L 37 SF 196/20 EK AS

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungsklage bei überlanger Verfahrensdauer
Abteilung
37
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 37 SF 196/20 EK AS
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren steht dem Landessozialgericht eine Vorbereitungs-und Bedenkzeit von in der Regel sechs Monaten zu (Fortführung der Rechtsprechung des Senats vom 25.02.2016 - L 37 SF 128/14 EK AL - juris Rn. 59).

2. Eine instanzübergreifende Konsumtion von Vorbereitungs- und Bedenkzeiten (hier in Form der Aufzehrung der dem Landessozialgericht zugewiesenen Vorbereitungs- und Bedenkzeiten durch das Sozialgericht) findet nicht statt.

Für die erstmalige vorprozessuale Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs wegen überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens gegenüber dem haftungspflichtigen Land ist die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe in der Regel nicht erforderlich und gehören die durch die gleichwohl erfolgte Beauftragung eines Rechtsanwalts entstandenen Aufwendungen dementsprechend nicht zu den notwendigen Rechtsverfolgungskosten (Fortführung der Rechtsprechung des Senats vom 09.06.2021 - L 37 SF 271/19 EK AS - juris Rn. 61 ff.). 

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin wegen unangemessener Dauer des vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg unter dem Aktenzeichen L 31 AS 1011/18 NZB geführten Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens eine Entschädigung in Höhe von 800,- € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 04.09.2021 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 

Die Beteiligten haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt Entschädigung wegen unangemessener Dauer des vor dem Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg unter dem Aktenzeichen (Az.) L 31 AS 1011/18 NZB geführten Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens.

 

In dem Ausgangsverfahren begehrte die Klägerin vom Jobcenter Landeshauptstadt Potsdam (im Folgenden: JC) im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für den Zeitraum von August 2013 bis Januar 2014 unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung in Höhe von monatlich 76,40 € (August bis Dezember 2013) bzw. 78,20 € (Januar 2014). Außerdem verlangte sie – für denselben Zeitraum – die Erstattung von Kosten in Höhe von insgesamt 53,10 €, die ihr durch die Auszahlung der SGB II-Leistungen mittels Schecks entstanden waren.

 

Zwischen den Beteiligten des Ausgangsverfahrens waren diverse weitere Rechtsstreitigkeiten anhängig, u. a. stand in einem Berufungsverfahren vor dem LSG Berlin-Brandenburg ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung im Zeitraum von Februar 2014 bis Januar 2015 im Streit (Az.: L 1 AS 1010/18, ursprünglich: L 31 AS 1010/18; Vorinstanz: Sozialgericht Potsdam, Az.: S 49 AS 869/16). In einem weiteren Verfahren wurde um einen Mehrbedarf im Zeitraum von Februar bis Juni 2015 gestritten (Az.: S 49 AS 531/16, mit anschließendem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unter dem Az. L 31 AS 1009/18 NZB).

 

Dem hiesigen Ausgangsverfahren lag im Einzelnen folgender Sachverhalt zugrunde:

 

09.04.2015

Eingang der Klageschrift – ohne Klagebegründung – nebst Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) – ohne Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse – sowie Antrag auf Akteneinsicht beim Sozialgericht (SG) Potsdam

04.05.2015

  • Registrierung der Klage unter dem Az. S 21 AS 707/15
  • Eingangsbestätigung nebst Aufforderung zur Klagebegründung binnen 4 Wochen nach Akteneinsicht
  • Weiterleitung der Klageschrift an JC „vorab zur Kenntnis“
  • Übersendung von Band III der Verwaltungsakten an JC mit der Bitte um Aktualisierung ab Blatt 455 binnen 4 Wochen
  • Interne Wiedervorlage (Wv): 6 Wochen

06.05.2015

Abgabe des Verfahrens an die 47. Kammer gemäß Präsidiumsbeschluss 02/2015; neues Az.: S 47 AS 707/15

13.05.2015

Eingang der (weitgehend unausgefüllten) Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin

10.07.2015

Eingang der vom JC übersandten Verwaltungsakten (Band I und III)

13.07.2015

Weiterleitung dieser und zwei weiterer Bände Verwaltungsakten an die damaligen Prozessbevollmächtigten (Proz.-Bev.) der Klägerin zwecks Akteneinsicht

24.07.2015

Rückgabe der Verwaltungsakten durch die damaligen Proz.-Bev. an das SG

25.08.2015

  • Erinnerung an Klagebegründung
  • Interne Wv: 4 Wochen

23.09.2015

Verfügung in das „ET-Fach“ (Erörterungstermins-Fach)

01.05.2016

Abgabe des Verfahrens an die 49. Kammer gemäß Präsidiumsbeschluss 04/2016; neues Az.: S 49 AS 707/15

25.10.2016

  • Ladung zum Erörterungstermin auf den 16.12.2016
  • Nochmalige Aufforderung zur Klagebegründung (Frist: 2 Wochen) sowie Aufforderung zur Übersendung von Unterlagen und Beantwortung von Fragen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin wegen der anstehenden Entscheidung über den PKH-Antrag (Frist: 4 Wochen)

07.11.2016

Telefonischer Antrag der Klägerin auf Einsicht in die Gerichtsakte

14.11.2016

Einsichtnahme in die Gerichtsakten durch Klägerin persönlich in den Räumlichkeiten des SG

21.11.2016

Eingang der Mitteilung der damaligen Proz.-Bev. der Klägerin vom selben Tag, dass das Mandat niedergelegt worden sei

23.11.2016

Eingang des Schriftsatzes der neuen Proz.-Bev. der Klägerin (identisch mit den Proz.-Bev. des Entschädigungsverfahrens) vom selben Tag mit Anzeige der Vertretung, Antrag auf Akteneinsicht in die Gerichts- und Verwaltungsakten sowie erneutem PKH-Antrag; beigefügt: Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (nunmehr ausgefüllt)

29.11.2016

Übersendung von Band II der Verwaltungsakten an Proz.-Bev. der Klägerin nebst Hinweis, dass sich der aktuelle Band der Verwaltungsakten derzeit beim JC befinde und dass Einsicht in die Gerichtsakte vor Ort nach Absprache mit der Geschäftsstelle genommen werden könne

06.12.2016

  • Einsichtnahme in die Gerichtsakten durch Proz.-Bev. der Klägerin in den Räumlichkeiten des SG
  • Rückgabe von Band II der Verwaltungsakten
  • Ankündigung, dass Klagebegründung voraussichtlich bis zum 13.12.2016 erfolgen werde

13.12.2016

Verlegung des Erörterungstermins vom 16.12.2016 auf den 13.01.2017; Grund: Erkrankung der Kammervorsitzenden

13.01.2017

Durchführung des Erörterungstermins:

  • Überreichung von Abschriften der streitbefangenen Bescheide durch Vertreterin des JC
  • Hinweis der Proz.-Bev. der Klägerin, dass Klagebegründung „aufgrund Fehlen des Bescheides“ noch nicht möglich gewesen sei
  • Aufforderung zur Klagebegründung innerhalb von 4 Wochen ab Zugang des Protokolls
  • Abgabe einer Erklärung der Klägerin unter Bezugnahme auf das Verfahren S 49 AS 869/16: Einverständnis mit Beiziehung eines Gutachtens der Bundesagentur für Arbeit und Verwertung dieses Gutachtens „hier in dem Verfahren und in weiteren Verfahren“

20.01.2017

Übersendung des Protokolls an Beteiligte

22.02.2017

Eingang des Schriftsatzes der Proz.-Bev. der Klägerin vom Vortag; Bitte um Gewährung von Akteneinsicht in die fehlenden Bände der Verwaltungsakten

27.02.2017

Übersendung von Band III der Verwaltungsakten an Proz.-Bev. der Klägerin zum Zwecke der Akteneinsichtnahme

13.03.2017

Rückgabe von Band III der Verwaltungsakten an das SG

04.07.2017

(richterliche Verfügung vom 17.05.2017)

Erinnerung an Klagebegründung (Frist: 3 Wochen)

25.08.2017

Abermalige Erinnerung an Klagebegründung (Frist: 3 Wochen)

25.09.2017

Eingang des Schriftsatzes der Proz.-Bev. der Klägerin vom 21.09.2017 mit mehrseitiger Klagebegründung

16.11.2017

(richterliche Verfügung vom 26.09.2017)

Weiterleitung an JC zur Stellungnahme binnen 6 Wochen

11.01.2018

Erinnerung an die erbetene Klageerwiderung (Frist: 2 Wochen)

05.02.2018

  • Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 28.03.2018
  • Abermalige Erinnerung an Klageerwiderung

20.03.2018

Eingang der Klageerwiderung vom Vortag

26.03.2018

Beschluss: Bewilligung von PKH

28.03.2018

  • Beiziehung der im Verfahren S 49 AS 869/16 eingeholten medizinischen Unterlagen
  • Durchführung der mündlichen Verhandlung und Verkündung des Urteils (Klageabweisung, keine Zulassung der Berufung) 

09.

bzw.  15.05.2018

Zustellung des Urteils an Beteiligte

07.06.2018

Eingang der Nichtzulassungsbeschwerde – ohne Begründung

13.06.2018

  • Registrierung der Nichtzulassungsbeschwerde unter dem Az. L 31 AS 1011/18 NZB
  • Eingangsbestätigung nebst Aufforderung zur Beschwerdebegründung binnen 4 Wochen
  • Weiterleitung der Beschwerdeschrift an JC zur Kenntnisnahme
  • Interne Wv: 6 Wochen

22.06.2018

Eingang der Gerichtsakten des SG sowie der Verwaltungsakten des JC

04.07.2018

Eingang des Antrags auf PKH

13.07.2018

Eingang der 33-seitigen Beschwerdebegründung vom 11.07.2018; Vortrag: Die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung; zudem liege ein Verfahrensfehler vor, weil das SG den Grundsatz der freien Beweiswürdigung verletzt habe.

23.07.2018

Weiterleitung an JC zur Stellungnahme

27.07.2018

Eingang der Beschwerdeerwiderung des JC vom Vortag

09.08.2018

Weiterleitung an Proz.-Bev. der Klägerin zur freigestellten Stellungnahme

22.08.2018

Eingang des mehrseitigen Schriftsatzes der Proz.-Bev. der Klägerin vom Vortag mit weiteren Ausführungen

29.08.2018

Weiterleitung an JC zur Stellungnahme

21.09.2018

Erinnerung an erbetene Stellungnahme, Frist 2 Wochen

02.10.2018

Eingang des Schriftsatzes des JC vom 27.09.2018 mit Hinweis, dass die von der Klägerin erneut vorgetragene Rechtsansicht nicht geteilt werde

17.10.2018

  • Weiterleitung an Proz.-Bev. der Klägerin zur Kenntnisnahme
  • Interne Wv: 19.11.2018 „mit Parallelakten“

20.11.2018

Vorlage der Akte nach Fristablauf

In L 31 AS 1009/18 NZB: 14.06.2019

Eingang des Schriftsatzes des JC vom selben Tag; Bitte um Übersendung der Verwaltungsakten, da man dort entsprechend einer Aufforderung des SG Aktenkopien anfertigen und diese an das SG übersenden müsse wegen der dort noch laufenden anderen Verfahren

In L 31 AS 1009/18 NZB: 08.07.2019

  • Übersendung der Verwaltungsakten (2 Bände) an JC
  • Interne Wv: 02.09.2019

08.07.2019

Verfügung: Wv 02.09.2019 „(siehe AS 1009/18 NZB / Bl. 118 R)“

In L 31 AS 1009/18 NZB: 12.07.2019

Rückgabe der beiden Bände der Verwaltungsakten an das LSG

In L 31 AS 1010/18: 12.08.2019

Beweisanordnung: Beauftragung der Fachärztin für Innere Medizin und Gastroenterologie Prof. Dr. S mit der Erstellung eines Gutachtens zu den bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen und dem Erfordernis einer besonderen Ernährung

12.08.2019

Verfügung: Wv „mit L 31 AS 1010/18“ zur dortigen Frist (= 14.12.2019)

02.10.2019

Eingang der Verzögerungsrüge der Klägerin vom selben Tag

In L 31 AS 1010/18: 05.12.2019

Eingang des Gutachtens von Prof. Dr. S / Dr. S vom 27.11.2019, anschließend Beiziehung dieses Gutachtens zum Ausgangsverfahren

05.03.2020

Beschluss: Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde sowie Ablehnung des Antrags auf PKH

11.

bzw. 12.03.2020

Zustellung des Beschlusses an die Beteiligten

 

Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 27.04.2020 forderte die Klägerin den Beklagten zur Zahlung einer Entschädigung wegen überlanger Dauer des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens auf.

 

Der Beklagte lehnte dies ab (Schreiben vom 14.05.2020). Er führte aus, dass im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren keine entschädigungspflichtige Verzögerung eingetreten sei. Es könne offen bleiben, ob das Ausgangsgericht in dem Zeitraum von „August 2018 bis Februar 2020“ tatsächlich untätig gewesen sei oder ob es in zulässiger Weise das im Parallelverfahren der Klägerin (Az.: L 31 AS 1010/18) eingeholte medizinische Gutachten hinsichtlich eines ernährungsbedingten Mehrbedarfs habe abwarten dürfen. Selbst bei Unterstellung einer 16-monatigen gerichtlichen Inaktivität wäre nicht von einer überlangen Verfahrensdauer auszugehen, da Kompensationsmöglichkeiten unter Berücksichtigung der in der ersten Instanz nicht verbrauchten Vorbereitungs- und Bedenkzeiten bestünden. In dem erstinstanzlichen Verfahren vor dem SG Potsdam sei es zu keinen Liegezeiten gekommen. Obwohl die Klage bereits im April 2015 erhoben worden sei, sei die Klagebegründung erst im September 2017 nach zahlreichen gerichtlichen Erinnerungen und der Anberaumung eines Erörterungstermins eingegangen. Auch im Anschluss sei das Ausgangsverfahren durchgehend gefördert und sodann mit Urteil vom 28.03.2018 beendet worden. Die aus dem erstinstanzlichen Verfahren nicht verbrauchten 12 Kalendermonate an Vorbereitungs- und Bedenkzeiten seien vollumfänglich auf das zweitinstanzliche Beschwerdeverfahren zu übertragen. Insgesamt seien daher von – lediglich unterstellten – 16 Verzögerungsmonaten 18 Monate Vorbereitungs- und Bedenkzeiten (12 erst- und 6 zweitinstanzlich) für das streitgegenständliche Beschwerdeverfahren abzuziehen, sodass keine entschädigungspflichtigen Kalendermonate übrig blieben.

 

Am 14.08.2020 hat die Klägerin ihre Entschädigungsklage beim LSG eingereicht, mit der sie Entschädigung wegen eines immateriellen Nachteils sowie wegen eines Vermögensnachteils (Ersatz der durch die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs entstandenen Rechtsanwaltskosten) begehrt. Die Klage ist dem Beklagten am 03.09.2021 zugestellt worden.

 

Die Klägerin trägt zur Begründung ihrer Klage vor, dass es im streitgegenständlichen Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren zu einer Verzögerung von November 2018 bis Februar 2020 (16 Kalendermonate) gekommen sei, die in vollem Umfang entschädigungspflichtig sei. Deshalb sei ihr allein wegen des erlittenen immateriellen Nachteils eine Entschädigung in Höhe von 1.600,- € zu zahlen. Von den im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren aufgetretenen Inaktivitätszeiten sei keine Vorbereitungs- und Bedenkzeit abzuziehen, denn das SG habe (erstinstanzlich) nicht nur die ihm für das Klageverfahren zuzugestehenden 12 Monate Vorbereitungs- und Bedenkzeit aufgebraucht, sondern darüber hinaus bereits die weiteren 6 Monate, die an sich für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren zur Verfügung gestanden hätten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des LSG Berlin-Brandenburg könnten Verzögerungen in einer Instanz durch eine besonders zügige Bearbeitung in einer anderen Instanz ausgeglichen und die in einer Instanz nicht verbrauchte Vorbereitungs- und Bedenkzeit der anderen Instanz „gutgeschrieben“ werden. Aus der dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden Prämisse folge denklogisch, dass, wenn eine Instanz mehr als die ihr rein rechnerisch zustehenden 12 Monate Vorbereitungs- und Bedenkzeit verbrauche, dies von der den anderen Instanzen verbleibenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit abzuziehen sei. Dies müsse auch dann gelten, wenn eine Entschädigung nur für Verzögerungen in einer Instanz verlangt werde. Es sei nicht einsehbar, warum sich der Verbrauch der Vorbereitungs- und Bedenkzeit immer nur zu Gunsten des beklagten Landes, niemals aber zugunsten eines Entschädigungsklägers auf die der Folgeinstanz verbleibende Vorbereitungs- und Bedenkzeit auswirken könne, zumal Ausgangspunkt für die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer stets die in § 198 Abs. 6 Nr. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss sein müsse. Im erstinstanzlichen Verfahren seien insgesamt 18 Monate Inaktivitätszeiten zu verzeichnen, nämlich von September 2015 bis September 2016, von Mai bis Juni 2017 sowie von November 2017 bis Januar 2018. Der Annahme einer gerichtlichen Inaktivität von September 2015 bis September 2016 sowie von Mai bis Juni 2017 stehe nicht entgegen, dass das SG auf die Klagebegründung gewartet habe. Denn aus der Pflicht der Gerichte, für einen zügigen Verfahrensfortgang zu sorgen, folge auch, dass die Gerichte alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel der Prozessordnung ausschöpfen müssten, um das Verfahren fortzuführen und zum Abschluss bringen zu können. Hinzu komme, dass im sozialgerichtlichen Verfahren eine Klage nicht begründet werden müsse. Bleibe die Klagebegründung oder die Stellungnahme zur Klage aus, sei die jeweilige Partei unter Fristsetzung zu erinnern oder das Verfahren ohne Klagebegründung oder Stellungnahme fortzuführen. Das SG sei jedoch einfach untätig geblieben. Auch die Zeit von November 2017 bis Januar 2018 sei als Inaktivitätszeit zu werten, da das SG bereits im Oktober 2017 die mündliche Verhandlung für November 2017 hätte anberaumen können; auf eine Stellungnahme des JC sei es nicht mehr angekommen.

 

Neben dem immateriellen Nachteil seien auch die Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs zu ersetzen. Sowohl die Ausführungen im Regierungsentwurf zu einem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (BT-Drucks. 17/3802, S. 19) als auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) und des Bundesgerichtshofs (BGH) implizierten, dass die Beauftragung eines Rechtsanwalts zur außergerichtlichen Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs grundsätzlich notwendig sei. Soweit sich der erkennende Senat in seinem Urteil vom 09.06.2021 (Az.: L 37 SF 271/19 EK AS) zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung auf die Entscheidung des BGH vom 11.07.2017 (Az.: VI ZR 90/17) berufe, sei zu beachten, dass es erhebliche Unterschiede zwischen einer ersten Kontaktaufnahme mit der eigenen Kaskoversicherung nach einem Unfall und der außergerichtlichen Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs nach § 198 GVG gebe. Während es keiner besonderen Rechtskenntnisse bedürfe, um zu wissen, dass der eigene Kaskoversicherer zur Schadensregulierung verpflichtet sei, sei es im Recht über die Entschädigung wegen unangemessen langer Verfahrensdauer ohne die Kenntnis der gesetzlichen Regelungen und der insbesondere zwischen den Gerichtsbarkeiten stark divergierenden Rechtsprechung nicht ohne weiteres möglich zu erkennen, ob das Verfahren unangemessen lange gedauert habe und ob auch die sonstigen Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch gegeben seien. Daher sei es durchaus sinnvoll, wenn bereits vor Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs eine Sach- und Rechtsprüfung stattfinde, zu der aber ein „Rechtskundiger“ (gemeint: Rechtsunkundiger) nicht in der Lage sei. Der außergerichtlichen Zahlungsaufforderung müssten sich der zu zahlende Betrag und der Grund für die Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs schlüssig entnehmen lassen; auf eine unschlüssige Zahlungsaufforderung müsse niemand reagieren. Es gebe auch keine Regel, wonach die Einreichung der außergerichtlichen Zahlungsaufforderung beim Ausgangsgericht genüge; § 16 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) finde insoweit keine Anwendung. Insofern gebe es auch keine Pflicht des Ausgangsgerichts, eine Zahlungsaufforderung an die zuständige Stelle weiterzuleiten. Solange die zuständige Stelle aber keine Kenntnis von der Zahlungsaufforderung erlange, könne sie im Falle der Erhebung einer Entschädigungsklage immer noch mit einem sofortigen Anerkenntnis reagieren.

 

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

 

  1. festzustellen, dass das vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg unter dem Aktenzeichen L 31 AS 1011/18 NZB geführte Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren eine unangemessene Dauer aufgewiesen hat,

 

  1. den Beklagten zu verurteilen, ihr wegen unangemessener Dauer des vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg unter dem Aktenzeichen L 31 AS 1011/18 NZB geführten Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens eine Entschädigung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit,

 

  1. den Beklagten zu verurteilen, an sie die ihr durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts zur außergerichtlichen Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs entstandenen Kosten in Höhe von 147,56 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem „01.07.2020“ zu zahlen.

 

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Er verweist auf die Ausführungen in seinem Schreiben vom 14.05.2020.

 

Die Beteiligten haben sich unter dem 01.09.2022 (Beklagter) bzw. dem 21.09.2022 (Klägerin) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakte, der Akten des Ausgangsverfahrens sowie der Gerichtsakten zu den Aktenzeichen L 1 AS 1010/18 (ursprünglich: L 31 AS 1010/18; Vorinstanz: SG Potsdam: S 49 AS 869/16) und L 31 AS 1009/18 NZB (Vorinstanz: SG Potsdam: S 49 AS 531/16) verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat konnte über die Entschädigungsklage gemäß § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG i. V. m. §§ 202 Satz 2, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben. Maßgebend für die Beurteilung des Begehrens der Klägerin ist § 202 Satz 2 SGG i. V. m. §§ 198 ff. GVG, da um eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens gestritten wird. 

 

I. Streitgegenstand des Entschädigungsklageverfahrens sind die von der Klägerin erhobenen Ansprüche wegen überlanger Dauer des unter dem Aktenzeichen L 31 AS 1011/18 NZB geführten Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens. Die von ihr im Rahmen ihrer Dispositionsbefugnis (vgl. § 123 SGG) vorgenommene Begrenzung der Entschädigungsklage auf den Ausgleich des ihr infolge der Dauer des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens entstandenen Nachteils ist prozessrechtlich zulässig. Das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren stellt entschädigungsrechtlich einen abtrennbaren Teil eines über mehrere Instanzen geführten Gerichtsverfahrens im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG dar (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2020 – B 10 ÜG 4/19 R – juris Rn. 11 m. w. N.).

 

II. Die Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist teilweise begründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten wegen des erlittenen immateriellen Nachteils einen Anspruch auf eine Geldentschädigung in Höhe von 800,- €. Ein weitergehender Anspruch steht der Klägerin indes nicht zu, und zwar weder unter dem Gesichtspunkt eines immateriellen Nachteils noch wegen eines Vermögensnachteils in Form von Rechtsanwaltskosten für die vorprozessuale Rechtsverfolgung.

 

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 SGG). Eine Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG nur dann, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird (§ 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG).

 

Die Klägerin hat bezogen auf das streitgegenständliche Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren eine wirksame Verzögerungsrüge erhoben (dazu unter 1.). Die Dauer des Verfahrens war im Umfang von 8 Monaten unangemessen (dazu unter 2.). Wegen des erlittenen immateriellen Nachteils steht der Klägerin eine Geldentschädigung in Höhe von 800,- € zu (dazu unter 3.), die ab dem 04.09.2021 in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zu verzinsen ist (dazu unter 4.). Hinsichtlich des geltend gemachten Vermögensnachteils (Rechtsanwaltskosten für die vorprozessuale Rechtsverfolgung) besteht demgegenüber kein Entschädigungsanspruch (dazu unter 5).

 

1. Die Klägerin hat die Dauer des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens wirksam gerügt. Zum Zeitpunkt der Einreichung der Verzögerungsrüge beim LSG (Oktober 2019) lag bereits eine Rügesituation im Sinne von § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG vor. Es bestand aus Sicht eines vernünftigen Rügeführers (vgl. hierzu LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.04.2023 – L 37 SF 127/20 EK AS – juris Rn. 46) durchaus Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden würde. Die Nichtzulassungsbeschwerde war bereits seit rund 16 Monaten anhängig. Nach Wiedervorlage der Gerichtsakte beim zuständigen Berichterstatter am 20.11.2018 war es bis zur Erhebung der Verzögerungsrüge im Oktober 2019 im Verfahren selbst zu keiner nennenswerten gerichtlichen Aktivität gekommen. Ob – gerade auch mit Blick auf die Abläufe in den Parallelverfahren – das Zuwarten des Ausgangsgerichts letztlich als sachlich gerechtfertigt anzusehen ist (dazu näher unten), spielt an dieser Stelle keine Rolle. Die eine Rügesituation im Sinne von § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG begründende „Besorgnis“ erfordert nicht, dass eine entschädigungsrelevante Verzögerung bereits eingetreten ist (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 20; vgl. ferner BFH, Urteil vom 17.06.2014 – X K 7/13 – juris Rn. 53). Es genügt, wenn der Betroffene erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2020 – B 10 ÜG 4/19 R – juris Rn. 44; BGH, Urteil vom 26.11.2020 – III ZR 61/20 – juris Rn. 21). Dies war hier der Fall.

 

2. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

 

a) Den Ausgangspunkt der Angemessenheitsprüfung bildet die in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von seiner Einleitung bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss. Das Ausgangsverfahren wurde mit der Erhebung der Klage beim SG im April 2015 eingeleitet und fand seinen Abschluss mit der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch Beschluss des LSG im März 2020. Es erstreckte sich mithin über einen Zeitraum von 4 Jahren und rund 11 Monaten. Allerdings hat die Klägerin, wie bereits ausgeführt, die Entschädigungsklage zulässig auf den Ausgleich des ihr infolge der Dauer des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens entstandenen Nachteils begrenzt. Das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren dauerte von Juni 2018 bis März 2020 an, also 1 Jahr und rund 9 Monate. 

 

b) Das Verfahren wies eine durchschnittliche Bedeutung sowie eine durchschnittliche Schwierigkeit und Komplexität auf.

 

Die Bedeutung des Verfahrens ergibt sich zum einen aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten, zum anderen maßgeblich aus dem Interesse der Betroffenen gerade an einer raschen Entscheidung (BSG, Urteil vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R – juris Rn. 23). Die Klägerin begehrte im Ausgangsverfahren die Gewährung höherer Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum von August 2013 bis Januar 2014 unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung in Höhe von monatlich 76,40 € (August bis Dezember 2013) bzw. 78,20 € (Januar 2014). Außerdem verlangte sie – für denselben Zeitraum – die Erstattung von Kosten in Höhe von insgesamt 53,10 €, die ihr durch die Auszahlung der SGB II-Leistungen mittels Schecks entstanden waren. Durch die von ihr eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde wollte die Klägerin erreichen, dass – nach Zulassung der Berufung – über eben diesen Streitgegenstand in zweiter Instanz in der Sache entschieden wird. Auch wenn existenzsichernde Leistungen regelmäßig überdurchschnittliche Bedeutung für ihren Empfänger haben (vgl. BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/14 – juris Rn. 39), vermag der Senat dem streitgegenständlichen Ausgangsverfahren keine mehr als durchschnittliche Bedeutung beizumessen. Vorliegend ging es nicht um die Frage, ob der Klägerin überhaupt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zustehen. Vielmehr standen lediglich ein Mehrbedarf sowie mit der Auszahlung der Leistungen verbundene Kosten im Streit. Durch Zeitablauf drohten der Klägerin keine weitergehenden Nachteile, denn der Bewilligungszeitraum war schon zum Zeitpunkt der Klageerhebung – und dementsprechend erst recht bei Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde – längst abgelaufen. Das Verfahren war durchschnittlich schwierig und komplex.

 

c) Über die in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausdrücklich genannten Kriterien hinaus hängt die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer wesentlich davon ab, ob dem Staat zurechenbare Verhaltensweisen des Gerichts zur Überlänge des Verfahrens geführt haben. Maßgeblich sind Verzögerungen, also sachlich nicht gerechtfertigte Zeiten des Verfahrens, insbesondere aufgrund von Untätigkeit des Gerichts (ständige Rechtsprechung, siehe z. B. BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R und B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 34 bzw. Rn. 41, vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 7/14 R – Rn. 35 und vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – Rn. 38, jeweils zitiert nach juris). Für die Beurteilung, ob eine überlange Verfahrensdauer vorliegt, sind daher die aktiven Bearbeitungszeiten den Phasen der Inaktivität gegenüberzustellen, wobei kleinste relevante Zeiteinheit zur Berechnung der Überlänge stets der Monat im Sinne des Kalendermonats ist (BSG, Urteile vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R – Rn. 34 und 07.09.2017 – B 10 ÜG 3/16 R – Rn. 24, jeweils zitiert nach juris).

 

Zu beachten ist dabei, dass das Entschädigungsverfahren keine weitere Instanz eröffnet, um das Handeln des Ausgangsgerichts einer rechtlichen Vollkontrolle zu unterziehen. Bei der Beurteilung der Prozessleitung des Ausgangsgerichts hat das Entschädigungsgericht vielmehr die materiell-rechtlichen Annahmen, die das Ausgangsgericht seiner Verfahrensleitung und -gestaltung zugrunde legt, nicht infrage zu stellen, soweit sie nicht geradezu willkürlich erscheinen. Zudem räumt die Prozessordnung dem Ausgangsgericht ein weites Ermessen bei seiner Entscheidung darüber ein, wie es das Verfahren gestaltet und leitet. Die richtige Ausübung dieses Ermessens ist vom Entschädigungsgericht allein unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob das Ausgangsgericht bei seiner Prozessleitung Bedeutung und Tragweite des Menschenrechts aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. des Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) in der konkreten prozessualen Situation hinreichend beachtet und fehlerfrei gegen das Ziel einer möglichst richtigen Entscheidung abgewogen hat (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 36).

 

aa) Mit Blick auf den Verfahrensablauf vor dem LSG ist festzustellen, dass es nach Eingang der Nichtzulassungsbeschwerde im Juni 2018 zunächst zu keinerlei Verzögerungen gekommen ist. Bis einschließlich Oktober 2018 hat das LSG das Verfahren vielmehr engmaschig bearbeitet, zuletzt dadurch, dass es den (kurzen) Schriftsatz des JC vom 27.09.2018 am 17.10.2018 an die klägerische Seite weitergeleitet hat.

 

bb) Zu einer dem Staat zurechenbaren Verzögerung ist es in der Zeit von November 2018 bis Mai 2019 (7 Kalendermonate) gekommen. In dieser Phase ist das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren in keiner Weise gefördert worden. Eine abweichende Beurteilung ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass das LSG, wie bereits oben erwähnt, Mitte Oktober 2018 den Schriftsatz des JC vom 27.09.2018 zur Kenntnisnahme an die Klägerin weitergeleitet hatte. Zwar eröffnet die Übersendung eines Schriftsatzes an die Beteiligten zur Kenntnis stets die Möglichkeit zur Stellungnahme; die Entscheidung des Ausgangsgerichts, im Hinblick auf eine mögliche Stellungnahme zunächst keine weiteren Maßnahmen zur Verfahrensförderung zu ergreifen, unterliegt grundsätzlich noch seiner Entscheidungsprärogative bei der Verfahrensführung und ist dementsprechend in der Regel nicht als Verfahrensverzögerung zu bewerten (BSG, Urteile vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – Rn. 43 und 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R – Rn. 30, jeweils zitiert nach juris). Anderes hat aber im vorliegenden Fall zu gelten. Nach den Gesamtumständen kann ausgeschlossen werden, dass das LSG im November 2018 noch eine mögliche Stellungnahme der Klägerin abgewartet hat. Der Schriftsatz des JC vom 27.09.2018 erschöpfte sich in der Mitteilung, dass die von der Klägerin „erneut vorgetragene Rechtsansicht“ dort nicht geteilt werde. Eine inhaltliche Erwiderung auf diesen Schriftsatz war unmöglich bzw. jedenfalls nicht geboten.

 

cc) Demgegenüber sind die Monate Juni und Juli 2019 nicht als Verzögerungsphase zu werten.

 

Die Entscheidung des LSG, dem JC auf dessen Ersuchen vom 14.06.2019 kurzzeitig die Verwaltungsakten zu überlassen, ist als sachlich gerechtfertigt anzusehen (vgl. zur entschädigungsrechtlichen Bewertung von Aktenübersendungen etwa LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.03.2023 – L 37 SF 161/21 EK AS – juris Rn. 56 m. w. N.). Das JC benötigte die Akten, um hiervon Kopien für das SG wegen der dort noch laufenden weiteren Verfahren der Klägerin anzufertigen. Am 12.07.2019 gelangten die Akten zurück an das LSG.

 

Der Einstufung der Monate Juni und Juli 2019 als Aktivitätszeit im hiesigen Ausgangsverfahren steht nicht entgegen, dass das Ersuchen des JC um Aktenübersendung formal in dem parallel geführten Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (Az. L 31 AS 1009/18 NZB) eintraf, in welchem sodann auch die Aktenübersendung verfügt wurde. Das Geschehen ist entschädigungsrechtlich so zu bewerten, als wäre die Aktenanforderung / -übersendung im hiesigen Ausgangsverfahren erfolgt. Der behördliche Vorgang bezog sich inhaltlich gleichermaßen auf das hiesige Ausgangsverfahren wie auf das parallel geführte Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren, lediglich in gerichtsbinnenorganisatorischer Hinsicht war er Letzterem als Beiakte zugeordnet worden. Dies zeigt sich daran, dass der Berichterstatter (auch) im hiesigen Ausgangsverfahren am 08.07.2019 eine Wiedervorlage für den 02.09.2019 verfügte und diese mit dem Zusatz „(siehe AS 1009/18 NZB / Bl. 118 R)“ versah. Diese Verfügung konnte allein den Zweck haben, die Rückgabe der dem JC zur Verfügung gestellten Verwaltungsakten (auch) im Rahmen des hiesigen Ausgangsverfahrens zu überwachen.

 

dd) In der Zeit von August 2019 bis Februar 2020 (7 Kalendermonate) ist sodann wieder eine Verzögerung zu verzeichnen. Die Akten des Ausgangsverfahrens weisen in dieser Zeit keinerlei Bearbeitungsspuren auf.

 

Die Tatsache, dass das LSG in dem zeitlich parallel laufenden Berufungsverfahren (Az. L 31 AS 1010/18) am 12.08.2019 eine Beweisanordnung erlassen hat, mit welcher die Fachärztin für Innere Medizin und Gastroenterologie Prof. Dr. S mit der Erstellung eines Gutachtens zu den bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen und dem Erfordernis einer besonderen Ernährung beauftragt wurde, lässt sich nicht als gerichtliche Aktivität im vorliegenden Ausgangsverfahren einstufen. Zwar kann das Zuwarten auf Ergebnisse oder Ermittlungen in einem parallelen Verfahren grundsätzlich als Zeit der aktiven Bearbeitung anzusehen sein. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass zu erwarten ist, dass in einem solchen Verfahren Erkenntnisse gewonnen werden, die auch für das Ausgangsverfahren von Relevanz sind, oder wenn die Beteiligten diesem Vorgehen ausdrücklich zustimmen (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R – juris Rn. 47; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.04.2016 – L 37 SF 159/14 EK AS – juris Rn. 62 f.). Daran fehlt es hier. Im streitgegenständlichen Ausgangsverfahren war vom LSG lediglich zu beurteilen, ob Zulassungsgründe im Sinne von § 144 Abs. 2 SGG (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Divergenz oder Verfahrensmangel) vorliegen. Dem Ergebnis des im parallel laufenden Berufungsverfahren eingeholten Gutachtens konnte für die Beurteilung dieser Frage ersichtlich keine Bedeutung zukommen. Die Beteiligten haben dem Abwarten auf das Gutachten auch nicht zugestimmt. Selbst unter Zugrundelegung eines weiten prozessualen Gestaltungsspielraums des Ausgangsgerichts kann das Zuwarten nicht mehr als sachlich gerechtfertigt angesehen werden.

 

ee) Im März 2020 ist das LSG wieder aktiv geworden, indem es die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zurückgewiesen hat (Beschluss vom 05.03.2020, den Beteiligten des Ausgangsverfahrens zugestellt am 11. bzw. 12.03.2020). Hierdurch ist das Verfahren abgeschlossen worden.

 

Mithin ist es im Ausgangsverfahren zu Verzögerungen im Umfang von insgesamt 14 Kalendermonaten gekommen.

 

d) Dies bedeutet indes nicht, dass in entsprechendem Umfang von einer unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist. Denn erst die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände ergibt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat (BSG, Urteil vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – juris Rn. 33). Dabei ist zu beachten, dass den Gerichten – vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls – eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu 12 Monaten je Instanz zuzubilligen ist, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt und nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden muss (ständige Rechtsprechung, siehe jüngst etwa BSG, Urteile vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R und B 10 ÜG 4/21 R – juris Rn. 32 ff. bzw. Rn. 21). Weiter ist zu berücksichtigen, dass Zeiten fehlender Verfahrensförderung durch das Gericht in bestimmten Verfahrensabschnitten in davor oder danach liegenden Verfahrensabschnitten ausgeglichen werden können (BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 – Rn. 43, – B 10 ÜG 9/13 R – Rn. 43, – B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 51, – B 10 ÜG 2/14 R – Rn. 44, jeweils zitiert nach juris). Da Anknüpfungspunkt für die Angemessenheitsprüfung nach § 198 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 6 Nr. 1 GVG das Verfahren von seiner Einleitung bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss insgesamt ist, ist eine instanzübergreifende Betrachtung in dem Sinne geboten, dass Verzögerungen in einer Instanz durch die in einer anderen Instanz nicht ausgeschöpfte Vorbereitungs- und Bedenkzeit kompensiert werden können (BSG, Urteil vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 4/21 R – juris Rn. 23 ff.; ebenso bereits LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 25.02.2016 – L 37 SF 128/14 EK AL – Rn. 58 und 06.07.2017 – L 37 SF 352/15 EK KR – Rn. 71 und 87, jeweils zitiert nach juris). Eine unangemessene Verfahrensdauer kann daher nur dann festgestellt werden, wenn die Gesamtdauer eines durch mehrere Instanzen verfolgten Gerichtsverfahrens die den Instanzen insgesamt zur Verfügung stehende Vorbereitungs- und Bedenkzeit übersteigt und die darüber hinausgehende Zeit teilweise oder vollständig auf unzureichender Verfahrensförderung durch das Gericht beruht (BSG, Urteil vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 4/21 R – juris Rn. 35).

 

Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass um einen Entschädigungsanspruch wegen der Dauer eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens gestritten wird. Für ein solches hält der Senat eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit nicht von 12, sondern regelmäßig nur von 6 Monaten für angemessen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.02.2016 – L 37 SF 128/14 EK AL – juris Rn. 59). Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass die Entscheidung über eine Nichtzulassungsbeschwerde keine erneute Vollprüfung erforderlich macht, sodass die Vorbereitungs- und Bedenkzeit deutlich kürzer zu bemessen ist als im Berufungsverfahren. Es besteht kein Anlass, vorliegend hiervon abzuweichen. Somit ist von einer grundsätzlich entschädigungspflichtigen Verzögerung von 8 Kalendermonaten auszugehen.

 

Die instanzübergreifende Betrachtung führt hier zu keinem anderen Ergebnis. In dem Klageverfahren vor dem SG Potsdam, welches sich vom Eingang der Klage im April 2015 bis zur Zustellung des Urteils an die Beteiligten im Mai 2018 über etwas mehr als 3 Jahre hinzog, ist die (der ersten Instanz zuzubilligende) Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten bereits voll ausgeschöpft worden, weshalb es an Kompensationsmasse fehlt, die auf die zweite Instanz übertragen werden könnte. Eine Verzögerung ist erstinstanzlich jedenfalls im Zeitraum von Oktober 2015 bis September 2016 – und damit mindestens für 12 Monate – zu verzeichnen. Soweit es innerhalb dieses Zeitraums zu einem Zuständigkeitswechsel gekommen ist (Übergang des Verfahrens von der 47. auf die 49. Kammer gemäß Präsidiumsbeschluss 04/2016) ist hierin keine aktive Verfahrensförderung zu erblicken (vgl. BSG, Urteil vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 1/13 R – juris Rn. 31). Ebenso steht der Annahme einer in den staatlichen Verantwortungsbereich fallenden Verzögerung nicht entgegen, dass die Klagebegründung seinerzeit noch ausstand. Die unzureichende Mitwirkung der Beteiligten entbindet das Gericht nicht von der rechtsstaatlichen Pflicht, ein zügiges Verfahren sicherzustellen; das Gericht hat vielmehr alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel der Prozessordnung auszuschöpfen, um das Verfahren zu beschleunigen (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 9/13 R – juris Rn. 42). Dies hat das SG im Zeitraum von Oktober 2015 bis September 2016 gerade nicht getan. Der Vorgang lag, nachdem die Klägerin am 25.08.2015 erfolglos an die Klagebegründung erinnert worden war, ab Ende September 2015 im ET-Fach. Bis einschließlich September 2016 wurden keine verfahrensfördernden Maßnahmen ergriffen, insbesondere wurde die Klägerin nicht nochmals an die Klagebegründung erinnert.

 

Ob es in dem Klageverfahren vor dem SG Potsdam zu weiteren Verzögerungen gekommen ist, ob das SG mit anderen Worten mehr als die ihm zur Verfügung stehenden 12 Monate Vorbereitungs- und Bedenkzeit aufgebraucht hat, bedarf keiner Klärung. Die Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens ist nicht Streitgegenstand im hiesigen Entschädigungsverfahren. Die Klägerin hat, wie bereits oben ausgeführt, die Entschädigungsklage zulässig auf den Ausgleich des ihr infolge der Dauer des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens entstandenen Nachteils begrenzt. Anders als die Klägerin meint, kann die einer Instanz (hier: LSG) zugewiesene Vorbereitungs- und Bedenkzeit auch nicht durch eine andere Instanz (hier: SG) aufgezehrt werden. Wie sich aus der oben zitierten Rechtsprechung ergibt, ist zwar eine instanzübergreifende Verrechnung nicht aufgebrauchter Vorbereitungs- und Bedenkzeiten vorzunehmen. Eine instanzübergreifende Konsumtion von Vorbereitungs- und Bedenkzeiten findet demgegenüber nicht statt (ähnlich bereits LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.03.2023 – L 37 SF 161/21 EK AS – juris Rn. 71), denn eine solche würde der gesetzlich verankerten Kopplung des Entschädigungsanspruchs an die Rügeobliegenheit (vgl. § 198 Abs. 3 Satz 1 und Satz 5 GVG) widersprechen und die Zielrichtung der Verzögerungsrüge unterlaufen.

 

Die Verzögerungsrüge soll dem das Ausgangsverfahren bearbeitenden Richter die Möglichkeit zu einer beschleunigten Verfahrensförderung eröffnen und insofern als Vorwarnung dienen (BT-Druck. 17/3802, S. 20 zu Abs. 3 Satz 1). Danach hat die Verzögerungsrüge den Charakter einer „Mahnung“ an den beim Ausgangsgericht mit der konkreten Sache befassten Richter, eine drohende Verzögerung zu verhindern oder eine reale Verzögerung zu beseitigen und das Verfahren zügig zum Abschluss zu bringen (BSG, Urteil vom 27.03.2020 – B 10 ÜG 4/19 R – juris Rn. 27). Deshalb muss die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG bei dem Gericht erhoben werden, bei dem das Verfahren („die Sache“) anhängig ist. Damit korrespondierend bestimmt § 198 Abs. 3 Satz 5 GVG, dass es einer „erneuten Verzögerungsrüge“ bedarf, wenn sich das Verfahren bei einem „anderen Gericht“ (z. B. höheres Gericht im Instanzenzug) weiter verzögert. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die mit einer Verzögerungsrüge bezweckte Warn- und Beschleunigungsfunktion nur hinreichend zum Tragen kommen kann, wenn sie unmittelbar gegenüber dem Richter erhoben wird, der das Ausgangsverfahren zu bearbeiten und zu entscheiden hat (BSG, Urteil vom 27.03.2020 – B 10 ÜG 4/19 R – juris Rn. 27). Die Verzögerungsrüge ist zugleich eine materielle Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch. Sie stellt als solche eine haftungsbegründende Obliegenheit des (späteren) Entschädigungsklägers dar (BSG, Urteil vom 27.03.2020 – B 10 ÜG 4/19 R – juris Rn. 30).

 

Die instanzübergreifende Konsumtion von Vorbereitungs- und Bedenkzeiten (hier in Form der Aufzehrung von der Nachfolgeinstanz zugewiesenen Vorbereitungs- und Bedenkzeiten durch die Vorinstanz) würde letztlich darauf hinauslaufen, dass die Klägerin eine Entschädigung für Verfahrensverzögerungen erhielte, die bereits im Klageverfahren aufgetreten sind, obwohl sie es versäumt hat, dort ihrer haftungsbegründenden Obliegenheit – der Erhebung einer Verzögerungsrüge – nachzukommen. Die Möglichkeit eines derartigen „Dulde und Liquidiere“ soll nach dem Willen des Gesetzgebers durch die Kopplung des Entschädigungsanspruchs an die Rügeobliegenheit aber gerade ausgeschlossen werden (BT-Drucks. 17/3802, S. 20). Hinzu kommt, dass der erstinstanzlich mit der Sache befasste Richter mangels Erhebung einer Verzögerungsrüge keine „Mahnung“ erteilt bekommen hat und dementsprechend die mit der Rüge bezweckte Beschleunigungswirkung von vornherein nicht eintreten konnte. Auch dies spricht dagegen, die erstinstanzlich aufgetretenen Verzögerungsphasen entschädigungserhöhend instanzübergreifend zu berücksichtigen.

 

3. Wegen des erlittenen immateriellen Nachteils steht der Klägerin ein Anspruch auf eine Geldentschädigung in Höhe von 800,- € zu.

 

a) Durch die unangemessene Dauer des streitgegenständlichen Ausgangsverfahrens hat die Klägerin einen Nachteil nicht vermögenswerter Art erlitten. Dies folgt bereits aus § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG, wonach ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet wird, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Umstände, die diese gesetzliche Vermutung zu widerlegen geeignet wären, sind hier nicht erkennbar und auch von dem Beklagten nicht vorgebracht worden.

 

b) Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 GVG, insbesondere durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, sieht der Senat vorliegend nicht als ausreichend an. Eine derartige Kompensation eines Nichtvermögensschadens kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn das Verfahren beispielsweise für den Entschädigungskläger keine besondere Bedeutung hatte oder dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hat (BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R und B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 52 bzw. Rn. 59 sowie vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R und B 10 ÜG 7/14 R – Rn. 36 bzw. 43, jeweils zitiert nach juris). Vorliegend besteht kein Anlass, von der gesetzlich als Normalfall vorgesehenen Zahlung einer Entschädigung abzusehen.

 

c) Die Höhe der Geldentschädigung (wegen des erlittenen immateriellen Nachteils) beläuft sich auf 800,- €. Der Senat legt hierbei den in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG geregelten Richtwert zugrunde, wonach die Entschädigung 1.200,- € für jedes Jahr der Verzögerung beträgt. Gründe, die den Ansatz des gesetzlich vorgesehenen Pauschalbetrags unbillig und daher eine abweichende Festsetzung notwendig erscheinen lassen könnten (vgl. § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG), sind nicht ersichtlich und von den Beteiligten auch nicht vorgetragen.

 

d) Soweit in § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 1 GVG schließlich die Möglichkeit vorgesehen ist, in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung die Feststellung auszusprechen, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, sieht der Senat hierfür keinen Grund. Er vermag bereits nicht zu erkennen, dass vorliegend ein schwerwiegender Fall gegeben wäre.

 

4. Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung von Prozesszinsen ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung der §§ 288 Abs. 1, 291 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Diese Vorschriften sind im Rahmen von Entschädigungsklagen (auch) in den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten anwendbar, weil Spezialregelungen, die den allgemeinen Anspruch auf Prozesszinsen verdrängen könnten, nicht bestehen (BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 9/13 R – Rn. 52, – B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 61, – B 10 ÜG 2/14 R – Rn. 54, jeweils zitiert nach juris). Die Zinsen sind ab Rechtshängigkeit, d. h. nach § 94 Satz 2 SGG ab Zustellung der Klage zu zahlen. Die Zinspflicht beginnt in analoger Anwendung des § 187 Abs. 1 BGB mit dem Folgetag der Rechtshängigkeit (Grüneberg, in: Palandt, BGB, § 291 Rn. 6), hier also am 04.09.2021.

 

5. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Entschädigung wegen der für die vorprozessuale Rechtsverfolgung angefallenen Rechtsanwaltskosten zu. Zwar handelt es sich bei derartigen Kosten durchaus um eine Vermögenseinbuße und damit um einen (materiellen) Nachteil im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, dieser ist vorliegend jedoch nicht auszugleichen. Der erkennende Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe aus der Sicht eines vernünftigen Laien bei der erstmaligen „Anmeldung“ eines Entschädigungsanspruchs gegenüber dem haftungspflichtigen Land wegen unangemessener Dauer eines gerichtlichen Verfahrens regelmäßig nicht erforderlich ist und die durch die gleichwohl erfolgte Beauftragung eines Rechtsanwalts entstandenen Aufwendungen dementsprechend nicht zu den notwendigen Rechtsverfolgungskosten gehören (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 17.02.2021 – L 37 SF 55/20 EK AS und L 37 SF 123/20 EK AS – Rn. 40 ff. bzw. 39 ff., vom 09.06.2021 – L 37 SF 271/19 EK AS – Rn. 61 ff. und vom 06.05.2022 – L 37 SF 216/20 EK AS – Rn. 46, jeweils zitiert nach juris). Für den vorliegenden Fall gilt nichts anderes, denn auch die Klägerin hätte sich zunächst ohne Einschaltung eines Rechtsanwalts an das (später beklagte) Land wenden und dort ihr Begehren – Zahlung einer Entschädigung – formlos anbringen können. Hierfür hätte es keiner über ein „Laienwissen“ hinausgehenden Kenntnisse der Rechtslage bedurft. Zur Minimierung des Kostenrisikos, welches ohne die vorprozessuale Geltendmachung des Anspruchs droht (vgl. § 156 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – i. V. m. § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG), ist es ausreichend, wenn der Betroffene vor Erhebung der Entschädigungsklage an das Land herantritt und darauf hinweist, dass ihm aus seiner Sicht ein Anspruch auf Entschädigung wegen überlanger Dauer des gerichtlichen Verfahrens zustehe. Weitergehender juristischer Ausführungen, etwa zu den konkreten Verzögerungsmonaten, bedarf es nicht (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.06.2021 – L 37 SF 271/19 EK AS – juris Rn. 63). Da es sich nicht um ein förmliches Verfahren handelt, ist auch nicht die Kenntnis notwendig, welches die richtige Stelle zur Bearbeitung der Eingabe ist. Das Begehren kann mit der Bitte um Weiterleitung an die zuständige Stelle formlos an das Ausgangsgericht gerichtet werden (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.06.2021 – L 37 SF 271/19 EK AS – juris Rn. 63). Auf die Frage, ob § 16 Abs. 2 SGB I Anwendung findet, kommt es insoweit nicht an.

 

Soweit in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 17.11.2010 („Entwurf eines Gesetztes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“) die Rede davon ist, dass der Ausgleichsanspruch nach § 198 GVG als Vermögensnachteile auch die „notwendigen Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs“ umfasse (BT-Drucks. 17/3802, S. 19), steht dies der oben zitierten Senatsrechtsprechung nicht entgegen. Der Senat stellt, wie sich bereits aus den obigen Ausführungen ergibt, nicht in Frage, dass vorprozessual entstandene Rechtsanwaltskosten einen (materiellen) Nachteil im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG darstellen. Ein Entschädigungsanspruch besteht jedoch nur, wenn diese Aufwendungen für die Rechtsverfolgung notwendig waren.

 

Aus dem von der Klägerin zitierten Urteil des BVerwG vom 27.02.2014 (5 C 1/13) ergibt sich nichts anderes. Auch danach sind lediglich die „notwendigen Anwaltskosten“ von dem Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG umfasst (vgl. Rn. 40 des Urteils).

 

Was die von der Klägerin mit Schriftsatz vom 04.08.2021 zitierte Rechtsprechung des BGH angeht, so lässt sich dieser entnehmen, dass im Rahmen der §§ 249 ff. BGB zu den ersatzpflichtigen Aufwendungen des Geschädigten grundsätzlich auch die durch das Schadensereignis erforderlich gewordenen Rechtsverfolgungskosten zählen. Der Schädiger hat nach ständiger Rechtsprechung des BGH nicht schlechthin alle durch das Schadensereignis adäquat verursachten Rechtsanwaltskosten zu ersetzen, sondern nur solche, die aus Sicht des Geschädigten zur Wahrnehmung seiner Rechte „erforderlich und zweckmäßig“ waren (vgl. etwa BGH, Urteil vom 17.09.2015 – IX ZR 280/14 – juris Rn. 8 m. w. N.). Hiermit steht die oben zitierte Rechtsprechung des Senats zur Ausgleichsfähigkeit der für die vorprozessuale Rechtsverfolgung angefallenen Rechtsanwaltskosten im Rahmen des § 198 GVG durchaus im Einklang.

 

III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 6, 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 155 Abs. 1 VwGO.

 

IV. Die Revision war nicht zuzulassen, weil keine Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG (i. V. m. § 202 Satz 2 SGG und § 201 Abs. 2 Satz 3 GVG) vorliegen.

 

Rechtskraft
Aus
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