.: B 3 KR 6/16 R). Das gilt auch dann, wenn der Versicherte das ärztlich verordnete Hilfsmittel ausschließlich selbst anwenden soll (vgl. BSG, Urteil vom 8. Juli 2015, Az.: B 3 KR 6/14 R).
Bei dem hier streitgegenständlichen "Exopulse Mollii Suit" geht es nicht um den bloßen Behinderungsausgleich, sondern im Vordergrund steht zur Überzeugung des Gerichts der therapeutische Nutzen. Das ergibt sich sowohl aus der Stellungnahme des verordnenden Arztes, der ausdrücklich auf die therapeutische Funktion abstellt, als auch aus der seitens des Anbieters beschriebenen Wirkungsweise, der in der Produktbeschreibung angibt, der "Exopulse Mollii Suit" sei eine grundlegende Innovation im Bereich der Behandlung von neurologischen Störungen und der damit verbundenen Beschwerden.
Der Anzug ersetzt nicht ausgefallene Körperfunktionen in konkreten Alltagssituationen im Rahmen des Behinderungsausgleichs. Dies kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass der Anzug nicht zur Ausübung einer gezielten Bewegung getragen wird, sondern er soll nach den Empfehlungen des Anbieters für eine Stunde alle zwei Tage (vorbehaltlich anderweitiger Verordnung durch den Arzt) getragen werden und dann einen "carry-over-Effekt" entfalten, also nachhaltig wirken. Ob daneben andere Behandlungen weitergeführt werden können, sei mit dem jeweils behandelnden Arzt im Einzelfall abzuklären. Es handelt sich damit zur Überzeugung des Gerichts beim "Exopluse Mollii Suit" um ein Hilfsmittel, dass im Rahmen einer neuen Behandlungsmethode eingesetzt werden soll (vgl. auch SG Köln, Urteil vom 20.01.2022, Az.: S 31 KR 1648/21).
Es gilt daher die Sperrwirkung des § 139, §135 SGB V, erforderlich ist eine positive Empfehlung des GBA, die bislang noch nicht vorliegt. Soweit nach Mitteilung des GKV-Spitzenverbands bereits deshalb noch nicht in die Prüfung eingetreten worden ist, weil es an einem entsprechenden Antrag fehle, scheidet die Annahme eines Systemversagens aus, da ein solches nur angenommen werden kann, wenn trotz Vorliegen aller formalen und inhaltlichen Voraussetzungen die Prüfung ohne ersichtlichen Grund nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wird.
Ein Seltenheitsfall, in dem eine Prüfung im Rahmen wissenschaftlicher Studien aufgrund der geringen Fallzahl nicht möglich wäre, liegt bezogen auf die Erkrankung der Klägerin nicht vor.
Auch die Ausnahmevorschrift des § 2 Abs.1a SGB V greift nicht. Danach können Versicherte abweichende, noch nicht im Leistungskatalog enthaltene Leistungen beanspruchen, wenn eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vorliegt, für die zugelassene Behandlungsmethoden nicht zur Verfügung stehen, wenn die begehrte Behandlung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Grundsätzlich wird in der Rechtsprechung die Erkrankung an Multipler Sklerose nicht als unmittelbar lebensbedrohlich oder wertungsmäßig vergleichbar eingeschätzt; ob gegebenenfalls etwas Anderes geltend muss, wenn der Verlust einer wesentlichen Körperfunktion, wie beispielsweise der Gehfähigkeit, unmittelbar droht, kann hier dahin stehen. Denn entscheidend ist für die Anwendung des § 2 Abs. 1a SGB V eine notstandsähnliche Situation in dem Sinne, dass sofortiger Handlungsbedarf besteht um eine ansonsten zu erwartende, nicht wiedergutzumachende Verschlechterung zu verhindern. Das gilt aber nicht, wenn wie hier der Verlust der Gehfähigkeit bereits eingetreten ist und durch die gegenständliche Behandlung wieder verbessert werden soll (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 10.08.2021, Az.: L 11 KR 4247/19).
Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch gegen die Beklagte derzeit nicht vor. Die Klage war daher abzuweisen.