L 6 AS 44/21

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6.
1. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 44/21
Datum
2. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 25 AS 283/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Ein Erstattungsanspruch nach Aufhebung eines Verwaltungsakts verjährt nur dann erst nach 30 Jahren, wenn ein weiterer Verwaltungsakt zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs während einer bereits laufenden Verjährung dieses Anspruchs bindend wird.

2. § 50 Abs 4 SGB X trifft eine Sonderregelung für die Verjährung des durch Verwaltungsakt festgesetzten Erstattungsanspruchs im Sinne des § 50 Abs 3 SGB X, die der Verjährungsregelung in § 52 Abs 2 SGB X vorgeht.

3. Eine Zahlungsaufforderung, die allein hinsichtlich der Festsetzung der Mahngebühren mit einer Rechtsbehelfsbelehrung verbunden ist, macht das Mahnschreiben nicht insgesamt zu einem Verwaltungsakt iS des § 52 Abs 1 S 1 SGB X.

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 2. März 2021 sowie der Bescheid des Beklagten vom 21. Januar 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 11. Februar 2020 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Forderung des Beklagten auf Erstattung von 28.246, 78 EUR aus dem Bescheid vom 15. März 2012 verjährt ist.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens für beide Instanzen.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Verjährung einer Forderung des Beklagten wegen überzahlten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). 

 

Die im März 1961 geborene Klägerin bildete mit ihrem Sohn eine Bedarfsgemeinschaft und bezog vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie lebte ferner seit dem 30. Januar 2008 gemeinsam mit ihrem Ehemann in einer in der T-Straße 26 in S gelegenen Wohnung, ohne dem Beklagten die Eheschließung vom 30. Januar 2008 und das Zusammenleben in einer gemeinsamen Wohnung mitzuteilen. Mit Bescheiden vom 21. Dezember 2007, 24. Januar 2008, 18. Mai 2008, 2. Juli 2008, 25. Juli 2008, 27. Januar 2009, 7. Juni 2009, 2. Juli 2009, 15. Juni 2009, 22. Januar 2010, 10. Januar 2010, 17. Juli 2010, 19. Januar 2011, 26. März 2011, 20. Mai 2011 und 12. Juli 2011 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen für die Zeit vom 1. Januar 2008 bis 31. August 2011.

Am 29. September 2011 teilte die Klägerin dem Beklagten erstmals mit, dass sich die Zahl der Personen in der Bedarfsgemeinschaft von vormals 2 auf 3 geändert habe und sie am 30. Januar 2008 ihren jetzigen Ehemann geheiratet habe. Der Beklagte forderte daraufhin von der Klägerin diverse Unterlagen zu den Einkünften ihres Ehemannes, der zum damaligen Zeitpunkt einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nachging und Unterstützungsleistungen von seinen Söhnen erhielt, sowie Kontoauszüge von ihr und ihrem Ehemann an.

Mit Bescheid vom 15. März 2012, abgesandt am 16. März 2012, hob der Beklagte nach vorheriger Anhörung der Klägerin seine vorgenannten Bewilligungsentscheidungen für den Zeitraum 1. Januar 2008 bis 31. August 2011 ganz auf und forderte von der Klägerin einschließlich der geleisteten Beiträge zur Kranken – Pflegeversicherung 30.141,40 EUR zurück. Er begründete die Forderung damit, dass die Klägerin mit den nachgewiesenen Einkommensverhältnissen in dem gesamten Zeitraum nicht hilfebedürftig gewesen sei und stützte die Entscheidung auf §§ 40 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, 3 und 4 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X), § 330 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III), § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 335 Abs. 1 SGB III.

Ihren dagegen am 9. Juli 2012 eingelegten Widerspruch, mit dem die Klägerin geltend machte, dass ihr der Bescheid vom 15. März 2012 nicht zugegangen sei und sie die ihr angelastete Täuschung nicht begangen habe, wertete der Beklagte als Antrag nach § 44 SGB X. Mit Bescheid vom 6. August 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. August 2017 lehnte der Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, dass der Bescheid sehr wohl zugegangen sei, was die Nachfrage des Ehemannes der Klägerin vom 16. April 2012 zeige – er hatte gemeinsam mit der Klägerin an diesem Tag bei dem Beklagten vorgesprochen, um leistungsrechtliche Angelegenheiten zu klären und nachgefragt, warum der Bescheid vom 15. März 2012 erlassen worden sei – zeige. Er sei auch materiell - rechtlich nicht zu beanstanden.

Mit Mahnung vom 16. April 2012 wies der Beklagte daraufhin, dass die Forderung noch nicht beglichen sei und erhob Mahngebühren in Höhe von 51,15 EUR. In der Rechtsbehelfsbelehrung hieß es, dass der Widerspruch gegen die Festsetzung der Mahngebühr zulässig sei. Den am 11. Mai 2012 eingelegten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 2012 zurück. Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht Schleswig mit Gerichtsbescheid vom 8. Januar 2014 ab (S 4 AL 86/12). In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: „Der für die Klägerin verspätet erhobene Widerspruch konnte an der zwischenzeitlich eingetretenen Bestandskraft des Verwaltungsaktes vom 15. März 2012 nichts mehr ändern. Dieser war mit einem Abvermerk vom 16. März 2012 versehen und gilt daher am 19. März 2012 als zugestellt. Der Widerspruch dagegen wurde erst außerhalb der Monatsfrist des § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG – nach Angabe des Beklagten, denen die Klägerin nicht widersprochen hat, am 9. Juli 2012, nach dem Inhalt der von der Kammer beigezogen Verwaltungsakte am 11. Juli 2012 – erhoben.“ Die Entscheidung ist rechtskräftig geworden.

Eine weitere mit Rechtsbehelfsbelehrung versehene Mahnung erging mit Schreiben vom 7. Januar 2016, einfache Zahlungserinnerungen mit Schreiben vom 10. Juni 2016, 9. November 2016, 10. April 2017 und 13. September 2017. Auf die Zahlungserinnerung vom 13. September 2017 reagierte die Klägerin und bat mit Schreiben vom 16. September 2017 um Stundung. Auf Nachfrage des Beklagten erklärte sie am 9. November 2017, keinerlei Raten leisten zu können. Mit Bescheid vom 11. Januar 2018 lehnte der Beklagte den Stundungsantrag ab.

Im Januar 2018 behielt der Beklagte einen Betrag in Höhe von 40,90 EUR von der der Klägerin zu gewährenden Leistung ein. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2018 als unzulässig verworfen wurde. Ein Verwaltungsakt liege nicht vor, sie erhalte gesondert Nachricht, worauf die Einbehaltung beruhe und ob sie fortgesetzt werde.

Nach vorheriger Anhörung der Klägerin erließ der Beklagte am 8. März 2018 einen

Aufrechnungsbescheid und rechnete gegen die laufenden Leistungen monatlich

124,80 EUR aus der festgestellten Forderung in Höhe von insgesamt 30.141,40 EUR ab April 2018 auf. Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid keinen Widerspruch ein. Es trat Bestandskraft ein. In der Folgezeit zahlte die Klägerin 2.044,62 EUR an den Beklagten zurück. Die Aufrechnung der Forderung mit dem Leistungsanspruch der Klägerin erfolgte bis zum 31. Dezember 2019. Die tatsächlichen Aufrechnungsraten variierten (zwischen 78,58 € und 124,80 €) aufgrund des unterschiedlichen Leistungsanspruch der Klägerin. Insgesamt verblieb eine Restforderung in Höhe von 28.246,78 EUR.

Mit Zahlungsaufforderung vom 21. Januar 2020 forderte der Beklagte die Klägerin auf, bis zum 7. Februar 2020 einen Betrag in Höhe von 28.246,78 EUR zu zahlen. Die Forderung beziehe sich auf den Bescheid vom 15. März 2012 und eine Restforderung in dieser Höhe.

Gegen die Zahlungsaufforderung vom 21. Januar 2020 legte die Klägerin am 29. Januar 2020 Widerspruch ein und machte geltend, dass die Forderung verjährt sei. Sie erhob ausdrücklich die Einrede der Verjährung.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11. Februar 2020 zurück und führte aus, die Forderung aus dem bestandskräftigen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 15. März 2012 sei weder dem Grunde noch der Höhe nach in Zweifel gezogen worden und damit unstreitig. Die Überzahlung sei in der genannten Höhe eingetreten und gemäß § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten. Die Einrede der Verjährung könne nicht erfolgreich geltend gemacht werden. Die Verjährung einer mit Verwaltungsakt geltend gemachten Forderungen richte sich nach § 52 Abs. 2 SGB X. Hiernach betrage die Verjährungsfrist für unanfechtbar gewordene Verwaltungsakte 30 Jahre. Dies gelte selbst dann, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig sei. Die 30-jährige Frist beginne mit der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes und sei hier noch nicht abgelaufen.

Unterdessen erinnerte der Beklagte mit Schreiben vom 22. Januar 2020 erneut an die Zahlung der Forderung. Den dagegen am 29. Januar 2020 eingelegten Widerspruch der Klägerin verwarf der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 2020 als unzulässig. Bei der Zahlungserinnerung handele es sich nicht um einen Verwaltungsakt.

Die Klägerin hat gegen den ihr am 15. Februar 2020 zugegangenen Widerspruchsbescheid vom 11. Februar 2020 am 16. März 2020 Klage beim Sozialgericht Schleswig erhoben, die mit Beschluss vom 14. April 2020 an das Sozialgericht Lübeck verwiesen worden ist. Sie hat ausgeführt, entgegen der Auffassung des Beklagten gelte im vorliegenden Fall die 4-jährige Verjährungsfrist des § 50 Abs. 4 SGB X. Die Verpflichtung zur Rückzahlung/Erstattung gezahlter Leistung sei mit bestandskräftigem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 15. März 2012 erfolgt. Dieser Bescheid sei am 1. Januar 2017 verjährt gewesen. Nur Verwaltungsakte, die entweder zugleich mit der Festsetzung nach § 50 Abs. 3 Satz 1 SGB X oder aber innerhalb der Vierjahresfrist des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X zur Durchsetzung des festgestellten Erstattungsanspruchs ergingen, setzten nach § 52 Abs. 2 SGB X eine Verjährungsfrist von 30 Jahren – gerechnet ab Rechtskraft des Durchsetzungsbescheides – in Gang. Bis zum 21. Februar 2020 sei aber kein weiterer Durchsetzungsbescheid ergangen. Zur weiteren Begründung hat sie auf einen Beschluss des Landessozialgerichts Berlin – Brandenburg zum Aktenzeichen L 34 AS 2224/18 B ER verwiesen.

 

Die Klägerin hat beantragt,

 

           den Zahlungsaufforderungsbescheid vom 21. Januar 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2020 aufzuheben und festzustellen, dass die Forderung des Beklagten aus dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 15. März 2012 verjährt ist.

 

Der Beklagte hat beantragt, 

die Klage abzuweisen. 

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 2. März 2021 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Feststellungsklage nicht begründet sei. Die Forderung des Beklagten sei nicht verjährt. Es sei zwar umstritten, welche Verjährungsfrist hier einschlägig sei. Nach § 52 Abs. 2 SGB X betrage die Verjährungsfrist 30 Jahre, wenn ein Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen werde, unanfechtbar geworden sei. Nach § 50 Abs. 4 SGB X verjähre der Erstattungsanspruch dagegen in 4 Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der schriftliche Verwaltungsakt unanfechtbar geworden sei. § 52 bleibe unberührt. Die überwiegende Auffassung in der Kommentarliteratur gehe davon aus, dass § 50 Abs. 4 SGB X eine Sonderregelung für die Feststellung des Anspruchs durch Verwaltungsakt treffe. Erst wenn zusätzliche Verwaltungsakte zur Durchsetzung des Anspruchs ergingen, unterfielen diese dem § 52 SGB X. Im vorliegenden Fall bedürfe es aber keiner Entscheidung, welche Verjährungsfrist letztlich greife, da die Klage bereits aus anderen Gründen abzuweisen sei. Erstens habe der Beklagte am 7. Januar 2016 – und damit innerhalb der vierjährigen Verjährungsfrist – eine Mahnung an die Klägerin gesandt und Mahngebühren festgesetzt. Der Beklagte habe damit innerhalb der vierjährigen Verjährungsfrist versucht, die Forderung zu vollstrecken. Die Mahnung vom 7. Januar 2016 stelle einen Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X dar. Zweitens habe die Klägerin gegen den Aufrechnungsbescheid vom 8. März 2018, der mit einer rechtmäßigen Rechtsmittelbelehrung versehen gewesen sei, keinen Widerspruch eingelegt und Zahlungen auf die Forderung des Beklagten in Höhe von 2.044,62 EUR geleistet. § 50 Abs. 4 SGB X verweise auf die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), die sinngemäß Anwendung fänden. Nach § 212 BGB beginne die Verjährung u.a. erneut, wenn eine gerichtliche oder behördliche Vollstreckungshandlung vorgenommen oder beantragt werde.

 

Der Beklagte habe innerhalb der vierjährigen Verjährungsfrist am 7. Januar 2016 eine Vollstreckungshandlung durch seinen Inkasso-Service vornehmen lassen. Außerdem habe die Klägerin Zahlungen an den Beklagten auf der Grundlage des Aufrechnungsbescheides vom 8. März 2018 geleistet. Die Verjährung habe deshalb gemäß § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB im Jahre 2016 bzw. 2018 erneut zu laufen begonnen und sei bei Erlass des Bescheides vom 21. Januar 2020 selbst bei einer 4-jährigen Verjährungsfrist gemäß § 50 Abs. 4 SGB X noch nicht abgelaufen gewesen.

 

Gegen diesen am 4. März 2021 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 26. März 2021 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangene Berufung der Klägerin. Sie macht geltend, ein Neubeginn der Verjährung sei nicht eingetreten. Ein Anerkenntnis im Sinne des § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB liege nicht vor. Eine Zahlung könne nur dann als Anerkenntnis gewertet werden, wenn diese willentlich durch den Schuldner erfolgt sei. Dies sei jedoch gerade nicht der Fall, da sich der Beklagte aufgrund des ihr im Übrigen unbekannten Aufrechnungsbescheids vom 8. März 2018 ohne ihre Kenntnis und ihren Willen selbst befriedigt habe. Sie selbst habe eine Zahlung in Höhe 2.044,62 EUR nie geleistet oder veranlasst. Im Übrigen sei der Aufrechnungsbescheid vom 8. März 2018 auch nicht geeignet, eine neue Verjährungsfrist für eine zu diesem Zeitpunkt bereits verjährte Forderung in Gang zu setzen. Gleiches gelte für die Mahnungen vom 7. Januar 2016, 10. Juni 2016 und 9. November 2016 und Zahlungserinnerungen aus dem Jahr 2017. Eine Mahnung stelle nur einen Verwaltungsakt in Bezug auf darin festgesetzte Mahngebühren, nicht jedoch in Bezug auf die angemahnte Hauptforderung dar. Es liege somit auch unter diesem Aspekt kein Verwaltungsakt im Sinne von § 52 Abs. 2 SGB X vor. Auch ein Neubeginn der Verjährung wegen einer Vollstreckungshandlung gemäß § 212 Abs. 1 Nr. 2 BGB liege nicht vor, da hier Voraussetzung sei, dass der Schuldner Kenntnis von der Vollstreckungshandlung bzw. dem Antrag erlange, was gerade nicht der Fall sei.

 

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid vom 2. März 2021 sowie den Bescheid vom 21. Januar 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2020 aufzuheben und festzustellen, dass die Forderung des Beklagten offen Aufhebung – und Erstattungsbescheid vom 15. März 2012 verjährt ist.

 

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und weist zudem auf den Widerspruchsbescheid vom 14. August 2017 (zum Bescheid vom 6. August 2012) hin, mit dem nochmals auf die Bindungswirkung des bestandskräftigen Aufhebungs – und Erstattungsbescheides vom 15. März 2012 Bezug genommen worden sei. Die Klägerin habe am 9. Januar 2018 nur deshalb Widerspruch eingelegt, weil ihr aufgefallen sei, dass ihr gemäß dem seinerzeit aktuellen Änderungsbescheid ein Betrag in Höhe von 78,58 EUR für den Monat Januar 2018 zugestanden hätte, sie jedoch lediglich einen Betrag von 37,68 EUR gutgeschrieben bekommen habe. In der Sache habe sie die Forderung nicht beanstandet.

 

Nach Erlass des Aufrechnungsbescheides vom 8. März 2018 habe er – der Beklagte – mit einem Betrag in Höhe von 124,80 EUR aufgerechnet. Das Einverständnis der Klägerin mit der Aufrechnung und die sodann erfolgte Aufrechnung stelle ein Anerkenntnis der Forderung dar, mit dem die Verjährungsfrist neu in Gang gesetzt worden sei.

 

Die den Rechtsstreit betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Gerichtsakte haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf ihren Inhalt Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig. Sie ist gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhoben worden sowie nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG statthaft, weil um eine Geldleistung von 28.246,78 EUR gestritten wird.

 

Die Berufung hat auch Erfolg, weil die streitgegenständliche Erstattungsforderung des Beklagten verjährt ist und die Klägerin sich hierauf berufen hat.

 

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist die Zahlungsaufforderung vom 21. Januar 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2020 und in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Erstattungsforderung des Beklagten verjährt ist. Gegen die Zahlungsaufforderung wendet sich die Klägerin mit der Anfechtungsklage, mit der Feststellungsklage begehrt sie die Feststellung der Verjährung der Erstattungsforderung. Beide Klagen sind statthaft und auch im Übrigen zulässig.

 

Bei der Zahlungsaufforderung handelt es sich um einen belastenden Verwaltungsakt des Beklagten. Ob der Beklagte überhaupt dazu ermächtigt war, eine Zahlungsaufforderung in Form eines Verwaltungsaktes zu erlassen, braucht nicht entschieden zu werden. Selbst wenn der Beklagte sich mit der Zahlungsaufforderung unzulässigerweise der Handlungsform eines Verwaltungsaktes bedient hätte, wäre vom Vorliegen eines Verwaltungsaktes (eines sogenannten Formverwaltungsaktes) auszugehen, gegen den die Anfechtungsklage gegeben ist, weil die Klägerin entsprechend beschwert ist (vgl. BSG, Urteil vom 3. April 2003 – B 13 RJ 39/ 02 –, juris).

 

Neben der Anfechtungsklage ist auch die Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Halbsatz 1 Nr. 1 SGG zulässig. Das BSG hat bereits in seinem Urteil vom 9. Februar 1995 (7 RAr 78/93, juris) entschieden, dass ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne dieser Norm auch dann besteht, wenn der Schuldner eines festgesetzten Erstattungsanspruchs einwendet, der Anspruch sei wegen Verjährung nicht mehr durchsetzbar, also nicht mehr verrechnungsfähig bzw. vollstreckbar. Ein berechtigtes Interesse der Klägerin an der Feststellung besteht, weil der Beklagte weiterhin das Bestehen eines unverjährten Anspruchs auf Zahlung der Erstattungsforderung geltend macht. In diesen Fällen ist für die Bejahung eines Rechtsschutzbedürfnisses ausreichend, wenn der Betroffene die Einrede der Verjährung erhebt und sich aus dem Verhalten der Behörde ergibt, dass sie nicht vom Eintritt der Verjährung ausgeht. Dies ist hier der Fall, weil die Klägerin mit ihrem Widerspruch gegen die Zahlungsaufforderung die Einrede der Verjährung erhoben hat und die Beklagte das Vorliegen der Verjährungsvoraussetzung ausdrücklich verneint. Die Feststellungsklage und dabei insbesondere das für die Zulässigkeit einer solchen Klage erforderliche Feststellungsinteresse scheitert hier auch nicht an dem Nachrang der Feststellungsklage gegenüber Gestaltungs- und Leistungsklagen bzw. ihren Sonderformen, nämlich den Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen. Das von der Klägerin erkennbar verfolgte Ziel, nämlich die Einstellung sämtlicher Handlungen seitens des Beklagten zur Beitreibung der Erstattungsforderung, kann sie nicht alleine mit der Anfechtungsklage gegen die Zahlungsaufforderung, sondern nur mit der (umfassenderen) Feststellungsklage erreichen. Ihr geht es nicht darum, lediglich einzelne Zahlungsaufforderungen oder Vollstreckungsmaßnahmen anzugreifen. Vielmehr wendet sie sich gegen die Vollstreckung schlechthin. Statthafter Rechtsbehelf für ein solches Begehren ist die (vorbeugende) Feststellungsklage nach § 55 SGG (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Dezember 2019 – L3 AS 2321/19 –, juris). Das eine Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Halbsatz 1 Nr. 1 SGG in Streitfällen über die Verjährung von Erstattungsforderungen statthaft und auch im Übrigen zulässig ist, hat das BSG zuletzt auch in seinem Urteil vom 4. März 2021 (vgl. B 11 AL 5/20 R, juris) bestätigt.

 

Beide Klagen sind auch begründet. Die Erstattungsforderung des Beklagten aus dem bestandskräftigen Bescheid vom 15. März 2012 ist verjährt. Die Verjährungsfrist lief am 31. Dezember 2016 ab.

 

Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X verjähren nach § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X binnen vier Jahren, beginnend mit Ablauf des Jahres, in dem der Bescheid, der sie feststellt, bestandskräftig (§ 77 SGG) wird (vgl. im Einzelnen LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Juli 2021 – L 1 3714/20 –; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 26. Juni 2020 – L 8 AL 3185/19, bestätigt durch das Urteil des BSG vom 4. März 2021 – B 11 AL 5/20 R –, jeweils juris). § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X bezieht sich auf solche Erstattungen, die nach § 50 Abs. 3 Satz 1 SGB X durch Verwaltungsakt festgesetzt werden. Hierbei handelt es sich auch um Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X, die aus der (rückwirkenden) Aufhebung oder Rücknahme eines Leistungsbescheides folgen. Eine solche Forderung liegt auch hier mit dem Bescheid vom 15. März 2012 vor. Danach war die Klägerin nach der rückwirkenden Aufhebung der Leistungsbewilligungen für die Zeit vom 1. Januar 2008 bis 31. August 2011 verpflichtet, die erhaltenen Grundsicherungsleistungen zurückzuzahlen.

 

Die Verjährung begann am 1. Januar 2013. Dieser Tag war der Beginn des Kalenderjahres nach dem Jahr, in dem der Aufhebungs – und Erstattungsbescheid vom 15. März 2012 bestandskräftig geworden war. Die Klägerin hatte diesen Bescheid, wie sie im Verfahren S 4 AL 86/12 ausdrücklich bestätigt hat, nicht angefochten. Der von ihr gestellte Antrag vom 9. Juli 2012, der von dem Beklagten zu Recht als Überprüfungsantrag gewertet und mit Bescheid vom 6. August 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. August 2017 ablehnend beschieden worden ist, hat die Bestandskraft weder durchbrochen noch aufgeschoben.

 

Die Verjährungsfrist wurde nicht nach § 52 Abs. 2 SGB X auf 30 Jahre verlängert. Das BSG hat in seiner Entscheidung vom 4. März 2021 (B 11 AL 5/20 R, juris) zutreffend entschieden, dass aus der in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGG X enthaltenen Regelung, wonach § 52 SGB X unberührt bleibt, keine von § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X abweichende dreißigjährige Verjährungsfrist folgt. § 52 SGB X findet auf die vorliegende Konstellation eines Erstattungsbescheides, der den Anspruch eines Leistungsträgers auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen erstmals nach § 50 Abs. 3 SGB X festsetzt und damit den Lauf einer Verjährung beginnen lässt, nach dem Wortlaut beider Vorschriften keine Anwendung. Es gilt der Vorrang der Verjährungsregelung in § 50 Abs. 4 SGB X. Diese Norm trifft eine Sonderregelung für die Feststellung des Erstattungsanspruches durch Verwaltungsakt. Erst wenn zusätzliche Verwaltungsakte zur Durchsetzung des Anspruchs ergehen, unterfallen diese aufgrund der Verweisung in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGG X der 30-jährigen Verjährungsfrist in § 52 Abs. 2 SGB X (vgl. auch Baumeister in: Schlegel/Voelzke, juris PK – SGB X, 2. Aufl., § 50 SGB X, Stand: 25.02.2020, Rn. 126 ff.; Merten in: Hauck/Noftz, SGB, 08/16, § 50 SGB X Rn. 95; ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. Dezember 2018 - L 34 AS 2224/18 B ER -; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. September 2018 – L 1 AL 88/17 –, juris; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Juli 2021 – L 1 3714/20 –; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 26. Juni 2020 – L 8 AL 3185/19 –, juris). Für einen Vorrang von § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X spricht zum einen, dass es sich nach Systematik, aber auch nach dem Wortlaut, um die speziellere Vorschrift handelt. Zum anderen verbliebe bei einem anderen Verständnis die Regelung in § 50 Abs. 4 SGB X ohne jeden Anwendungsbereich, da ein Erstattungsbescheid im Sinne des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X zugleich auch die Voraussetzung des § 52 Abs. 1 Satz 1 SGG X erfüllt und somit die vierjährige Verjährungsfrist nie zur Anwendung käme. Dies beruht nicht auf einem Redaktionsversehen (vgl. im Einzelnen LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. Dezember 2018 - L 34 AS 2224/18 B ER -, juris). Vielmehr hat der Gesetzgeber den Behörden über die Verweisung in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X auf    § 52 Abs. 2 SGB X auch für Erstattungsansprüche die Möglichkeit eingeräumt, sich selbständig zu einer längeren Verjährungsfrist zu verhelfen, indem sie einen Verwaltungsakt zur Durchsetzung im Sinne von § 52 Abs. 1 SGG X erlassen (vgl. dazu ausführlich BSG, Urteil vom 4. März 2021 – B 11 AL 5/20 R –, juris).

 

Ein weiterer Bescheid im Sinne des § 52 Abs. 1 SGB X zur „Durchsetzung“ des Erstattungsanspruches gegen die Klägerin ist nicht ergangen. Während der gesamten laufenden Verjährungsfrist finden sich in der Verwaltungsakte des Beklagten nur interne Vermerke, wonach eine Vollstreckung beabsichtigt sei, tatsächlich vollstreckt wurde nicht. Die Mahnungsschreiben vom 16. April 2012 und vom 7. Januar 2016 sowie die mit einfachen ohne Rechtsbehelfsbelehrung ergangenen Zahlungserinnerungen vom 10. Juni 2016, 9. November 2016, 10. April 2017 und 13. September 2017 stellen weder nach ihrem äußeren Erscheinungsbild noch nach ihrem Inhalt Verwaltungsakte zur Durchsetzung der Erstattungsforderung dar (vgl. zu derartigen Mahnschreiben LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2020 – L 8 AL 3185/19 –; bestätigt durch das Urteil des BSG vom 4. März 2021, a.a.O.). Zur Auslösung der 30-jährigen Verjährungsfrist des § 52 Abs. 2 SGB X wäre z.B. ein Pfändungsbescheid oder ein Aufrechnungsbescheid nötig gewesen, wie er am 8. März 2018 gegenüber der Klägerin ergangen ist. Dieser Bescheid lag aber außerhalb der 4-jährigen Verjährungsfrist und ist mithin nicht in unverjährter Zeit zugegangen. Eine bereits abgelaufene Verjährungsfrist kann aber nicht mehr gehemmt werden, neu beginnen oder durch eine neue, längere Verjährungsfrist ersetzt werden. Das BSG hat in seiner Entscheidung vom 4. März 2021 in diesem Zusammenhang ausdrücklich festgestellt, dass der Erstattungsanspruch nach Aufhebung eines Verwaltungsaktes nur dann erst nach 30 Jahren verjährt, wenn ein weiterer Verwaltungsakt zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs während einer bereits laufenden Verjährung bindend wird. Dies ist hier nicht der Fall.

 

Auch der Antrag der Klägerin auf Stundung vom 16. September 2017 führt nicht zu einer verlängerten Verjährungsfrist. Zwar stellt die Bitte um Stundung bzw. Erlass regelmäßig eine Anerkenntnishandlung im Sinne des § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB dar. Nach dieser Vorschrift führt das Anerkenntnis des Anspruchs dazu, dass die Verjährung erneut beginnt, wobei Anerkennen auch konkludente Handlungen umfasst, die darauf schließen lassen, dass der Schuldner weiß, dass die Forderung besteht und er ihre Berechtigung nicht infrage stellt. Voraussetzung einer Hemmung durch ein Anerkennen ist aber auch hier, dass die Anerkenntnishandlung vor Ablauf der Verjährung erfolgt, was nicht der Fall ist (Segebrecht in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl, § 25 SGB IV ,Stand: 22.10.2020, Rn. 64). Erfolgt die Anerkenntnishandlung dagegen erst nach Ablauf der Verjährung, kann darin ein Verzicht auf die Einrede der Verjährung gesehen werden. Dabei muss der Verzicht aber von einem entsprechenden Willen getragen sein. Notwendig ist dazu regelmäßig, dass der Schuldner bei seiner Erklärung von der eingetretenen Verjährung Kenntnis hat oder doch mit dieser Möglichkeit rechnet (Herrler in: Staudinger/Peters/Jacoby (2019) BGB § 214, Rn. 32 m.w.N.). Anhaltspunkte für eine derartige Kenntnis der Klägerin vom Eintritt der Verjährung am 31. Dezember 2016 liegen hier aber nicht vor.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), bestehen nicht. Durch die Entscheidung des BSG vom 4. März 2021 ist die Rechtslage hinsichtlich der Verjährung von Erstattungsforderungen nach § 50 SGB X geklärt.

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Aus
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