L 8 R 1970/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 2393/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 1970/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Ist ein obdachloser Beteiligter nur postlagernd zu erreichen, und ist eine Zustellung an die postlagernde Adresse nicht möglich, muss das Gericht das zuzustellende Schriftstück über die Anordnung der öffentlichen Zustellung hinaus zumindest zusätzlich auch mit einfachem Brief an die postlagernde Anschrift senden, damit der obdachlose Beteiligte die Möglichkeit hat, tatsächlich von dem Schriftstück Kenntnis zu nehmen und seinen Anspruch auf rechtliches Gehör zu verwirklichen.

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 13.04.2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe einer seit dem 01.10.2021 gewährten Regelaltersrente.

Der 1955 geborene Kläger ist nach seinen eigenen Angaben seit vielen Jahren wohnungslos. Briefe lässt er sich postlagernd an eine Filiale der Deutschen Post in der K1 in R1 senden. Im Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.09.2021 bezog er Arbeitslosengeld II.

Am 13.08.2021 beantragte der Kläger die Gewährung einer Regelaltersrente als Vollrente ab dem 01.10.2021. Ergänzend teilte er mit, dass er seine Tochter L1 im Zeitraum vom 01.07.1985 bis Ende 1988 anteilig oder allein erzogen habe. Seine damalige Ehefrau habe im letzten Quartal des Jahres 1985 in einer Strickwarenfabrik in N1 gearbeitet. Mitte Januar 1986 sei er mit seiner damaligen Ehefrau und seiner Tochter L1 nach Ö1 gezogen, um auf einem Kleinstbergbauernhof ein naturnahes Selbstversorgerleben zu führen. Während seine damalige Ehefrau bis Frühjahr 1988 immer wieder in Vollzeit gearbeitet habe, sei er im Zeitraum vom 01.07.1985 bis September 1989 nur fünf Monate lang erwerbstätig gewesen. Ihm seien Kindererziehungszeiten zuzurechnen, weil er sich die Erziehung und Versorgung mit seiner damaligen Ehefrau redlich geteilt habe. Im September 1989 habe er sich von seiner Ehefrau getrennt und sei alleine nach Deutschland zurückgekehrt.

Mit Rentenbescheid vom 21.10.2021 gewährte die Beklagte dem Kläger eine Regelaltersrente ab dem 01.10.2021 in Höhe eines monatlichen Zahlbetrages von 285,83 €. Dabei wurde der Zeitraum vom 11.02.1980 bis 30.06.1985 mit Pflichtbeitragszeiten für die Beschäftigung des Klägers im Kreiskrankenhaus N1 berücksichtigt. Der Zeitraum vom 01.07.1985 bis 09.10.1989 war im Versicherungsverlauf mit keinen rentenrechtlichen Zeiten belegt. Die Zeiträume vom 01.01.2005 bis 30.04.2005 und vom 24.06.2005 bis 31.12.2010 wurden als Beitragszeiten mit Pflichtbeiträgen wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II berücksichtigt. Als beitragspflichtiges Entgelt wurden für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.04.2005 insgesamt 1.600 € (4 mal 400 €), für den Zeitraum vom 24.06.2005 bis 31.12.2005 insgesamt 2.493 € (sieben Dreißigstel von 400 € plus 6 mal 400 €), für das Jahr 2006 insgesamt 4.800 € (12 mal 400 €) sowie für die Jahre 2007 bis 2010 jeweils insgesamt 2.460 € (12 mal 205 €) in Ansatz gebracht. Der Zeitraum vom 01.01.2011 bis 30.09.2021 wurde nicht als Pflichtbeitragszeit, sondern als Anrechnungszeit wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II gewertet.

Gegen den Rentenbescheid vom 21.10.2021 erhob der Kläger am 11.11.2021 Widerspruch und führte lediglich aus, er werde den Widerspruch nicht weiter begründen, sondern verweise auf den Amtsermittlungsgrundsatz.

Am 12.11.2021 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Feststellung von Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung. Dabei gab er an, er habe seine am 1984 geborene Tochter L1 im Zeitraum von 1984 bis September 1989 und seine 1988 geborene Tochter L2 im Zeitraum von1988 bis September 1989 gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau erzogen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.12.2021 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Rentenbescheid vom 21.10.2021 nicht zu beanstanden sei. Der Kläger habe seinen Widerspruch nicht begründet und insbesondere keine neuen Tatsachen vorgetragen.

Bereits am 13.11.2021 hat der Kläger beim Sozialgericht Konstanz (SG) Klage gegen den Rentenbescheid vom 21.10.2021 erhoben und erneut auf den Amtsermittlungsgrundsatz verwiesen. Mit Schreiben vom 29.12.2021 hat der Kläger erneut auf den Amtsermittlungsgrundsatz Bezug genommen und unter Angabe einer postlagernden Anschrift in der K2 in K3 mitgeteilt, dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt vorübergehend für voraussichtlich zwei bis drei Monate nach K3 verlagert habe. Als Anlage hat der Kläger einen Auszug aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 – vorgelegt und die in Randnummer 23 dieses Urteils genannten Gründe: „Der Bezug von Arbeitslosengeld II führt grundsätzlich zur Versicherungspflicht in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V, § 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI und § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB XI). Die Beiträge hierzu trägt der Bund“ durch Unterstreichungen und Ausrufezeichen hervorgehoben. Als weitere Anlage hat der Kläger Kopien des dem Rentenbescheid vom 21.10.2021 beigefügten Versicherungsverlaufs mit handschriftlichen Anmerkungen zur Gerichtsakte gereicht. Darin wirft er die Fragen auf, mit welchem Recht für die Jahre 2007 bis 2010 ein Entgelt von jeweils 2.460 € zugrunde gelegt worden sei, nachdem für das Jahr 2006 noch ein Entgelt von 4.800 € in Ansatz gebracht worden sei, und mit welchem Recht die Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II ab 01.01.2011 nicht als Pflichtbeitragszeiten berücksichtigt worden seien. Schließlich hat der Kläger eine unkommentierte Kopie seines am 12.11.2021 gestellten Antrags auf Feststellung von Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung zur Gerichtsakte gereicht.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, dass der Bezug von Arbeitslosengeld II gemäß § 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI in der bis 31.12.2010 geltenden Normfassung regelmäßig zur Rentenversicherungspflicht geführt habe. Infolge einer Gesetzesänderung sei ab dem 01.01.2011 die Versicherungspflicht für Bezieher von Arbeitslosengeld II entfallen. Die Höhe der monatlichen beitragspflichtigen Einnahmen bei Beziehern von Arbeitslosengeld II habe sich nicht nach der Höhe des tatsächlich gezahlten Arbeitslosengeldes II, sondern gemäß § 166 Abs. 1 Nr. 2a und Nr. 2b SGB VI in den bis 31.12.2010 geltenden Normfassungen nach gesetzlich festgelegten Beträgen bestimmt. Demnach seien bei Personen, die Arbeitslosengeld II für einen vollen Kalendermonat beziehen, im Zeitraum vom 01.01.2005 bis 31.12.2006 monatlich 400 € und im Zeitraum vom 01.01.2007 bis 31.12.2010 monatlich 205 € als beitragspflichtige Einnahmen anzusetzen.

Während des Klageverfahrens hat die Beklagte mit Vormerkungsbescheid vom 28.02.2022 entschieden, dass im Versicherungskonto des Klägers keine Kindererziehungszeiten (für die 1984 geborene Tochter L1 vom 01.03.1984 bis 31.08.1986 und für die 1988 geborene Tochter L2 vom 01.12.1988 bis 31.05.1991) und keine Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung (für die Tochter L1 von Februar 1984 bis Februar 1994 und für die Tochter L2 von November 1988 bis November 1998) vorgemerkt werden könnten, da der Kläger und der andere Elternteil übereinstimmend erklärt hätten, dass diese Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung dem anderen Elternteil zugeordnet werden sollen. Hiergegen hat der Kläger am 08.03.2022 Widerspruch erhoben und nachgefragt, wann, wo und in welcher Form die übereinstimmende Erklärung beider Elternteile abgegeben worden sei. Mit Schreiben vom 28.03.2022 hat die Beklagte die Begründung des Vormerkungsbescheids berichtigt und ausgeführt, dass keine übereinstimmende Erklärung beider Elternteile über die Zuordnung von Kindererziehungszeiten vorliege. Der Kläger und seine damalige Ehefrau hätten jeweils getrennt voneinander angegeben, dass die Erziehung der beiden Töchter gemeinsam erfolgt sei. Bei in etwa gleichgewichtiger Erziehung würden die Erziehungszeiten der Mutter zugeordnet.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage durch Gerichtsbescheid vom 13.04.2022 abgewiesen. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klage sowohl unzulässig als auch unbegründet sei. Der Kläger habe schon kein Rechtsschutzbedürfnis, da er dem SG seine aktuelle Anschrift nicht mitgeteilt habe und keine Wohnanschrift zu ermitteln gewesen sei. Unabhängig davon sei der Rentenbescheid vom 21.10.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2021 rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Pflicht des Gerichts zur Ermittlung des Sachverhaltes von Amts wegen werde durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten beschränkt. Das Gericht sei nur zu solchen Ermittlungen verpflichtet, die nach Lage der Sache erforderlich seien. Das Gericht müsse nicht von sich aus in alle Richtungen – gleichsam „ins Blaue“ hinein – ermitteln. Nachforschungen seien nur erforderlich, soweit sie der aktenkundige Sachverhalt und der Vortrag der Beteiligten nahelegten. Im vorliegenden Fall ließen sich als Angriffspunkte des Klägers nur die Höhe des versicherungspflichtigen Entgelts in den Zeiten des Bezuges von Arbeitslosengeld II ab dem Jahr 2007 sowie die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten und von Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung ausmachen. Der Vortrag des Klägers begründe jedoch keine belastbaren Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts. Gemäß § 56 Abs. 2 und § 57 SGB VI könnten Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung im Falle einer gemeinsamen Erziehung des Kindes nur einem Elternteil zugeordnet werden. Liege keine übereinstimmende Erklärung der beiden Elternteile hierzu vor, seien die Zeiten demjenigen Elternteil zuzuordnen, der das Kind überwiegen erzogen habe. Liege eine überwiegende Erziehung durch einen Elternteil nicht vor, erfolge die Zuordnung zur Mutter. Vorliegend gebe es keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der angegriffene Verwaltungsakt gegen §§ 56, 57 SGB VI verstoße. Der Kläger selbst habe sich nicht weiter zu diesem Punkt geäußert und lediglich auf den Amtsermittlungsgrundsatz verwiesen. Auch die Höhe der von der Beklagten berücksichtigten versicherungspflichtigen Entgelte in den Zeiten des Bezuges von Arbeitslosengeld II seit dem Jahr 2007 sei nicht zu beanstanden. Der Bezug von Arbeitslosengeld II habe nur bis zum 31.12.2010 Pflichtversicherungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung begründet. Als beitragspflichtige Einnahmen seien nicht das tatsächlich gezahlte Arbeitslosengeld II, sondern gemäß § 166 Abs. 1 Nr. 2a und Nr. 2b SGB VI in den Jahren 2005 und 2006 ein Betrag von 400 € monatlich und in den Jahren 2007 bis 2010 ein Betrag von 205 € monatlich zugrunde zu legen. Seit dem Jahr 2011 seien Zeiten des Bezuges von Arbeitslosengeld II nicht mehr Pflichtversicherungszeiten, sondern Anrechnungszeiten gemäß § 58 SGB VI. Nach diesen Maßstäben seien die im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten richtig. Im Jahr 2006 sei ein versicherungspflichtiges Entgelt von 4.800 € – also 400 € für jeden der 12 Monate durchgängigen Bezugs von Arbeitslosengeld II – berücksichtigt worden. In den Jahren 2007 bis 2010 sei ein versicherungspflichtiges Entgelt von 2.460 € – also 205 € für jeden der 12 Monate durchgängigen Bezugs von Arbeitslosengeld II – in Ansatz gebracht worden, wobei sich dieser Betrag für das Jahr 2010 als Summe aus zwei Teilbeträgen von jeweils 1.230 € für die erste und die zweite Jahreshälfte ergebe. Ab dem Jahr 2011 seien zu Recht überhaupt keine Entgelte mehr im Versicherungsverlauf berücksichtigt worden, da der Bezug von Arbeitslosengeld II seit dem 01.01.2011 keine Pflichtversicherungszeiten, sondern nur noch Anrechnungszeiten begründe.

Durch Beschluss vom 13.04.2022 hat das SG die öffentliche Zustellung des Gerichtsbescheids vom 13.04.2022 an den Kläger bewilligt. Die entsprechende Benachrichtigung ist am 14.04.2022 an der Gerichtstafel des SG ausgehängt und am 17.05.2022 abgenommen worden. Am 01.06.2022 hat der Kläger mitgeteilt, dass er weiterhin ohne festen Wohnsitz wieder zurück am Bodensee sei und ihn postlagernde Schreiben unter der Anschrift K1 in R1 erreichten. Mit einfachem Brief vom 07.06.2022 hat das SG dem Kläger eine Abschrift des Gerichtsbescheids übermittelt und ihn über den Inhalt des Beschlusses vom 13.04.2022 und den Aushang der entsprechenden Benachrichtigung am 14.04.2022 an der Gerichtstafel informiert.

Am 08.07.2022 hat der Kläger beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 13.04.2022 eingelegt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, dass die Berufung nicht verfristet sei, weil die Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung nicht erfüllt gewesen seien. Er sei seit November 2003 durchgehend ohne festen Wohnsitz und lebe seitdem in einem Auto auf wechselnden Stellplätzen im öffentlichen Raum. Seine Lebenssituation sei dem SG aus anderen Sozialrechtsstreitigkeiten längst bekannt. Auch im konkreten Fall habe er dem SG jeweils zeitnah verlässliche Veränderungen seiner Anschrift mitgeteilt. Sein Recht auf rechtliches Gehör beinhalte das Recht auf mündliche Verhandlung. Diese sei im Berufungsverfahren nachzuholen. Im Erörterungstermin am 13.09.2022 hat der Kläger ergänzend ausgeführt, dass das BVerfG im Urteil vom 09.02.2010 festgehalten habe, dass der Bezug von Arbeitslosengeld II grundsätzlich zur Versicherungspflicht in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung führe und der Bund die entsprechenden Beiträge trage.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 13.04.2022 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Rentenbescheids vom 21.10.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.12.2021 zu verurteilen, ihm eine höhere Altersrente ab dem 01.10.2021 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend. Der Hinweis des Klägers auf das Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 greife nicht durch. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG habe gemäß § 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI a.F. eine gesetzliche Rentenversicherungspflicht für Bezieher von Arbeitslosengeld II bestanden. Diese Rentenversicherungspflicht sei jedoch mit Ablauf des 31.12.2010 abgeschafft worden. Seitdem sei der Bezug von Arbeitslosengeld II nur als Anrechnungszeit gemäß § 58 Abs. 1 Nr. 6 SGB VI zu berücksichtigen. Seit dem 01.01.2011 zahlten weder der Bund noch das Jobcenter für die Bezieher von Arbeitslosengeld II Beiträge an die Rentenversicherung. Die vom BVerfG im Urteil vom 09.02.2010 beschriebene Rechtslage entspreche weder der aktuellen noch der seit Erlass des Rentenbescheids vom 21.10.2021 geltenden Rechtslage.

Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.08.2022 den Widerspruch des Klägers gegen den Vormerkungsbescheid vom 28.02.2022 zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, dass beim Kläger weder Kindererziehungszeiten noch Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung zu berücksichtigen seien. Weder der Kläger noch die Mutter seiner beiden Töchter hätten eine übereinstimmende Erklärung zur Zuordnung der Erziehungszeiten für ihre beiden Töchter L1 und L2 abgegeben. Nach den Angaben des Klägers und der Kindsmutter habe eine überwiegende Erziehung der Kinder durch einen Elternteil nicht stattgefunden. Seien – wie hier – überwiegende Erziehungsanteile eines Elternteils nicht im erforderlichen Beweisgrad festzustellen, sondern seien die Erziehungsbeiträge gleichgewichtig gewesen, würden Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung von Gesetzes wegen der Mutter zugeordnet.

Im Erörterungstermin am 13.09.2022 haben sich der Kläger und die Beklagte mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Am 17.11.2022 hat der Kläger erklärt, er halte eine mündliche Verhandlung jetzt doch für unerlässlich.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe


Die gemäß §§ 143, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) formgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß § 105 Abs. 2 Satz 1, § 143 SGG statthaft und zulässig. Sie bedarf nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG, da die Berufung die Gewährung einer höheren Regelaltersrente seit dem 01.10.2021 und damit laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Der Zulässigkeit der Berufung steht nicht entgegen, dass der Kläger keine Wohnanschrift, sondern eine postlagernde Adresse angegeben hat. Zwar muss die Berufung gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG auch den Berufungskläger bezeichnen, wozu die Angabe des vollständigen Namens und der Anschrift mit Angabe der Wohnung nach Ort, Straße, Hausnummer und ggf. weiteren Unterscheidungsmerkmalen ohne Rücksicht auf den Wohnsitz im Rechtssinne zählt (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 09.06.2016 – L 7 SO 4619/15 – juris, Rn. 20 m.w.N.). Nicht ausreichend ist die Angabe eines Postfachs (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 13.04.1999 – 1 C 24/97 – juris, Rn. 27 ff. zu § 82 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]) oder einer postlagernden Anschrift (Bayerisches LSG, Urteil vom 02.08.2017 – L 9 AL 212/14 – juris, Rn. 43; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2015 – L 19 AS 1912/15 B – juris, Rn. 8). Ausnahmen von der Pflicht, die Anschrift zu nennen, können im Lichte des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz nach den Umständen des Einzelfalls nur anerkannt werden, wenn dem Betroffenen dies aus schwerwiegenden beachtenswerten Gründen unzumutbar ist (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 18.11.2003 – B 1 KR 1/02 S – juris, Rn. 8). Hierzu zählt insbesondere Obdachlosigkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.02.2012 – 9 B 79/11, 9 VR 1/12 – juris, Rn. 11 m.w.N.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 10.05.2016 – L 9 AS 5116/15 – juris, Rn. 23). Im vorliegenden Fall hat der Kläger dargelegt, dass er seit vielen Jahren obdachlos ist und durchgehend ohne festen Wohnsitz in einem Auto auf wechselnden Stellplätzen lebt. Der Senat sieht keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln.

Die Berufung ist fristgerecht eingelegt worden. Gemäß § 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim LSG einzulegen. Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist (§ 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 189 Zivilprozessordnung [ZPO]). In Anwendung dieser Maßstäbe gilt der Gerichtsbescheid des SG vom 13.04.2022 dem Kläger am 08.07.2022 als zugestellt. Denn der Gerichtsbescheid, den das SG mit einfachem Brief vom 07.06.2022 postlagernd an den Kläger gesandt hat, ist diesem jedenfalls am 08.07.2022 tatsächlich zugegangen. Dies ergibt sich aus der am 08.07.2022 vom Kläger verfassten und dem LSG zugegangenen Berufungsschrift, die sich ausdrücklich gegen den Gerichtsbescheid vom 13.04.2022 richtet. Anhaltspunkte dafür, dass der Gerichtsbescheid dem Kläger zu einem früheren Zeitpunkt tatsächlich zugegangen ist, sind vom Kläger nicht mitgeteilt worden und auch sonst nicht ersichtlich.

Insbesondere gilt der Gerichtsbescheid hier nicht gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 188 Satz 1 ZPO als zugestellt. Zwar hat das SG durch Beschluss vom 13.04.2022 die öffentliche Zustellung des Gerichtsbescheids vom 13.04.2022 an den Kläger bewilligt und ist der Aushang der entsprechenden Benachrichtigung am 14.04.2022 erfolgt, so dass die für den Eintritt der Zustellungsfiktion des § 188 Satz 1 ZPO maßgebliche Monatsfrist hier gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 SGG schon mit Ablauf des 16.05.2022, einem Montag, vergangen wäre. Allerdings war die öffentliche Zustellung des Gerichtsbescheids unwirksam, weil die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung zum Zeitpunkt ihrer Bewilligung nicht gegeben waren. Gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 185 Nr. 1 ZPO kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung (öffentliche Zustellung) erfolgen, wenn der Aufenthaltsort einer Person unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG und aller obersten Gerichtshöfe des Bundes ist im Lichte des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG eine öffentliche Zustellung nur als letztes Mittel zulässig (Bundesfinanzhof [BFH], Beschluss vom 25.02.2016 – X S 23/15 (PKH) – juris, Rn. 19; BSG, Beschluss vom 29.08.2012 – B 11 AL 72/11 B – juris, Rn. 7; BVerwG, Beschluss vom 18.04.2011 – 2 WDB 4/11 – juris, Rn. 4; Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom 19.12.2001 – VIII ZR 282/00 – juris, Rn. 21 ff.; BVerfG, Kammerbeschluss vom 26.10.1987 – 1 BvR 198/87 – in: NJW 1988, 2361). Sie ist nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung nicht oder nur schwer durchführbar ist (BFH, a.a.O.; BVerwG, a.a.O.; BVerfG, a.a.O.). Gegenüber einem obdachlosen Verfahrensbeteiligten obliegt dem Gericht eine gesteigerte Prozessfürsorgepflicht (vgl. BFH, Beschluss vom 25.02.2016 – X S 23/15 (PKH) – juris, Rn. 20). Es hat daher für die Zustellung eines Schriftstücks einen Weg zu wählen, auf dem am ehesten damit gerechnet werden kann, dass der Beteiligte tatsächlich davon Kenntnis erhält (vgl. BFH, a.a.O., Rn. 21). Ist der Obdachlose postalisch lediglich über die Anschrift einer Beratungsstelle erreichbar, nimmt diese aber keine förmlichen Zustellungen entgegen, muss das Gericht förmlich zuzustellende Schriftstücke zumindest zusätzlich auch mit einfachem Brief an die Anschrift der Beratungsstelle übersenden, damit der Obdachlose die Möglichkeit hat, tatsächlich von dem Schriftstück Kenntnis zu nehmen (vgl. BFH, a.a.O., Rn. 20 f). Gleiches gilt auch dann, wenn Briefe einen obdachlosen Verfahrensbeteiligten nur postlagernd erreichen und die Zustellung an die postlagernde Adresse scheitert. Auch in diesem Fall muss das Gericht das zuzustellende Schriftstück über die Bewilligung der öffentlichen Zustellung hinaus zumindest zusätzlich auch mit einfachem Brief an die postlagernde Anschrift des obdachlosen Verfahrensbeteiligten senden, damit dieser die Möglichkeit hat, tatsächlich von dem Schriftstück Kenntnis zu nehmen und seinen Anspruch auf rechtliches Gehör zu verwirklichen.

Im vorliegenden Fall hat das SG den Gerichtsbescheid vom 13.04.2022 über die am selben Tag bewilligte öffentliche Zustellung hinaus nicht auch zusätzlich mit einfachem Brief an die postlagernde Anschrift, die der obdachlose Kläger dem SG mit Klageschrift vom 13.11.2021 und Schreiben vom 29.12.2021 mitgeteilt hat, gesendet. Der Umstand, dass das SG den Gerichtsbescheid erst später mit einfachem Brief vom 07.06.2022 an die postlagernde Anschrift des Klägers versandt hat, ändert nichts daran, dass die Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung am 13.04.2022 nicht vorlagen. Die Gewährung nachträglichen Gehörs genügt den Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG nur in Ausnahmefällen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17 – juris, Rn. 15), wenn dies zum Schutz gewichtiger Interessen erforderlich ist (BVerfG, Beschluss vom 03.11.1983 – 2 BvR 348/83 – juris, Rn. 20), weil vorheriges Gehör den Zweck der Maßnahme vereitelte oder weil die Entscheidung nach vorheriger Anhörung zu spät käme (BVerfG, Beschluss vom 30.10.1990 – 2 BvR 562/88 – juris, Rn. 40). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Vielmehr wäre die Verwirklichung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör im vorliegenden Fall auch dadurch verkürzt, dass die für den Eintritt der Zustellungsfiktion nach § 188 Satz 1 ZPO maßgebliche Monatsfrist hier bereits am 16.05.2022 abgelaufen wäre (s.o.) und der obdachlose Kläger deshalb mit Blick auf die erst am 07.06.2022 erfolgte Versendung des Gerichtsbescheids an seine postlagernde Anschrift keine Möglichkeit mehr hatte, einen Monat lang (vgl. § 151 Abs. 1 SGG) zu überlegen, sich durch Einlegung der Berufung rechtliches Gehör zu verschaffen.

Die Berufung des Klägers ist jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Zwar ist die Klage als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 2, Abs. 4, §§ 56, 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) zulässig. Zutreffend weist der Kläger darauf hin, dass sein Rechtsschutzinteresse nicht fortgefallen ist und er dem SG mit Klageerhebung seine postlagernde Anschrift in R1 und mit Schreiben vom 29.12.2021 seine neue postlagernde Anschrift in K3 mitgeteilt hat (zur prozessualen Obliegenheit der Beteiligten, ihre Erreichbarkeit für das Gericht sicherzustellen vgl. BSG, Beschluss vom 29.11.2022 – B 11 AL 21/22 B – juris, Rn. 9). Zur Mitteilung einer Wohnanschrift war der Kläger nicht verpflichtet, weil ihm die Erfüllung dieser Pflicht nach § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG infolge seiner Obdachlosigkeit und seines Lebens in einem Auto auf wechselnden Stellplätzen unmöglich und unzumutbar war (s.o.). Es ist im sozialgerichtlichen Verfahren auch keine (wirksame) Aufforderung nach § 92 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG (zur unheilbaren Unzulässigkeit der Klage nach fruchtlosem Ablauf der Ausschlussfrist nach der mit § 92 Abs. 2 Satz 2 SGG identischen Regelung des § 65 Abs. 2 Satz 2 Finanzgerichtsordnung vgl. BFH, Beschluss vom 30.06.2015 – X B 28/15 – juris, Rn. 16) und – mit Blick auf die fehlende inländische Wohnung des obdachlosen Klägers – keine (wirksame) Aufforderung nach § 63 Abs. 4 SGG zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten (unter Hinweis auf die Rechtsfolgen nach § 184 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 ZPO) erfolgt, so dass auch sonst keine das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers in Frage stellende Nichterfüllung seiner prozessualen Obliegenheiten ersichtlich ist.

Die Klage ist aber unbegründet. Der Rentenbescheid der Beklagten vom 21.10.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.12.2021 (§ 95 SGG) ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Regelaltersrente für die Zeit seit dem 01.10.2021.

Der Rentenbescheid vom 21.10.2021 enthält mehrere Verwaltungsakte i.S. von § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), die jeweils selbstständig angefochten werden oder in Bindung erwachsen können; dies sind die Entscheidungen über Rentenart, Rentenhöhe, Rentenbeginn und Rentendauer (zu den Verfügungssätzen eines Rentenbescheids vgl. BSG, Urteil vom 11.05.2011 – B 5 R 8/10 R – juris, Rn. 13; BSG, Urteil vom 18.07.1996 – 4 RA 108/94 – juris, Rn. 30). Streitbefangen ist im vorliegenden Fall allein die Entscheidung über die Rentenhöhe. Der Kläger begehrt die Gewährung einer höheren Regelaltersrente seit dem 01.10.2021 unter Anerkennung von Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung für seine 1984 geborene Tochter L1 und seine 1988 geborene Tochter L2 sowie unter Ansatz einer höheren Beitragsbemessungsgrundlage für die bereits anerkannten Pflichtbeitragszeiten wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II in den Jahren 2007 bis 2010 und unter Berücksichtigung von Pflichtbeitragszeiten wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II im Zeitraum vom 01.01.2011 bis 30.09.2021. Alle diese Zeiten sind entweder mit Entgeltpunkten zu bewerten – (Pflicht-)Beitragszeiten nach § 70 Abs. 1 i.V.m. §§ 161 ff. SGB VI, Kindererziehungszeiten nach § 70 Abs. 2 SGB VI – oder führen zur Gutschrift von Entgeltpunkten – bei Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung nach § 70 Abs. 3a SGB VI – oder beeinflussen die Entgeltpunkte für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten sowie die Mindestentgeltpunktbewertung bei geringem Arbeitsentgelt – bei Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung nach § 71 Abs. 3 SGB VI i.V.m. § 263 Abs. 1, § 72 SGB VI sowie nach § 262 SGB VI. Entgeltpunkte wiederum wirken sich als erster Faktor der Rentenformel direkt auf die Rentenhöhe aus (vgl. § 64 SGB VI). Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Beklagten über Rentenart, Rentenbeginn und Rentendauer hat der Kläger nicht erhoben und sind auch sonst nicht ersichtlich.

Dem Kläger steht kein Anspruch auf höhere Altersrente zu.

Die Beklagte hat bei der Berechnung der Rentenhöhe zu Recht keine Kindererziehungszeiten des Klägers für seine 1984 geborene Tochter L1 und seine am 1988 geborene Tochter L2 berücksichtigt.

Beurteilungsmaßstab für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten ist § 56 SGB VI in der hier maßgeblichen, bei Rentenbeginn am 01.10.2021 geltenden Normfassung des RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetzes vom 28.11.2018 (BGBl. I S. 2016; zu dem aus § 300 Abs. 1 und 3 SGB VI folgenden „Rentenbeginn-Prinzip“ vgl. BSG, Urteil vom 10.11.2022 – B 5 R 29/21 R – juris, Rn. 49 m.w.N.). Die Anrechnung einer Kindererziehungszeit für einen Elternteil setzt voraus, dass 1. die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist, 2. die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und 3. der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).

Eine Erziehungszeit ist dem Elternteil zuzuordnen, der sein Kind erzogen hat (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Haben mehrere Elternteile das Kind gemeinsam erzogen, wird die Erziehungszeit einem Elternteil zugeordnet (§ 56 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Haben die Eltern ihr Kind gemeinsam erzogen, können sie durch eine übereinstimmende Erklärung bestimmen, welchem Elternteil sie zuzuordnen ist (§ 56 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Haben die Eltern eine übereinstimmende Erklärung nicht abgegeben, wird die Erziehungszeit dem Elternteil zugeordnet, der das Kind überwiegend erzogen hat (§ 56 Abs. 2 Satz 8 SGB VI). Liegt eine überwiegende Erziehung durch einen Elternteil nicht vor, erfolgt die Zuordnung zur Mutter, bei gleichgeschlechtlichen Elternteilen zum Elternteil nach den §§ 1591 oder 1592 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, oder wenn es einen solchen nicht gibt, zu demjenigen Elternteil, der seine Elternstellung zuerst erlangt hat (§ 56 Abs. 2 Satz 9 SGB VI). Diese im Zweifel die Mutter bevorzugende Regelung verstößt nicht gegen Verfassungsrecht (BSG, Urteil vom 17.04.2008 – B 13 R 131/07 R – juris, Rn. 17 ff.; BSG, Beschluss vom 25.02.2020 – B 13 R 284/18 B – juris, Rn. 7). Ist eine Zuordnung nach den Sätzen 8 und 9 nicht möglich, werden die Erziehungszeiten zu gleichen Teilen im kalendermonatlichen Wechsel zwischen den Elternteilen aufgeteilt, wobei der erste Kalendermonat dem älteren Elternteil zuzuordnen ist (§ 56 Abs. 2 Satz 10 SGB VI).

Eine Erziehung ist im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat (§ 56 Abs. 3 Satz 1 SGB VI). Einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht gleich, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat (§ 56 Abs. 3 Satz 2 SGB VI). Dies gilt bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Ehegatten oder Lebenspartnern im Ausland auch, wenn der Ehegatte oder Lebenspartner des erziehenden Elternteils solche Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil er zu den in § 5 Abs. 1 und 4 SGB VI genannten Personen gehörte oder von der Versicherungspflicht befreit war (§ 56 Abs. 3 Satz 3 SGB VI).

In Anwendung dieser Maßstäbe sind dem Kläger keine Erziehungszeiten zuzuordnen. Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Kläger seine Töchter bis September 1989 allein oder überwiegend erzogen hat. Dies ergibt sich bereits aus den eigenen Angaben des Klägers. Dieser hat im Verwaltungsverfahren mit Schreiben vom 22.09.2021 mitgeteilt, dass er sich die Erziehung und Versorgung seiner Tochter L1 mit seiner damaligen Ehefrau redlich geteilt habe. Auch in dem am 12.11.2021 bei der Beklagten gestellten Antrag auf Feststellung von Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung hat der Kläger angegeben, dass er seine Töchter bis September 1989 gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau erzogen habe. Eine alleinige oder überwiegende Erziehung durch den Kläger hat dieser selbst nicht behauptet. Eine übereinstimmende Erklärung, dass Zeiten der gemeinsamen Erziehung dem Kläger zuzuordnen sind, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Der Kläger hat hierzu auch nichts Gegenteiliges vorgetragen. Schließlich konnte sich der Senat auch nicht davon überzeugen, dass der Kläger die Kinder L1 und L2 bis September 1989 gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau erzogen hat. Objektive Anhaltspunkte, welche den entsprechenden Vortrag des Klägers stützen könnten, liegen nicht vor. Soweit der Kläger vorgetragen hat, dass seine damalige Ehefrau bis Frühjahr 1988 immer wieder in Vollzeit gearbeitet habe, während er im Zeitraum vom 01.07.1985 bis September 1989 nur fünf Monate lang erwerbstätig gewesen sei, legt dies keine gemeinsame Kindererziehung nahe, zumal der Kläger während seines Aufenthalts in Österreich außerdem dafür verantwortlich war, durch Arbeit auf seinem dortigen Bergbauernhof die Grundlagen für das von ihm angestrebte naturnahe Selbstversorgerleben zu sichern.

Da bereits die Voraussetzungen nach § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB VI nicht vorliegen, kann der Senat offenlassen, ob die Erziehung, die nach den Angaben des Klägers im Zeitraum von Januar 1986 bis September 1989 in Österreich erfolgte, gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 SGB VI einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gleichsteht.

Die Beklagte hat der Berechnung der Rentenhöhe richtigerweise auch keine Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung zugrunde gelegt. Nach § 57 Satz 1 SGB VI in der hier maßgeblichen, bei Rentenbeginn am 01.10.2021 geltenden Normfassung der Bekanntmachung der Neufassung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch vom 19.02.2002 (BGBl. I S. 754, 779) ist die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem zehnten Lebensjahr bei einem Elternteil eine Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen. Dies ist hier nicht der Fall. Dem Kläger sind bis September 1989 keine Zeiten der Erziehung seiner 1984 geborenen Tochter L1 und seiner 1988 geborenen Tochter L2 zuzuordnen (s.o.). Für die Zeit nach September 1989 hat der Kläger nicht einmal behauptet, seine Töchter erzogen zu haben. Vielmehr hat er sich nach seinen eigenen Angaben im September 1989 von seiner Ehefrau getrennt und ist alleine ins Bundesgebiet zurückgekehrt.

Rechtsfehlerfrei hat die Beklagte die Eckpunkte für die Pflichtbeitragszeiten wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II in den Jahren 2007 bis 2010 ermittelt.

Gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 SGB VI werden für Beitragszeiten Entgeltpunkte ermittelt, indem die Beitragsbemessungsgrundlage durch das Durchschnittsentgelt (Anlage 1 zum SGB VI) für dasselbe Kalenderjahr geteilt wird. Beitragsbemessungsgrundlage für Versicherungspflichtige sind gemäß § 161 Abs. 1 SGB VI die beitragspflichtigen Einnahmen. Versicherungspflichtig waren Personen in der Zeit, für die sie von den jeweils zuständigen Trägern nach dem Zweiten Buch Arbeitslosengeld II beziehen. Die regelte § 3 Satz 1 Nr. 3a Halbsatz 1 SGB VI in der vom 01.08.2006 bis 31.12.2010 geltenden Normfassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl. I S. 1706, 1717). Diese – durch Art. 19 des Haushaltsbegleitgesetzes 2011 (BGBl. I S. 1885, 1897) mit Wirkung ab 01.01.2011 aufgehobene – Regelung des § 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI (a.F.) ist hier maßgeblich, weil § 300 SGB VI und damit das Rentenbeginn-Prinzip keine Anwendung auf Vorschriften zur Versicherungspflicht findet (BSG, Urteil vom 21.10.2021 – B 5 R 23/21 R – juris, Rn. 19) und die Versicherungspflicht deshalb nach den allgemeinen Regeln des intertemporalen Rechts nach dem Recht zu beurteilen ist, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat, soweit später in Kraft getretenes Recht nicht ausnahmsweise etwas Anderes bestimmt (vgl. BSG, Beschluss vom 09.08.2022 – B 2 U 26/22 B – juris, Rn. 12; BSG, Urteil vom 04.09.2013 – B 10 EG 6/12 R – juris, Rn. 37), was hier nicht der Fall ist. Beitragspflichtige Einnahmen im Sinne des § 161 Abs. 1 SGB VI waren bei Personen, die Arbeitslosengeld II oder im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld II Übergangsgeld, Krankengeld, Verletztengeld oder Versorgungskrankengeld beziehen, der Betrag von monatlich 400 € im Zeitraum vom 01.01.2005 bis 31.12.2006 (§ 161 Abs. 1 Nr. 2a SGB VI in der vom 01.01.2005 bis 31.12.2006 geltenden Normfassung des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes vom 21.07.2004 <BGBl. I S. 1791, 1796>) und der Betrag von monatlich 205 € im Zeitraum vom 01.01.2007 bis 31.12.2010 (§ 161 Abs. 1 Nr. 2a SGB VI in der vom 01.01.2007 bis 31.12.2007 geltenden Normfassung des Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 24.03.2006 <BGBl. I S. 558, 559> und in der vom 01.01.2008 bis 31.12.2010 geltenden Normfassung des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20.04.2007 <BGBl. I S. 554, 559>).

In Anwendung dieser Maßstäbe ist der Kläger im Zeitraum vom 01.01.2007 bis 31.12.2010 versicherungspflichtig gewesen, weil er in diesem Zeitraum durchgehend Arbeitslosengeld II bezogen hat. Als Beitragsbemessungsgrundlage hat die Beklagte im Zeitraum vom 01.01.2007 bis 31.12.2010 zutreffend beitragspflichtige Einnahmen in Höhe von monatlich 205 € zugrunde gelegt. Denn infolge der am 01.01.2007 in Kraft getretenen Rechtsänderung (s.o.) durfte die Beklagte ab dem 01.01.2007 nicht mehr wie bisher monatlich 400 €, sondern nur noch monatlich 205 € als beitragspflichtige Einnahme in Ansatz zu bringen. Richtigerweise hat die Beklagte die Entgeltpunkte für die Pflichtbeitragszeiten wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II im Zeitraum vom 01.01.2007 bis 31.12.2010 aufgrund einer Beitragsbemessungsgrundlage von jährlich jeweils 2.460 € ermittelt. Dieser Betrag ergibt sich als Produkt aus 12 Monaten und beitragspflichtigen Einnahmen von monatlich 205 €.

Zu Recht hat die Beklagte bei der Berechnung der Rentenhöhe keine Entgeltpunkte für (Pflicht-) Beitragszeiten im Zeitraum vom 01.01.2011 bis 30.09.2021 ermittelt. Zwar hat der Kläger auch in diesem Zeitraum Arbeitslosengeld II bezogen. Allerdings löst dieser Leistungsbezug seit dem 01.01.2011 keine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung mehr aus, da die bis 31.12.2010 geltende Regelung des § 3 Satz 1 Nr. 3a Halbsatz 1 SGB VI (s.o.) durch Art. 19 des Haushaltsbegleitgesetzes 2011 (BGBl. I S. 1885, 1897) mit Wirkung ab 01.01.2011 aufgehoben worden ist (s.o.). Keine abweichende Beurteilung veranlasst der Hinweis des Klägers auf die Randnummer 23 des Urteils des BVerfG vom 09.02.2010 (Az.: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09). Soweit das BVerfG darin dargelegt hat, dass der Bezug von Arbeitslosengeld II grundsätzlich zur Versicherungspflicht in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung führt, handelt es sich hierbei nicht um ein verfassungsrechtliches Gebot, sondern um die Darstellung der zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG am 09.02.2010 geltenden einfachgesetzlichen Rechtslage. Dies ergibt sich daraus, dass sich die vom Kläger in Bezug genommene Randnummer 23 in Teil A der Entscheidung findet und Teil A eines bundesverfassungsgerichtlichen Urteils regelmäßig den Sachverhalt schildert, während die verfassungsrechtlichen Maßstäbe erst in nachfolgenden Teilen der Entscheidung entfaltet werden. Das Normzitat in Randnummer 23 („vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V, § 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI und § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB XI“) bestätigt, dass das BVerfG hier keine verfassungsrechtliche Vorgabe entwickelt, sondern vielmehr lediglich den einfachgesetzlichen Gegenstand der nachfolgenden verfassungsrechtlichen Beurteilung beschreibt.

Die Aufhebung der bis zum 31.12.2010 geltenden Regelung des § 3 Satz 1 Nr. 3a Halbsatz 1 SGB VI durch Art. 19 des Haushaltsbegleitgesetzes 2011 mit Wirkung ab 01.01.2011 verletzt den Kläger entgegen seiner Rechtsauffassung nicht in seinem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Den Schutz der Eigentumsfreiheit genießen Rentenansprüche und Rentenanwartschaften, deren Umfang durch die persönliche Leistung des Versicherten – typischerweise in Form von Beitragszahlungen – mitbestimmt wird (vgl. BVerfG, Urteil vom 28.02.1980 – 1 BvL 17/77, 1 BvL 7/78 u.a. – juris, Rn. 146-148; Urteil vom 28.04.1999 – 1 BvL 32/95, 1 BvR 2105/95 – juris, Rn. 111-114). Nicht dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unterfallen dagegen Ansprüche auf Sozialleistungen, die ausschließlich darauf beruhen, dass der Staat sie in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht durch Gesetz eingeräumt hat (vgl. BVerfG, Urteil vom 16.07.1985 – 1 BvL 5/80, 1 BvR 1023/83 u.a. – juris, Rn. 108). Im vorliegenden Fall greift die Änderung der einfachgesetzlichen Rechtslage, wonach der Bezug von Arbeitslosengeld II ab dem 01.01.2011 keine Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung mehr begründet, nicht in die Eigentumsfreiheit des Klägers ein. Denn die Anerkennung von (Pflicht-)Beitragszeiten aufgrund des Bezugs von Arbeitslosengeld II bis 31.12.2010 beruhte nicht auf einer eigenen Leistung des Klägers, sondern stellte ebenso wie das vom Kläger seit 01.01.2005 bezogene Arbeitslosengeld II eine steuerfinanzierte Fürsorgeleistung des Staates dar. Der Kläger hat im Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.09.2021 keine eigenen Leistungen zum Erwerb oder zur Mehrung von Rentenansprüchen erbracht. Gegenteiliges trägt der Kläger nicht vor und ist auch sonst nicht ersichtlich.

Schließlich liegt auch kein für die Beteiligten bindender (§ 77 SGG) Vormerkungsbescheid vor, in dem festgestellt worden ist, dass der Kläger Kindererziehungszeiten oder Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung oder seit Januar 2011 Pflichtbeitragszeiten wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II zurückgelegt hat (zum Regelungsinhalt von Vormerkungsbescheiden vgl. zuletzt BSG Urteil vom 09.03.2023 – B 5 R 4/22 R – Rn. 17).

Weitere Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit des Rentenbescheids vom 21.10.2021 hat der Kläger nicht erhoben und sind auch sonst nicht ersichtlich. Zutreffend weist das SG darauf hin, dass Behörden und Gerichte nur zu solchen Ermittlungen verpflichtet sind, die nach Lage der Sache erforderlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom 01.09.2022 – B 12 KR 7/22 BH – juris, Rn. 15). Der Umfang der Amtsermittlungspflicht der Behörden (§ 20 SGB X) und der Tatsachengerichte (§ 103 SGG) hängt insbesondere vom Vorbringen desjenigen ab, der höhere Leistungen begehrt (BSG, Urteil vom 12.05.2021 – B 4 AS 88/20 R – juris, Rn. 15). Die Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen verlangt also keine Ermittlungen „ins Blaue“ (vgl. BSG, a.a.O.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.



 

Rechtskraft
Aus
Saved