S 1 AS 393/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 1 AS 393/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 139/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil


1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass dem Beklagten eine Forderung in Höhe von insgesamt 1.329,71 € aus dem Bescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014, abgeändert durch das Teilanerkenntnis des Beklagten vom 16.01.2017, nicht zusteht. 

Die im Jahr 1954 geborene Klägerin bezog beim Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). 

Im unter dem Aktenzeichen S 9 AS 425/14 beim Sozialgericht Darmstadt anhängigen Verfahren stritten sich die Beteiligten über die Rechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids des Beklagten vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014, mit dem der Beklagte gegenüber der Klägerin eine Erstattungsforderung in Höhe von insgesamt 1.536,91 € festgesetzt hatte. Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage vom 16.01.2017 wurde der Rechtsstreit durch angenommenes Teilanerkenntnis und Erledigungserklärung im Übrigen erledigt. In dieser Sitzung anwesend waren die damalige Vorsitzende der 9. Kammer des Sozialgerichts Darmstadt, Frau Richterin Schlecht, die Klägerin persönlich, sowie als ihr Bevollmächtigter Herr C. und für die Beklagtenseite Herr D. In der Sitzungsniederschrift der nichtöffentlichen Sitzung vom 16.01.2017 heißt es: „Die Vorsitzende erörtert den Sachverhalt mit den Erschienenen. Der Termin wird um 09:33 Uhr unterbrochen. Der Termin wird um 09:35 Uhr fortgesetzt. Die Klägerin erklärt, dass sie derzeit Schwierigkeiten sieht, den Betrag in Höhe von 1.329,71 EUR zurück zu zahlen. Der Beklagtenvertreter erklärt: „Der Bescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014 wird insoweit aufgehoben, als von der Klägerin eine Erstattung über den Betrag von 1.329,71 € verlangt wird.“ Die Klägerin erklärt: „Ich nehme das Anerkenntnis an und erkläre den Rechtsstreit im Übrigen für erledigt.“ Auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 16.01.2017 wird Bezug genommen. 

Daraufhin machte der Beklagte gegenüber der Klägerin eine Forderung in Höhe von 1.329,71 € geltend. Die Klägerin weigerte sich, die Forderung zu begleichen, da der Beklagte im Termin vom 16.01.2017 ihrer Auffassung nach erklärt habe, die Forderung in Höhe von 1.329,71 € nicht mehr geltend zu machen. Der Beklagte wandte hiergegen mit Schreiben vom 15.02.2019 ein, dass aus der Sitzungsniederschrift des Termins vom 16.01.2017 hervorgehe, dass die im Protokoll festgehaltene Sitzungsunterbrechung und die Erklärung der Klägerin, derzeit Schwierigkeiten zu haben den Betrag in Höhe von 1.329,71 € zu begleichen, unnötig gewesen wären, wenn der Beklagte die Forderung vollständig hätte fallen lassen wollen und ein entsprechendes Anerkenntnis abzugeben. Nach Auffassung des Beklagten sei das Teilanerkenntnis derart zu verstehen, dass der streitgegenständliche Bescheid insoweit aufgehoben werde, als eine Erstattung über den Betrag von 1.329,71 € verlangt werde, was sinnvollerweise nur bedeuten könne, dass die streitige Forderung in Höhe von 1.536,91 €, soweit sie den Betrag von 1.329,71 € übersteige, aufgehoben werde. Der Beklagte schlug eine Aufrechnung der Restforderung in Höhe von monatlich 10 % der Regelleistung vor. Eine Aufrechnung erfolgte damals allerdings nicht.

Die Klägerin hat beim Sozialgericht Darmstadt am 24.02.2019 einen Antrag im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gestellt, mit dem sie begehrte, das vom Beklagten zur Vollstreckung der Forderung in Höhe von 1.329,71 € angestrengte Mahnverfahren ruhend zu stellen und beim Inkasso-Service des Beklagten eine Mahnsperre zu verhängen. Die Beteiligten schlossen im Rahmen dieses Verfahrens einen Vergleich dahingehend, dass die Klägerin sich zur Begleichung eines bestandskräftigen Erstattungsbetrags in Höhe von 207,20 € aus dem Bescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.02.2014 bereit erkläre. Hinsichtlich des darüberhinausgehenden, streitigen Erstattungsbetrags in Höhe von 1.122,51 € setze der Beklagte eine Mahnsperre bis zur Entscheidung in der Hauptsache. 

Am 26.04.2019 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Darmstadt erhoben, mit der sie die Feststellung begehrt, dass dem Beklagte keine Forderung in Höhe von insgesamt 1.329,71 € aus dem Bescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014 zustehe. 

Sie ist der Auffassung, dass der Beklagte mit dem Teilanerkenntnis vom 16.01.2017 die Erstattungsforderung in Höhe von 1.329,71 € aufgehoben habe. Ihrer Auffassung nach sei die Gesamtforderung in Höhe von 1.536,91 € auf einen Betrag in Höhe 207,20 € reduziert worden.

Die Klägerin beantragt wörtlich,
festzustellen, dass die Klägerin nicht verpflichtet ist, 1.329,71 € aus dem Teilanerkenntnis des Beklagten aus der gerichtlichen Verhandlung vom 16.01.2017 zu bezahlen.

Der Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch die Beiziehung der Gerichtsakte zum Verfahren S 9 AS 425/14 und durch die Einholung einer schriftlichen Zeugenaussage der damaligen Vorsitzenden der 9. Kammer des Sozialgericht Darmstadt, Frau Richterin am Sozialgericht Schlecht. Nach der Aussage der damaligen Vorsitzenden war im Termin am 16.01.2017 erläutert worden, dass von der Klägerin ein Betrag in Höhe von 207,20 € für den Monat Dezember 2013 nicht zu erstatten gewesen sei, weshalb der streitgegenständliche Aufhebungs- und Erstattungsbescheid teilweise rechtswidrig gewesen sei. Der Beklagte habe der Reduktion der Erstattungsforderung in Höhe von 207,20 € zugestimmt. Es habe sich eine verbleibende Erstattungsforderung in Höhe von 1.329,71 € ergeben. Aus den Sitzungsunterlagen der Vorsitzenden und der damaligen Tonaufnahme ergäbe sich, dass die Formulierung des Teilanerkenntnisses lautete: „Der Bescheid vom 10. März 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. April 2014 wird insoweit aufgehoben, als von der Klägerin eine Erstattung über den Betrag von 1.329,71 Euro hinaus verlangt wird.“ Auf den Inhalt der schriftlichen Zeugenaussage wird Bezug genommen. 


Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

1.
Die Beteiligten streiten vorliegend um das Bestehen bzw. Nichtbestehen einer Erstattungsforderung in Höhe von ursprünglich 1.329,71 € aus dem Bescheid des Beklagten vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.02.2014, abgeändert durch das Teilanerkenntnis des Beklagten vom 16.01.2017. Maßgebend ist die Auslegung des angenommenen Teilanerkenntnisses des Beklagten vom 16.01.2017. Statthafte Klageart ist die Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Klage im Übrigen bestehen nicht.

2.
Die Klage ist unbegründet, da die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung des Nichtbestehens einer Erstattungsforderung des Beklagten in Höhe von ursprünglich insgesamt 1.329,71 € hat. 

a.
Das Teilanerkenntnis des Beklagten vom 16.01.2017 war dahingehend auszulegen, dass der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014 teilweise, nämlich hinsichtlich eines Betrag in Höhe von 207,20 €, aufgehoben wurde und von der Klägerin nur noch ein reduzierter Erstattungsbetrag, nämlich in Höhe von 1.329,71 €, zurückgefordert wurde. 
Bei einem Teilanerkenntnis handelt es sich um eine einseitige Erklärung, mittels welcher der prozessuale Anspruch hinsichtlich eines abtrennbaren Teils des Streitgegenstands zugestanden wird (Müller in BeckOGK, 1.2.2023, SGG § 101 Rn. 40). Das angenommene Teilanerkenntnis und die Erledigungserklärung hinsichtlich des Rechtsstreits im Übrigen erledigen den Rechtsstreit sodann in der Hauptsache.
Bei Prozesserklärungen ist das Gewollte, also das verfolgte Ziel, im Wege der Auslegung festzustellen (BSG Urteil vom 14.6.2018 - B 9 SB 2/16 R - SozR 4-1500 § 92 Nr. 4 RdNr. 12 mwN). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (BSG Beschluss vom 12.12.2019 – B 10 EG 3/19 B, BeckRS 2019, 37942 Rn. 9).
Maßgebend für die Auslegung des Teilanerkenntnisses vom 16.01.2017 ist hier die damalige Sach- und Rechtslage, welche im Termin vom 16.01.2017 thematisiert wurde. Ausweislich der schriftlichen Zeugenaussage der damaligen Vorsitzenden der 9. Kammer des Sozialgerichts Darmstadt, Frau Richter am Sozialgericht Schlecht, vom 30.06.2021, war dem Beklagten im Termin vom 16.01.2017 angeraten worden, ein Teilanerkenntnis dahingehend abzugeben, dass die Erstattungsforderung aus dem Bescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014 in Höhe von ursprünglich 1.536,91 € für den Monat Dezember 2013 um 56 % bezogen auf die Unterkunftskosten ohne Kosten für Heizung und Warmwasser, also um einen Betrag in Höhe von 207,20 €, reduziert werden solle. Aufgrund der damaligen Rechtslage seien aufgrund des § 40 Abs. 4 S. 1 SGB II abweichend von § 50 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) 56 % der bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II und des Sozialgeldes berücksichtigten Bedarfe für Unterkunft ohne Heizung und Warmwasserversorgung nicht zu erstatten gewesen. Es habe sich eine verbliebene Erstattungsforderung in Höhe von 1.329,71 € ergeben. 
Laut den damaligen Sitzungsunterlagen der Vorsitzenden und der noch vorhandenen Tonaufnahme des damaligen Sitzungstermins sei das Teilanerkenntnis wie folgt formuliert worden: „Der Bescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014 wird insoweit aufgehoben, als von der Klägerin eine Erstattung über den Betrag von 1.329,71 € hinaus verlangt wird.“ 

Eine andere Auslegung ergibt sich auch nicht aus der Sitzungsniederschrift des Termins vom 16.01.2017. Zwar ist im Protokoll folgende Formulierung niedergeschrieben worden: „Der Bescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014 wird insoweit aufgehoben, als von der Klägerin eine Erstattung über den Betrag von 1.329,71 EUR verlangt wird“. Allerdings entfaltet die Sitzungsniederschrift bzw. das Protokoll keine Beweiskraft über den konkreten Inhalt der Verhandlung. Gemäß § 122 SGG gelten für das Protokoll die §§ 159 bis 165 der Zivilprozessordnung (ZPO) entsprechend. Gemäß § 165 ZPO kann die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden. Von der Beweiskraft des Protokolls nach Maßgabe des § 165 ZPO nicht erfasst ist hingegen der in die Sitzungsniederschrift aufgenommene konkrete Inhalt der Verhandlung und dementsprechend auch nicht der konkrete Inhalt und die Wirksamkeit abgegebener Prozesshandlungen (Wendtland in BeckOK ZPO, 47. Ed. 1.12.2022, § 165 ZPO Rn. 5). Die Beweiskraft des Protokolls erstreckt sich für einseitige Prozesshandlungen nach § 160 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3, Nr. 8 und Nr. 9; Protokolls nur darauf, dass die entsprechenden Erklärungen abgegeben worden sind (Stadler in Musielak/Voit/, 19. Aufl. 2022, § 165 ZPO Rn. 2).
Das Teilanerkenntnis des Beklagten vom 16.01.2017 war somit dahingehend auszulegen, dass die Erstattungsforderung des Beklagten aus dem Bescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014 auf einen Betrag in Höhe von insgesamt 1.329,71 € reduziert wurde. Der prozessuale Anspruch der Klägerin wurde vom Beklagten also teilweise, nämlich in Höhe von 207,20 €, zugestanden. 

b.
Hinsichtlich der Annahme- und Erledigungserklärung der Klägerin im Termin vom 16.01.2017 gilt das oben zur Auslegung von Prozesserklärungen und zur Beweiskraft des Protokolls Gesagte entsprechend. Der rechtsanwaltlich vertretenen Klägerin waren die Umstände – die Erläuterung der damaligen Sach- und Rechtslage durch die Vorsitzende Richterin Schlecht –, die zur Abgabe des Teilanerkenntnisses geführt hatten, bekannt. Sie hat das wie oben auszulegende Teilanerkenntnis des Beklagten angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen für erledigt erklärt. 

3.
Der Beklagte hatte somit einen Anspruch gegen die Klägerin in Höhe von ursprünglich 1.329,71 € aus dem Bescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014, welcher durch Zahlung im Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes teilweise, nämlich in Höhe von 207,20 €, erloschen ist. Dem Beklagten steht somit noch eine (Rest-)Forderung aus dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2014 in Höhe von 1.122,51 € zu. 

Die Klage war mithin abzuweisen.

4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache.
 

Rechtskraft
Aus
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