Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 11.08.2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers.
Der 1968 geborene und in K1 wohnende Kläger erlitt am 15.05.2012 bei seiner beruflichen Tätigkeit in der Schweiz einen Unfall, als er aus ca. einem Meter Höhe von einem Baugerüst stürzte. Im Verfahren um die Bewilligung einer Unfallrente aus Schweizer Versicherung erfolgte am 15.03.2016 im Auftrag der S1 B1 eine kreisärztliche Untersuchung durch den P1.
Der Kläger beantragte am 07.06.2019 beim Landratsamt B2 (LRA) erstmalig die Feststellung eines GdB für die Zeit seit Mai 2012 und gab an, er leide seit dem Arbeitsunfall in der Schweiz am 15.05.2012 an ständigen Schmerzen im Bereich der Hals- und Brustwirbel, Empfindungsstörungen im rechten Arm und wegen der ständigen Nackenschmerzen an massiven Schlafstörungen. Dazu legte er zahlreiche Befundberichte vor.
In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 22.07.2019 stellte F1 folgende Funktionsbeeinträchtigungen fest:
Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, verheilter Wirbelbruch, chronisches Schmerzsyndrom, psychovegetative Störungen. Den GdB bewertete sie mit 30. Mit Bescheid vom 23.07.2019 stellte das LRA daraufhin bei den genannten Funktionseinschränkungen einen GdB von 30 seit dem 15.05.2012 fest.
Mit seinem am 14.08.2019 eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, er leide seit seinem Unfall am 15.05.2012 unter chronischen Schmerzen. Diese seien mit einem GdB von 40 - 70 zu bewerten. Schmerzmittel brächten keine Linderung. Die Schmerzsituation habe sich in den letzten Jahren verschlimmert, so dass die Schmerzmittel deutlich erhöht worden seien. Daher sei die gleichbleibende Einstufung mit einem GdB von 30 seit dem Unfalltag nicht nachvollziehbar. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 02.10.2019 hielt K2 an der bisherigen Einschätzung des GdB fest. Im Vordergrund stehe das ausgeprägte chronische Schmerzsyndrom. Eine fachärztliche Mitbetreuung (Schmerztherapeut, Psychiater) scheine derzeit nicht durchgeführt zu werden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 25.05.2020 wies der Beklagte den Widerspruch daraufhin zurück. Im Jahr 2012 sei es zu einem Sturz von einem Gerüst gekommen, das am Unfalltag durchgeführte CT sei unauffällig gewesen, im NMW sei 2017 eine diskrete Deckplattenimpressionsfraktur HWK 7 und BWK 3 diagnostiziert worden. Im Verlauf seien lediglich intermittierende Nuchalgien (HWS-Schmerzen/Cervicalgien) angegeben worden. Im weiteren Verlauf sei es zu einer erheblichen Symptomausweitung gekommen, die durch objektive Befunde nur zum Teil habe erklärt werden können. Radiologisch hätten sich keine relevanten Höhenminderungen der Wirbelkörper gezeigt. In der Kreisärztlichen Untersuchung durch P1 hätten keine wesentlichen sensomotorischen Defizite festgestellt werden können. Objektiv habe sich eine Einschränkung der Beweglichkeit der HWS gezeigt, subjektiv seien ausgeprägte Schmerzen der HWS mit Ausstrahlung in den rechten Arm beschrieben worden. Im Vordergrund stehe das ausgeprägte chronische Schmerzsyndrom; eine fachärztliche Mitbetreuung scheine derzeit nicht durchgeführt zu werden.
Am 16.06.2020 hat der Kläger unter Wiederholung seiner Widerspruchsbegründung Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben, mit der er die Feststellung eines höheren GdB begehrt.
Das SG hat von Amts wegen ein orthopädisches Gutachten durch S2, mit Untersuchung des Klägers am 07.10.2020 eingeholt. In seinem am 09.10.2020 erstatteten Gutachten hat S2 eine Cervikobrachialgie rechts bei leichten degenerativen Veränderungen und Zustand nach HWS-Distorsion sowie verheilte leichte Sinterungsfrakturen HWK 7 und BWK 3 diagnostiziert. Er hat zudem eine deutliche Einschränkung der Beweglichkeit der HWS festgestellt (Inklination/Reklination 30-0-20°, Rechts-/Linksseitneigung 20-0-20°, Rechts-/Linksrotation 40-0-40°). Im Bereich BWS/LWS hat der Gutachter einen Fingerbodenabstand von 10 cm, Schober- und Ott’sches Zeichen im Normbereich und eine Rechts-/Linksseitneigung von 30-0-30° gemessen. Der Kläger schildere eine diffuse Sensibilitätsstörung des rechten Armes, welche nicht dermatombezogen sei. Motorische Ausfälle seien nicht nachweisbar. Muskelatrophien des rechten Arms als Zeichen einer motorischen Störung bestünden nicht, die Muskulatur sei altersentsprechend ausgeprägt, rechts sogar im Seitenvergleich etwas kräftiger als links. Die Funktionsbehinderung der HWS und BWS hat S2 mit einem GdB von insgesamt 30 eingeschätzt und eine zusätzliche Begutachtung auf neurologischem bzw. psychosomatischem Fachgebiet angeregt.
Das SG hat daraufhin ein neurologisches Gutachten vom 12.05.2021 durch W1, mit Untersuchung des Klägers am 17.03.2021 eingeholt. W1 hat ein chronifiziertes, gänzlich therapieresistentes Schmerzsyndrom der paravertebralen Muskulatur der unteren HWS und der oberen BWS rechts sowie des Schultergürtels rechts festgestellt, welches zu keinem Zeitpunkt mit neurologischen Ausfällen oder adäquaten radiologischen Befunden einhergegangen sei. Bei der Untersuchung hat W1 eine endgradig eingeschränkte Beweglichkeit der HWS in alle Richtungen und einen unauffälligen neurologischen Befund erhoben. Er hat ausgeführt, dass diagnostisch von einer somatoformen Schmerzstörung auszugehen sei. Die Beschwerden seien einem Wirbelsäulenschaden in einem Wirbelsäulenabschnitt ohne neurologische Ausfälle mit häufig rezidivierenden und Wochen andauernden, ausgeprägten Wirbelsäulensyndromen gleichzustellen, woraus sich ein Gesamt-GdB von 30% ergebe.
Nachdem das SG die Beteiligten auf eine beabsichtigte Entscheidung durch Gerichtsbescheid hingewiesen hatte, hat es mit Gerichtsbescheid vom 11.08.2021 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, beim Kläger lägen eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, ein verheilter Wirbelbruch, ein chronisches Schmerzsyndrom und psychovegetative Störungen vor. Die Einschränkungen im Bereich der Wirbelsäule seien mit einem GdB von 20 zu bewerten. Der Sachverständige S2 habe zwar eine deutliche Bewegungseinschränkung der HWS, aber lediglich leichte Bewegungseinschränkungen der BWS und LWS feststellen können. Dauerhafte sensible oder motorische Ausfälle hätten durch die Sachverständigen W1 und S2 nicht objektiviert werden können. Die Einschränkungen im Bereich Nervensystem und Psyche seien mit einem Teil-GdB von 20 hinreichend gewürdigt. Der Kläger nehme wegen einer somatoformen Schmerzstörung und psychovegetativer Begleiterscheinungen keine dauerhafte fachärztliche Behandlung in Anspruch. Der letzte vorliegende Bericht des Interdisziplinären Schmerzzentrums des Universitätsklinikums F2 datiere auf den 25.04.2014. Aus den genannten Teil-GdBs sei ein Gesamt-GdB von 30 zu bilden.
Der Kläger hat gegen den ihm am 13.08.2021 zugestellten Gerichtsbescheid am 07.09.2021 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Er hat zur Berufungsbegründung ausgeführt, seine Schmerzen und Schädigungen seien sämtlich auf den Unfall vom 15.05.2012 zurückzuführen. Er erhalte eine S1-Invaliditätsrente von 30%, was beweise, dass seit 4-5 Jahren eine Verschlechterung stattgefunden habe. Er nehme mit Targin ein starkes Opioid, was man nur tue, wenn man unter starken Schmerzen leide. Die starken Schmerzen seien auch im Bericht des L1krankenhauses vom 12.09.2013 erwähnt worden. Seit dem Unfall habe er täglich starke Schmerzen im Halswirbelbereich und seit vier bis fünf Jahren mehrmals monatlich wiederkehrende stechende brennende Schmerzen im Brustwirbelbereich, die zwischen Stunden und Tagen anhielten. Aufgrund der Schmerzen leide er an massiven Schlafstörungen. Zudem trete ein Brummgeräusch im linken Ohr auf. Er gehe nicht mehr zu Fachärzten, da ihm diese sowieso nicht richtig zuhörten bzw. auch keinen Rat mehr wüssten.
Der Kläger hat zudem einen Bescheid der Invalidenversicherung SVA A1 vom 31.03.2023 vorgelegt. Darin wurde ihm ab 01.07.2019 eine Invalidenrente in Höhe von einem Viertel gewährt.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 11.08.2021 und den Bescheid vom 23.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.05.2020 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, bei ihm einen Grad der Behinderung von mehr als 30 seit dem 15.05.2012 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den GdB mit 30 für zutreffend bewertet.
Der Senat hat eine sachverständige Zeugenauskunft des S3 vom 15.03.2022 mit Ergänzung vom 02.05.2022 und eine ergänzende Stellungnahme des erstinstanzlichen Gutachters W1 vom 08.09.2022 eingeholt.
S3 hat angegeben, dass der Kläger von rechtsseitigen Missempfindungen im Bereich von Kopf, Brustmuskulatur und Schulterblatt mit stechendem Charakter und dauerhaften Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule berichtet habe. Es sei Krankengymnastik und an Schmerzmitteln Targin 20mg 2/d (100 Tbl./Monat) und maximal 4x1g Novaminsulfon verordnet worden. Die Medikation werde seit 2015 dauerhaft eingenommen, weshalb von einer dauerhaften Gesundheitsstörung ausgegangen werden könne. Novalgin 500 mg sei zuletzt mit 200 Tabletten im Monat verschrieben worden, was einer Tagesmenge von 6-7 Tabletten (ca. 3g/d) entspreche. 2014/2015 sei es noch mit 4 Tbl./d verordnet worden, 2015 sei es zur Dosissteigerung auf 200 Tbl./Monat gekommen. Targin sei im Januar 2015 von 5 mg auf 10mg gesteigert und bis 27.02.2018 in der Dosis 2x 10mg tgl. eingenommen worden. Seitdem würden 2x 20mg eingenommen.
W1 hat auch unter Berücksichtigung der aktuellen Medikation an seiner Einschätzung des GdB festgehalten. Am Vorliegen eines chronischen, weitgehend therapieresistenten Schmerzsyndroms gebe es keinen Zweifel. Die Schmerzintensität lasse sich nicht objektivieren und unterliege sehr stark psychologischen Einflüssen. So dürfte sich die langdauernde Auseinandersetzung des Patienten mit seiner Meinung nach unzutreffenden/insuffizienten Begutachtungen ohne definitiven Abschluss der Streitigkeiten negativ auf das Schmerzerleben auswirken und könne längerfristig auch zu einer Steigerung der Opiatdosierungen führen, ohne dass ein progredienter, organischer Krankheitsprozess erkennbar wäre. Neurologische Ausfälle seien zu keinem Zeitpunkt objektiviert bzw. dokumentiert, so dass die Beschwerden unverändert einem Wirbelsäulenschaden in einem Wirbelsäulenabschnitt ohne neurologische Ausfälle mit häufig rezidivierenden und Wochen andauernden, ausgeprägten Wirbelsäulensyndromen gleichzustellen seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber unbegründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist nicht zu beanstanden. Der GdB des Klägers ist mit 30 zutreffend bewertet.
Rechtsgrundlage für die Feststellung des GdB sind §§ 2 Abs. 1, 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Nach § 152 Abs. 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Dabei werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Nach § 153 Abs. 2 SGB IX ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind.
Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 241 Abs. 5 SGB IX, dass, soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) getretene Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, a.a.O.). Nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. d, Doppelbuchst. ee, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.
Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, a.a.O.).
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 30.
Beim Kläger liegen im Wesentlichen Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule mit Einschränkung der Beweglichkeit der HWS sowie ein chronisches Schmerzsyndrom vor. Dies stellt der Senat fest aufgrund der Gutachten von S2 und W1, die entsprechende Befunden erhoben haben, die sich mit den in der Verwaltungsakte befindlichen Befundberichten decken.
S2 hat bei der HWS folgende Bewegungsausmaße gemessen: Inklination/Reklination 30-0-20°, Rechts-/Linksseitneigung 20-0-20°, Rechts-/Linksrotation 40-0-40°. Damit liegt im Vergleich zu den Normalwerten eine deutliche Einschränkung der Beweglichkeit der HWS vor. Bei der Untersuchung der BWS und LWS hat der Gutachter lediglich eine leichte Einschränkung der Beweglichkeit festgestellt (Finger-Boden-Abstand 10 cm, Ott’sches Zeichen 30/33 cm, Schoberzeichen 10/14 cm, Rechts-/Linksseitneigung 30-0-30°).
Nach Teil B Nr. 18.9 VG sind Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) mit einem GdB von 20 zu bewerten. Ein GdB von 30 kommt bei Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) in Betracht. Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten sind mit einem GdB von 30-40 zu bewerten.
Beim Kläger ist, wie S2 festgestellt hat, die Beweglichkeit der HWS eingeschränkt. Die Beweglichkeit der BWS und LWS war bei der Untersuchung durch S2 nur geringfügig eingeschränkt. Dies deckt sich mit den von W1 erhobenen Befunden, der lediglich im Bereich der HWS eine endgradig eingeschränkte Beweglichkeit festgestellt hat. Somit steht für den Senat fest, dass beim Kläger Wirbelsäulenschäden in nur einem Abschnitt, namentlich der HWS vorliegen. Neurologische Ausfälle haben weder bei der gutachterlichen Untersuchung durch S2 noch durch W1 vorgelegen.
Zu der Bewegungseinschränkung hinzu kommt beim Kläger ein chronisches Schmerzsyndrom. In sämtlichen Befundberichten seit dem Unfall wird über starke Schmerzen des Klägers im Bereich der HWS/BWS berichtet, ohne dass sich dafür ein entsprechendes organisches Korrelat fand. Nach Auskunft von S3 ist die Schmerzmedikation seit 2014 von 4 x 500mg Novalgin auf zuletzt 6-7x 500mg Novalgin und von 2 x 5mg Targin auf zuletzt 2 x 20 mg Targin gesteigert worden. W1 hat bei seiner Untersuchung ebenfalls ein chronifiziertes Schmerzsyndrom der paravertebralen Muskulatur der unteren HWS und der oberen BWS rechts sowie des Schultergürtels rechts ohne neurologische und radiologische Befunde festgestellt und ging diagnostisch von einer somatoformen Schmerzstörung aus.
Unter Berücksichtigung der Bewegungseinschränkung der HWS und des chronischen Schmerzsyndroms in diesem Bereich geht der Senat in Übereinstimmung mit den Gutachtern S2 und W1 von Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt aus, die nach Nr. 18.9 VG einen GdB von 30 bedingen. Dabei sind die Schmerzen in der Schwere der funktionellen Auswirkung bereits mitberücksichtigt. Alleine anhand der Bewegungseinschränkung ohne Schmerzen wäre nach den VG lediglich von einem GdB von 20 auszugehen.
Weitere GdB-relevante Erkrankungen liegen nicht vor. Soweit der Kläger einen GdB von 50 begehrt, reicht das Ausmaß der Funktionseinschränkungen für eine solche Feststellung nicht aus. Ein GdB von 50-70 ist nach Nr. 18.9 VG vorgesehen für Wirbelsäulenschäden mit besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z.B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]). Eine solche Auswirkung liegt beim Kläger im Bereich der Wirbelsäule auch unter zusätzlicher Berücksichtigung des chronischen Schmerzsyndroms zur Überzeugung des Senats nicht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 18 SB 2078/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 2890/21
Datum
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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