L 9 SO 367/22 B ER

Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 35 SO 235/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 367/22 B ER
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

hat der 9. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen am 27.01.2023 durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Dr. O., den Richter am Landessozialgericht Dr. M. und die Richterin am Landessozialgericht Dr. F. beschlossen:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 14.11.2022 aufgehoben. Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ist zulässig.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Die Beschwerde zum Bundessozialgericht wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt die Aufnahme eines leistungsberechtigen Menschen mit Behinderung in das Leistungsangebot der Antragsgegnerin.

Der Antragsteller ist gem. § 94 Abs. 1 SGB IX iVm § 1 Abs. 1 AG-SGB IX NRW einer der beiden Träger der Eingliederungshilfe für Erwachsene in Nordrhein-Westfalen. Die Antragsgegnerin ist ein Anbieter von Leistungen für Menschen mit Behinderungen. Der N01 geborene Leistungsberechtigte lebt seit 2010 in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche der Antragsgegnerin. Bei ihm bestehen ein frühkindlicher Autismus und eine geistige Behinderung mit erheblichen Verhaltensauffälligkeiten in Form von provokantem Verhalten und aggressiven Impulsdurchbrüchen. Die Kosten für die Betreuung trägt der Antragsteller.

Aufgrund des Alters des Leistungsberechtigten wurde ein Wechsel in eine besondere Wohnform für Erwachsene erforderlich, so dass der Antragsteller und die Antragsgegnerin in entsprechende Verhandlungen eintraten. Der Antragsteller bot zunächst mit Schreiben vom 24.11.2021 die Zahlung eines Zuschlags zur regulären Vergütung an, dieses Angebot lehnte die Antragsgegnerin ab. Der Antragsteller stellte sich daraufhin auf den Standpunkt, ein Zuschlag zu der regulären Vergütung könne nach der Rechtsprechung des BSG überhaupt nicht verlangt werden und die Antragsgegnerin sei gem. § 123 Abs. 4 SGB IX zur Aufnahme des Leistungsberechtigen in ihr Angebot verpflichtet. Die Antragsgegnerin kündigte den Betreuungsvertrag mit dem Leistungsberechtigen mit Schreiben vom 08.09.2022 zum 31.10.2022 und forderte ihn zum Auszug auf. Die Aufnahme in eine besondere Wohnform für Erwachsene zu den von dem Antragsteller angebotenen Konditionen lehnte sie weiter ab.

Der Antragsteller hat am 24.10.2022 bei dem Sozialgericht Detmold beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Leistungsberechtigten in ihr Leistungsangebot „L.“, U., aufzunehmen. Der Anspruch folge aus § 123 Abs. 4 SGB IX und Teil A Nr. 5 des Landesrahmenvertrages Nordrhein-Westfalennach § 131 SGB IX.

Das Sozialgericht hat den Rechtsweg zu den Sozialgerichten mit Beschluss vom 14.11.2022, dem Antragsteller zugestellt am 16.11.2022, für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Bielefeld verwiesen. Der Antragsteller mache einen Anspruch auf Abschluss eines zivilrechtlichen Wohn- und Betreuungsvertrages geltend, der bei den Zivilgerichten zu verfolgen sei. Daran änderten auch ein möglicherweise bestehender Kontrahierungszwang und die Geltendmachung des Anspruchs durch den Antragsteller nichts.

Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 21.11.2022.

II.

Auf die Beschwerde des Antragstellers ist der Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 14.11.2022 aufzuheben. Das Sozialgericht hat den Rechtsstreit zu Unrecht an das Landgericht verwiesen. Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ist zulässig.

1. Die Beschwerde statthaft und auch sonst zulässig. Hält nach Anrufung eines Gerichts dieses den beschrittenen Rechtsweg für unzulässig, spricht es dies von Amts wegen aus und verweist den Rechtsstreit zugleich an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtsweges (§ 17a Abs. 2 Satz 1 GVG). Gegen einen solchen Beschluss ist gemäß § 17a Abs. 4 Satz 3 GVG die sofortige Beschwerde nach den Vorschriften der jeweils anzuwendenden Verfahrensordnung gegeben. Gegen einen Rechtswegbeschluss des SG ist damit binnen eines Monats (§ 173 Satz 1 SGG) nach Zustellung des Beschlusses beim LSG Beschwerde einzulegen (BSG Beschluss vom 22.04.2009 – B 13 SF 1/08 R). Der Antragsteller hat diese Frist gewahrt.

2. Die Beschwerde ist begründet, denn der Sozialrechtsweg ist eröffnet. Bei dem Antrag auf einstweilige Anordnung handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten nach Teil 2 des SGB IX (§ 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG).

Ob eine Streitigkeit öffentlich-rechtlich oder bürgerlich-rechtlich ist, richtet sich, wenn - wie hier - eine ausdrückliche Rechtswegzuweisung des Gesetzgebers fehlt, nach der Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird. Dieser Grundsatz bestimmt die Auslegung sowohl von § 13 GVG als auch von § 51 Abs. 1 SGG. Entscheidend ist die wahre Natur des Anspruchs, wie er sich nach dem Sachvortrag der Klägerin darstellt, und nicht, ob diese sich auf eine zivilrechtliche oder eine öffentlich-rechtliche Anspruchsgrundlage beruft (so GmSOGB Beschluss vom 10.07.1989 – GmS-OGB 1/88).

Der Antragsteller macht einen Anspruch geltend, der dem öffentlichen Recht unterfällt. Dies folgt daraus, dass er eigene Ansprüche gegenüber der Antragsgegnerin verfolgt und nicht etwa solche des Leistungsberechtigen (zB als dessen Prozessstandschafter).

Das Leistungserbringungsrecht der Eingliederungshilfe ist durch das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis geprägt, das die wechselseitigen Rechtsbeziehungen zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe, dem Leistungsberechtigten und dem Leistungserbringer sinnbildlich darstellt (grundlegend BSG Urteil vom 28.10.2008 – B 8 SO 22/07 R). Diese Grundsätze hat das BSG für die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII entwickelt, sie gelten aber nach der Neuregelung im SGB IX weiter, denn der Gesetzgeber hat das Vertragsrecht des SGB XII und das des SGB IX weitgehend einheitlich gestaltet (vgl. BT-Drs. 18/9522, S. 337). Der Leistungsberechtigte schließt mit dem Leistungserbringer im Erfüllungsverhältnis einen Vertrag über eine bestimmte Leistung ab. Die gegenüber dem Leistungserbringer bestehende Zahlungsverpflichtung des Leistungsberechtigten ist der Bedarf, den der Leistungsträger im Grundverhältnis decken muss. Der Anspruch des Leistungsberechtigten gegen den Leistungsträger ist auf dessen Beitritt zu der privatrechtlichen Schuld bei dem Leistungserbringer gerichtet (BSG Urteil vom 06.12.2018 – B 8 SO 9/18 R). Zwischen dem Leistungsträger und dem Leistungserbringer bestehen Vereinbarungen nach § 123 SGB IX, diese Rechtsbeziehung wird als Leistungsverschaffungsverhältnis bezeichnet (BSG Beschluss vom 18.03.2014 – B 8 SF 2/13 R). Das Grundverhältnis und das Leistungsverschaffungsverhältnis beruhen auf öffentlich-rechtlichen Rechtsbeziehungen, bei dem Erfüllungsverhältnis handelt es sich um die zivilrechtliche Seite des sozialhilferechtlichen Dreiecks (BSG Urteil vom 06.12.2018 – B 8 SO 9/18 R).

Der Antragsteller macht im vorliegenden Verfahren allein Ansprüche aus dem öffentlich-rechtlichen Leistungsverschaffungsverhältnis geltend. Dies folgt besonders deutlich aus seinem Schriftsatz vom 07.11.2022, in dem er zwischen den Ansprüchen des Leistungsberechtigten und seinen eigenen Ansprüchen differenziert. Nur die letztgenannten Ansprüche will er geltend machen. Auch in der Beschwerdeschrift beruft er sich wieder auf eigene Ansprüche, die sich nach seiner Ansicht aus § 123 Abs. 4 SGB IX und Teil A Nr. 5 des Landesrahmenvertrages Nordrhein-Westfalen nach § 131 SGB IX ergeben.

Anders als das Sozialgericht meint, macht der Antragsteller keinen Anspruch auf Abschluss eines zivilrechtlichen Wohn- und Betreuungsvertrages geltend, sondern einen eigenen Anspruch auf „Aufnahme“ des Leistungsberechtigten. Dieses Begehren ist interessengerecht auszulegen als Geltendmachung eines Anspruchs des Leistungsträgers gegen den Leistungserbringer darauf, dass dieser dem Leistungsberechtigten (drittbegünstigend) die Option eines privatrechtlichen Aufnahmevertrags zu bestimmten (im Verhältnis zwischen dem Leistungsträger und dem Leistungserbringer vereinbarten bzw. gerichtlich festgelegten) Konditionen einräumt. Eine solche vom Leistungsträger durchsetzbare öffentlich-rechtliche Verpflichtung des Leistungserbringers auf Einräumung einer privatrechtlichen Option ist möglich. § 123 Abs. 4 Satz 1 SGB IX regelt – ähnlich wie § 75 Abs. 4 SGB XII – eine gesetzliche Verpflichtung des Leistungserbringers, Leistungsberechtigte im Rahmen seines Versorgungsauftrages aufzunehmen und die entsprechenden Leistungen zu erbringen. Dabei handelt es sich zunächst um eine objektive Verpflichtung. Die Regelung beinhaltet nach überwiegender Ansicht jedoch auch einen Kontrahierungszwang zugunsten des Leistungsberechtigten (Banafsche, in BeckOK SozR, SGB IX § 123 Rn. 38; Busse, in JurisPK SGB IX § 123 Rn. 71; Lange, in JurisPK SGB XII, § 75, Rn. 95; aA Streichsbier, in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl., § 75 Rn. 38a). Möglich ist neben diesem Anspruch des Leistungsberechtigten auch ein eigener Anspruch des Leistungsträgers gegen den Leistungserbringer in der beschriebenen Ausgestaltung (in diesem Sinne Busse, in JurisPK SGB IX § 123 Rn. 71), damit der Leistungsträger seinem Sicherstellungsauftrag gem. § 95 SGB IX nachkommen kann. Der Leistungsberechtigte ist in dem Hauptsacheverfahren notwendig beizuladen (§ 75 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 SGG).

3. Eine Kostenentscheidung hat nicht zu erfolgen. Zwar hat nach der Rechtsprechung des BSG in Verfahren über eine Rechtswegbeschwerde grundsätzlich eine Kostenentscheidung zu ergehen (BSG Beschluss vom 01.04.2009 – B 14 SF 1/08 R, hieran anschließend BSG Beschluss vom 12.04.2018 – B 14 SF 1/18 R). Dies gilt jedoch nicht bei einer begründeten Rechtswegebeschwerde, denn in einem solchen Fall ist die Entscheidung über die Kosten der Rechtswegebeschwerde der Entscheidung über die Kosten des Hauptsacheverfahrens vorzubehalten (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 20.02.2019 – L 7 AS 2024/18 B; LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 08.10.2021 – L 4 AS 341/21 B; für die FGO BFH Beschluss vom 28.06.2022 – II B 93/21).

4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG). Im einstweiligen Rechtsschutz ist die Zulassung der weiteren Beschwerde an das BSG gem. § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG ausgeschlossen (BSG Beschlüsse vom 06.03.2019 – B 3 SF 1/18 R und vom 24.01.2008 – B 3 SF 1/08).

 

Rechtskraft
Aus
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