L 10 R 2463/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 10 R 2692/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 2463/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Das Erfordernis von 33 Jahren an Grundrentenzeiten für den Grundrentenzuschlag nach § 76g Abs. 1 SGB VI begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 12.07.2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung höherer Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter Berücksichtigung eines Grundrentenzuschlags.

Die 1957 in der ehemaligen UdSSR geborene Klägerin ist Mutter von fünf Kindern (E1, geb. 1977, H1, geb. 1980, A1, geb. 1986, M1, geb. 1988 und C1, geb. 1991) und übersiedelte als Vertriebene im Dezember 1987 in die Bundesrepublik Deutschland.

Auf ihren Antrag vom 21.05.2021 bewilligte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 20.07.2021 Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 01.06.2021 i.H.v. 739,17 € (monatlicher Zahlbetrag 658,61 €). Einen Grundrentenzuschlag berücksichtigte die Beklagte hierbei nicht und verwies darauf, dass lediglich 312 Monate mit Grundrentenzeiten vorlägen (Anlage „Grundrentenzeiten“ zum Rentenbescheid).

Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass die Erziehung von fünf Kindern für die Erfüllung der Voraussetzungen für die Grundrentenzeiten ausreichend sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.10.2021 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zu den Voraussetzungen für den Grundrentenzuschlag nach § 76g Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) gehöre, dass mindestens 33 Jahre (396 Monate) mit Grundrentenzeiten vorhanden seien. Auch unter Berücksichtigung der Zeiten für Kindererziehung der fünf Kinder seien nur 312 Monate mit Grundrentenzeiten vorhanden. Zur Anrechnung kämen dabei für jedes Kind 30 Monate mit Pflichtbeiträgen für Kindererziehung sowie zehn Jahre mit Berücksichtigungszeiten, wenn neben den Berücksichtigungszeiten keine anderen anrechenbaren rentenrechtlichen Zeiten lägen. Sich überschneidende Berücksichtigungszeiten für die Erziehung mehrerer Kinder würden nicht mehrfach angerechnet. Sofern Pflichtbeiträge für Kindererziehung neben anderen Beitragszeiten oder Ersatzzeiten lägen, würden diese nur einmal als Grundrentenzeit angerechnet. Mit 312 Monaten an Grundrentenzeiten seien die gesetzlichen Voraussetzungen für den Grundrentenzuschlag nach § 76g SGB VI nicht erfüllt.

Hiergegen richtet sich die am 15.11.2021 zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhobene Klage, mit welcher die Klägerin geltend gemacht hat, die 33 Jahre an Grundrentenzeiten seien für eine deutsche Frau „mit ev. ein paar Kindern gut zu erreichen“. Für sie, eine deutsche Vertriebene aus der ehemaligen Sowjetunion mit fünf Kindern, reiche die Zeit nicht aus, um die 33 Jahre zu erreichen.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 12.07.2022 die Klage unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid abgewiesen. Die Beklagte habe die gesetzlichen Vorgaben korrekt umgesetzt.

Gegen den ihr am 26.07.2022 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 23.08.2022 bei der Rechtsantragsstelle des SG eingelegte Berufung der Klägerin. Sie ist weiterhin der Auffassung, mit der Erziehung von fünf Kindern ihren Beitrag für den Grundrentenzuschlag geleistet zu haben, indem die Finanzierung der Rentenversicherung in einer anderen Form unterstützt worden sei. Die Beklagte und das SG hätten auf gesetzliche Vorschriften hingewiesen, ohne soziale oder sachliche Kompetenz zu berücksichtigen. 396 Monate Grundrentenzeiten und fünf Kinder seien nicht möglich, die Kinder hielten den Generationenvertrag ein.

Die Klägerin beantragt (sachdienlich gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 12.07.2022 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 20.07.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.10.2021 zu verurteilen, ihr höhere Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 01.06.2021 unter Berücksichtigung eines Grundrentenzuschlags zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.




Entscheidungsgründe

Die Berufung, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat keinen Erfolg.

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und damit zulässig, sie ist in der Sache jedoch nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 20.07.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.10.2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Klarstellend ist anzumerken, dass es der Klägerin nicht um die (unzulässige) isolierte Anerkennung von Grundrentenzeiten geht, sondern um die Gewährung höherer Altersrente für schwerbehinderte Menschen, denn der Grundrentenzuschlag ist ein Berechnungselement dieser Rente (vgl. Mushoff in jurisPK-SGB VI, § 76g Rn. 50, Stand 25.10.2022). Dieses Begehren verfolgt die Klägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG). Die Klägerin hat indes keinen Anspruch auf Gewährung höherer Rente, denn sie erfüllt die Voraussetzungen für einen Grundrentenzuschlag nicht.

Rechtsgrundlage für die der Klägerin mit Bescheid vom 21.05.2021 gewährte Altersrente für schwerbehinderte Menschen ist § 236a SGB VI. Die Höhe einer Rente bestimmt sich nach den Regelungen in §§ 63 ff. SGB VI. Hiernach ergibt sich der Monatsbetrag einer Rente, indem die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte mit dem Rentenartfaktor und dem aktuellen Rentenwert vervielfältigt werden. Grundlage für die Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte sind bei einer Rente wegen Alters die Entgeltpunkte des Versicherten, die mit dem Zugangsfaktor vervielfältigt werden.

Für Renten, die - wie hier - frühestens ab 01.01.2021 beginnen, wird nach § 76g Abs. 1 SGB VI ein Zuschlag an Entgeltpunkten ermittelt, wenn mindestens 33 Jahre mit Grundrentenzeiten vorhanden sind und sich aus den Kalendermonaten mit Grundrentenbewertungszeiten ein Durchschnittswert an Entgeltpunkten ergibt, der unter dem nach Absatz 4 maßgebenden Höchstwert liegt. Welche Zeiten bei der vorausgesetzten Mindestzahl von Grundrentenzeiten berücksichtigt werden, ergibt sich aus § 76g Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 SGB VI, der auf § 51 Abs. 3a Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB VI verweist. Dies sind Pflichtbeitragszeiten für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit (Nr. 1), Berücksichtigungszeiten (Nr. 2; dies betrifft u.a. die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem zehnten Lebensjahr, vgl. § 57 SGB VI) und Zeiten des Bezugs von Leistungen bei Krankheit und Übergangsgeld (Nr. 3). § 76g Abs. 2 Satz 1 Hs. 2 SGB VI legt eine entsprechende Geltung von § 55 Abs. 2 SGB VI fest, sodass auch Zeiten mit freiwilligen Beiträgen, die als Pflichtbeitragszeiten gelten (Nr. 1), Zeiten mit Pflichtbeiträgen, für die aus den in § 3 SGB VI oder § 4 SGB VI genannten Gründen Beiträge gezahlt worden sind oder als gezahlt gelten (Nr. 2) und Zeiten mit Beiträgen für Anrechnungszeiten, die ein Leistungsträger mitgetragen hat (Nr. 3), Grundrentenzeiten sind. Hierzu gehören daher insbesondere auch Kindererziehungszeiten (§§ 76g Abs. 2 Satz 1 Hs. 2, 55 Abs. 2 Nr. 2, 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VI), die die Beklagte hier zutreffend nach § 249 Abs. 1 SGB VI berücksichtigt hat. Danach endet die Kindererziehungszeit für ein vor dem 01.01.1992 geborenes Kind 30 Kalendermonate nach Ablauf des Monats der Geburt. Grundrentenzeiten sind gemäß § 76g Abs. 2 Satz 2 SGB VI weiterhin auch Kalendermonate mit Ersatzzeiten. § 76g Abs. 2 Satz 3 SGB VI schließt Kalendermonate mit Pflichtbeitragszeiten oder Anrechnungszeiten wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld von den Grundrentenzeiten aus.

Die Beklagte hat unter Zugrundelegung der von der Klägerin zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten zutreffend alle als Grundrentenzeiten anerkennungsfähigen Zeiträume berücksichtigt. Dies betrifft insbesondere die Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung. Die Klägerin verkennt, dass gerade die gesetzliche Berücksichtigung dieser Zeiten bei ihr dazu führt, dass sie überhaupt 312 Monate an Grundrentenzeiten erreicht. Die Erziehung ihrer fünf Kinder wird insoweit berücksichtigt; der rechtliche Hinweis des früheren Berichterstatters vom 29.12.2022 ist insoweit unzutreffend. Es entspricht gerade der Intention des Gesetzgebers, die überwiegend von Frauen erbrachten gesellschaftlich relevanten Sorgeleistungen (Kindererziehung und Pflege nahestehender Menschen), die zur Beeinträchtigung der Erwerbsbiographie mit nachfolgend häufig geringeren Renten führen, mit dem Grundrentenzuschlag zu honorieren und diese Lebensleistung in der gesetzlichen Rentenversicherung abzubilden (BT-Drs. 19/18473, S. 1 f.). Jedoch erreicht die Klägerin auch mit den Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten nicht die erforderlichen 33 Jahre an Grundrentenzeiten. Sie wird entgegen ihrer eigenen Einschätzung auch nicht dadurch benachteiligt, dass sie als Vertriebene im Bundesgebiet erst seit 16.12.1987 rentenrechtliche Zeiten zurücklegen konnte, denn auch die in der ehemaligen UdSSR zurückgelegten, nach dem Fremdrentengesetz berücksichtigten Zeiten werden im Rahmen der Prüfung der Grundrentenzeiten berücksichtigt, wie die Klägerin unschwer der ihrem Rentenbescheid vom 20.07.2021 beigefügten Anlage „Grundrentenzeiten“ entnehmen kann. Von dem rechtlichen Erfordernis der 312 Monate an Grundrentenzeiten kann auch nicht aus Gründen einer „sozialen oder sachlichen Kompetenz“ abgewichen werden. Es ist Sache des Gesetzgebers, die entsprechenden Voraussetzungen zu regeln. Sowohl der Rentenversicherungsträger als auch die Gerichte sind nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) an Gesetz und Recht gebunden.

Zur Überzeugung des Senats begegnet das Erfordernis von 33 Jahren an Grundrentenzeiten keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere ist dem Gesetzgeber auf Grund des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht jede Differenzierung verwehrt. Differenzierungen bedürfen jedoch der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit kommt dem Gesetzgeber für die Abgrenzung der begünstigten Personenkreise ein weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG - 07.12.2012, 1 BvL 14/07, zitiert, wie sämtliche Rechtsprechung, nach juris), der besonders groß ist, wenn eine Begünstigung nicht auf Beiträgen beruht, sondern (steuerfinanziert) zum Zwecke des sozialen Ausgleichs gewährt wird (BVerfG 11.01.2016, 1 BvR 1687/14, Rn. 12). Zudem ist der Gesetzgeber bei der Ordnung von Massenerscheinungen berechtigt, generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen zu verwenden, ohne allein wegen der damit verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen (BVerfG 17.06.2020, 1 BvR 1134/15, Rn. 12; Bundessozialgericht - BSG - 26.09.2019, B 5 R 6/18 R).

Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Gesetzgeber hier den ihm zustehenden weiten Gestaltungsspielraum - der Grundrentenzuschlag wird vollständig aus Steuermitteln finanziert (vgl. § 213 Abs. 2 Satz 4 SGB VI; BT-Drs. 19/18473, S. 4, 46) - überschritten hätte. Der Gesetzgeber wollte mit dem Grundrentenzuschlag die Ansprüche von langjährig versicherten Rentenberechtigten mit unterdurchschnittlichem Einkommen anheben. Die Anknüpfung an (die zunächst vorgesehenen) 35 Jahre an Grundrentenzeiten entspricht einer üblichen Größe in der Rentenversicherung (z.B. Wartezeit von 35 Jahren bei der Altersrente für langjährig Versicherte [§§ 35 Satz 1 Nr. 2 und 236 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI], für schwerbehinderte Menschen [§§ 37 Satz 1 Nr. 3 SGB VI und 236a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3], Ermittlung von Mindestentgeltpunkten bei geringem Arbeitsentgelt [§ 262 Abs. 1 Satz 1 SGB VI]). Bei der Herabsetzung auf mindestens 33 Jahre Grundrentenzeiten handelt es sich um einen politischen Kompromiss im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens, mit dem das Problem der „Abbruchkante“ gelöst werden sollte ohne die Anknüpfung an die Langjährigkeit aufzugeben (vgl. BR-Drs. 85/20, S. 2). Der Gesetzgeber war angesichts seines weiten Gestaltungsspielraums auch nicht verpflichtet, eine weitergehende Absenkung des Umfangs der Grundrentenzeiten vorzunehmen (vgl. Mushoff, a.a.O., Rn. 185 m.w.N.). Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass durch die Einführung von § 76g SGB VI für eine Vielzahl von Betroffenen eine Verbesserung erfolgt ist.

Die Rentenberechnung ist im Falle der Klägerin auch ansonsten zutreffend erfolgt. Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Berücksichtigung oder Bewertung von Zeiten sind weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.


 

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