S 12 KR 462/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 KR 462/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Bei Mann-zu-Frau-Transsexualität kann im Einzelfall eine stimmerhöhende Operation medizinisch erforderlich sein, um eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des weiblichen Geschlechts zu erreichen.

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 12.04.2021 und 02.07.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.10.2021 verurteilt, die Kosten für eine stimmerhöhende Operation in einer Vertragsklinik zu übernehmen.

II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.


T a t b e s t a n d :
Streitgegenstand ist eine stimmerhöhende Operation bei Transsexualität.

Die 1976 geborene Klägerin arbeitet als Bauleiterin im Hochbau und ist bei der Beklagten krankenversichert. Es besteht eine Mann-zu-Frau-Transsexualität. Nach verhaltenstherapeutischer Begleitung erfolgten ab 2018 gegengeschlechtliche Hormonbehandlung und geschlechtsangleichende Operationen (Genitalangleichung, operativer Brustaufbau). Außerdem wurde eine logopädische Behandlung durchgeführt. 

Mit E-Mail vom 11.03.2021 beantragte die Klägerin eine "Stimmbandoperation". Beigefügt war ein Arztbrief der Prof. Dr. E. vom 24.02.2021, LMU Klinikum, Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie. Berichtet wird über eine Voruntersuchung zur Stimmangleichung bei Mann-zu-Frau-Transsexualität. Vom äußeren Erscheinungsbild entspreche die Klägerin eindeutig einer Frau. Die Stimme sei allerdings noch nicht passend. Sie könne die Stimme zwar zeitweise erhöhen und damit deutlich weiblicher klingen, dies sei allerdings sehr anstrengend, sodass sie dann immer wieder in die tiefere Stimmlage rutschen würde. Insbesondere im Beruf mit der Notwendigkeit des lauteren Sprechens könne sie die höhere Stimmlage nicht halten und werde am Telefon immer für einen Mann gehalten. Die Stimmanalyse ergab eine mittlere Sprechstimmlage von 143,15 Hz. Bei dieser erhöhten Stimmlage fand sich eine asthenische Stimme. Laut Beurteilung war ihre Stimme zwar künstlich erhöhbar, aber auf Kosten der Stimmqualität und der Stimmenphysiologie. Auf Dauer seien bei einer unangepassten stimmlichen Anstrengung mit hör- und messbaren Auffälligkeiten der höheren Stimmlage Folgestörungen der Stimme zu erwarten. Da logopädische Therapie keinen ausreichenden Effekt auf den Stimmgebrauch gehabt habe, empfehle man die geschlechtsangleichende chirurgische Therapie der Stimme. Vorher sollte ein CT zur Auswahl der passenden Methode stattfinden. 
Die Beklagte schaltete den Medizinischen Dienst (MD) Bayern zur Beurteilung ein, lehnte den Antrag jedoch mit Bescheid vom 12.04.2021 ab, weil die Stellungnahme des MD noch nicht eingegangen war.
Der MD-Gutachter S. (HNO-Facharzt) führte in seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 14.04.2021 aus, dass in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur stimmerhöhenden Operation nur geringe Fallzahlen mit kurzer Zeit der Nachbeobachtung beschrieben seien, und die Ergebnisse auch nicht so positiv wären, dass die Methode grundsätzlich empfohlen werden könne. In einer Studie hätten lediglich 30 % im Beobachtungszeitraum eine weibliche Stimmlage erreicht. Auch träten Komplikationen auf. Es handle sich bei einer stimmerhöhenden Operation nicht um einen harmlosen Eingriff, bei dem mit geringen Mitteln risikoarm ein dauerhafter und gewünschter Erfolg erzielt werden könne. Vielmehr sei mit einer nicht geringen Komplikationsrate zu rechnen und über das Ausmaß der Stimmerhöhung und die Dauer des Erfolges lägen nach wie vor keine Daten mit ausreichend hoher wissenschaftlicher Evidenz vor. Da Logopädie bei der Klägerin zumindest zu einer zeitweisen Erhöhung der Sprechstimmlage geführt habe, solle diese Behandlung fortgesetzt werden. Die Voraussetzungen für die begehrte Operation könnten nicht bestätigt werden.

Die Klägerin beantragte dann erneut am 26.05.2021 die stimmerhöhende Operation und fügte zusätzlich eine Bescheinigung des Psychologischen Psychotherapeuten Dr. H. vom 14.05.2021 bei sowie eine Bescheinigung ihrer damaligen Arbeitgeberin. Dr. H. bestätigt die Durchführung von Verhaltenstherapie ab 2017 für 18 Monate. Außer der Transsexualität lägen keine psychiatrischen Erkrankungen vor. Leidensdruck bezüglich der Stimme werde beschrieben. Sie könne kein weibliches Stimmbild erreichen und fühle sich durch Nachfragen am Telefon entwürdigt bzw. beschämt. In der oft lärmintensiven Umgebung und physischen Distanz auf Baustellen müsse sie mit kräftiger und lauter Stimme sprechen, dabei breche die Stimme häufig und in der Logopädie erlernte Strategien würden nicht greifen. Mehrfach sei sie unfreiwillig geoutet und von Kunden und Mitarbeitern diskriminiert worden. Sie entwickle deshalb im privaten Umfeld zunehmend eine sekundäre Sozialphobie und habe Angst, sich in größeren sozialen Runden zu bewegen, und vermeide es im öffentlichen Raum ihre Stimme zu gebrauchen, um schwierigen Situationen aus dem Weg zu gehen. Dr. H. befürwortet aus psychotherapeutischer Sicht die chirurgische Maßnahme zur Stimmerhöhung, diese sei zweckmäßig und alternativlos. Es handle sich um eine notwendige Intervention zur psychosozialen Integration der Klägerin. Laut Schreiben der Arbeitgeberin vom 26.05.2021 sei die Klägerin als Bauleiterin das Bindeglied zwischen Kunden, Geschäftsleitung und Angestellten und es komme am Telefon oft aufgrund der männlichen Stimme zu Missverständnissen bezüglich ihrer Person und im schlimmsten Fall auch einem peinlichen Outing. Dies störe den geschäftlichen Ablauf und verstöre manche Kunden, teils sogar soweit dass es zum Entzug des Auftrags kam bzw. kein Auftrag zustande gekommen sei. Der MD-Gutachter Dr. E. führte in seiner Stellungnahme vom 30.06.2021 aus, dass die Klägerin wohl nie eine Stimmhöhe erreichen werde, die zur einer genotypisch durchschnittlichen Frau passe. Auch gebe es genotypisch "echte" Frauen mit natürlich tiefer Stimme, die ebenfalls am Telefon fälschlich als Mann eingeschätzt werden könnten. Auch bei funktioneller Stimmstörung oder einer organischen Erkrankung sei die tiefe Stimme einer Frau möglich. Zudem könne es auch Körpermerkmale (zum Beispiel Schulterbreite) geben, die bei einer Mann-zu-Frau-Transsexuellen nicht verborgen bleiben könnten. Auch könne nach der Studienlage ein Langzeitergebnis der geplanten Operation nicht positiv wissenschaftlich beurteilt werden. Es handle sich um ein nicht etabliertes Verfahren. Eine sozialmedizinische Indikation verneinte der Gutachter. Laut Telefonvermerk hat die Klägerin am 02.07.2021 angegeben, dass sie den Widerspruch gegen einen Neuantrag ausgetauscht habe. Die Beklagte lehnte dann mit weiterem Bescheid vom 02.07.2021 die Kostenübernahme für die Stimmerhöhende Operation ab. Außerdem hieß es in einem weiteren Schreiben vom 12.07.2021, dass man auf den Widerspruch zurückkomme und es bei der Entscheidung vom 12.04.2021 verbleibe.
Es ging noch ein Brief der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti) vom 29.07.2021 an den Vorstand der Beklagten ein, in dem um Genehmigung der Maßnahme gebeten wurde. Es gehe nicht um die Annäherung an ein Idealbild, vielmehr solle in Verbindung mit der bereits in der Sprechtherapie erreichten Modulation der Stimme eine als weiblich wahrgenommene Sprechstimme erreicht werden. Üblicherweise werde mit den Operationstechniken 3-5 Halbtöne Erhöhung erreicht. Zudem bestehe die Gefahr einer Schädigung der Stimme laut Bericht der LMU. Die Beklagte wies nach einer weiteren Stellungnahme des Dr. E. vom 26.08.2021 mit Widerspruchsbescheid vom 05.10.2021 den Widerspruch ausdrücklich gegen den Bescheid vom 12.04.2021 zurück.

Die Bevollmächtigte der Klägerin hat am 27.10.2021 dagegen Klage beim Sozialgericht Augsburg erhoben. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass die Stimme zu den sekundären Geschlechtsmerkmalen gehöre und auf die Begutachtungsanleitung des MDS verwiesen, wo auch die Stimmlagenkorrektur als mögliche geschlechtsangleichende Operationstechnik genannt werde. Die Voraussetzung eines Leidensdrucks nach logopädischer und psychotherapeutischer Behandlung sei gegeben. Die tiefe Stimme der Klägerin stehe einer deutlichen Annäherung an das andere Geschlecht entgegen. Logopädie über zweieinhalb Monate mit 15 Sitzungen habe nur einen begrenzten Erfolg gebracht. Die Klägerin befinde sich noch nicht in einer indifferenten Stimmlage, wo keine eindeutige Einordnung als weiblich oder männlich erfolge, sondern im männlichen Bereich. Zudem bestehe derzeit die Gefahr einer Stimmschädigung. Leidensdruck entstehe durch die Inkongruenz zwischen dem wahrgenommenen Selbstbild und der Wahrnehmung durch Dritte. Laut Leitlinie sei die Operation auch eine geeignete Maßnahme zur Geschlechtsangleichung. Demgegenüber hat die Beklagte eine weitere Stellungnahme des Dr. E. vom 24.03.2022 vorgelegt, in dem dieser das Ergebnis einer Literaturrecherche wiedergibt. Danach ist er bei seiner bisherigen Einschätzung verblieben.
Das Gericht hat im Hinblick darauf, dass die Sprachtherapie bereits im Jahr 2018 stattgefunden hatte, und damit bevor die Klägerin zur Nichtraucherin wurde, angeregt, zunächst nochmals eine Sprachtherapie durchzuführen. Dies ist dann geschehen. Die Klägerbevollmächtigte hat einen Bericht der Logopädin D. vom 11.04.2022 vorgelegt zur Sprachtherapie im Jahr 2018 sowie einen weiteren Bericht vom 23.08.2022 über zehn Therapieeinheiten vom 01.06.2022 bis 23.08.2022. Ziel sei es gewesen, die mittlere Sprechstimmlage durchgängig zumindest in den androgynen Bereich zwischen 160 Hz und 170 Hz anzuheben. Wenn die Klägerin sich auf das Sprechen konzentriere, was man normalerweise im Alltag nicht tue, gelinge ihr das zeitweise ganz gut. Bei längerem Sprechen in höherer mittlerer (androgyner) Sprechstimmlage träten jedoch hör- und sichtbare Zeichen eine Hyperfunktion auf, die langfristig zu Folgeschäden am Stimmapparat führen könnten. Eine weitere Anhebung in den eindeutig weiblichen Frequenzbereich über 180 Hz würde zu einer deutlichen Verschlechterung der Stimmqualität mit Pressphonation führen und sei daher therapeutisch nicht zu verantworten. In Situationen, in denen die Klägerin unvorbereitet angesprochen werde, müder sei oder lauter sprechen müsse, rutsche die Stimme nach wie vor in den männlichen Frequenzbereich ab. Da über die logopädische Therapie allein keine Stimmfeminisierung möglich sei, seien chirurgische stimmangleichende Maßnahmen unbedingt erforderlich.
Außerdem hat die Bevollmächtigte ein Schreiben vom 08.09.2022 des Dr. M., Leitender Oberarzt an der Klinik für Audiologie und Phoniatrie der Charité, vorgelegt. Die mittlere Sprechstimmlage sei im auditiven Stimmbefund mit 93 Hz selbst für Männer unterdurchschnittlich tief. Das Stimmtimbre sei insgesamt dunkler und eindeutig männlich. Es erfolgte die Indikationsstellung zur Glottoplastik mit entsprechender Risikoaufklärung.
Das Gericht hat anschließend Prof. Dr. F., Facharzt für HNO-Heilkunde, für Phoniatrie und Pädaudiologie, mit der Untersuchung und Begutachtung beauftragt. In seinem Gutachten vom 09.01.2023 schildert er eine mittlere spontane Sprechstimmlage und beim Vorlesen eines Textes um 90 Hz. Die auditiven und apparativen Befunde würden für eine normale männliche Stimme sprechen. Die Stimmhöhe sei aktuell männlich, das äußere Erscheinungsbild weiblich. Er habe prononciert die dem sonstigen Eindruck diametral widersprechende tiefe Stimme als nicht geschlechtskongruent wahrgenommen. Die logopädische Therapie habe zu keiner anhaltenden alltagsrelevanten Anpassung hin zu einer weiblichen Stimmhöhe geführt. Eine operative Stimmerhöhung sei möglich, wobei die wissenschaftliche Datenlage keine Aussage zur Überlegenheit einer bestimmten Operationstechnik erlaube. Aus seiner Sicht bestehe die medizinische Indikation für eine stimmerhöhende Operation.
Die Beklagte ist bei ihrer bisherigen Einschätzung verblieben unter Berufung auf die Stellungnahme des MD. Für sie stelle sich hier auch die Frage, ob sich dann generell die Notwendigkeit für eine entsprechende Stimmlagenoperation ergeben könne.

In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin Angaben zu ihrem Arbeitsplatz gemacht und erklärt, dass ihr Problem sei, dass sie immer wieder in die niedrigere Stimmlage rutsche. Sie wurde dann auch gebeten, einen Text vorzulesen in normaler Stimmlage und lauter. Die Kammer hat dann nach Beratung zum Ohrenschein ihrer Stimme folgendes festgestellt:
"Am Anfang, als die Klägerin nur wenige Worte eingeworfen hat, bestand eher der Eindruck einer tiefen Stimme, also wenn sie nicht voll darauf konzentriert ist zu reden. Beim freien Sprechen war die Stimme durchaus als weiblich identifizierbar, allerdings deutlich erkennbar, dass sie dies nicht durchgehend durchhalten kann. Und je länger und angestrengter sie spricht, desto mehr Einbrüche in einen tieferen eindeutig männlich erkennbaren Stimmbereich kommen. Dies war auch beim Vorlesen eines Textes ersichtlich. Die Stimme klingt von Haus aus schon etwas tiefer beim Vorlesen und es waren immer wieder Einbrüchen in eine männliche Stimmlage und Sprechweise erkennbar. Deutlicher wurde dies noch bei lauteren Vorlesen eines Textes, wobei die Lautstärke eher gemäßigt war, keinesfalls schreiend. Insgesamt hat die Kammer den Eindruck einer nicht eindeutig weiblichen Stimme, sondern vielmehr in einem klar männlichen Bereich, wenn die Klägerin länger, lauter oder unvorbereitet reden muss."

Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt, 
die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 12.04.2021 und 02.07.2021, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.10.2021, zu verurteilen, der Klägerin die Stimmbandoperation zu gewähren.

Die Bevollmächtigte der Beklagten beantragt, 
  die Klage abzuweisen. 

Zur Ergänzung des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Akte der Beklagten Bezug genommen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Das angerufene Gericht ist gemäß §§ 57 Abs. 1, 51 Abs. 1, 8 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Entscheidung des Rechtsstreits örtlich und sachlich zuständig. Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig

Dabei war auch der Bescheid der Beklagten vom 02.07.2021 einzubeziehen, der während des laufenden Widerspruchsverfahrens als weitere Ablehnung erstellt wurde unter der Annahme, wie im Telefongespräch vom 02.07.2021 dokumentiert, dass der Widerspruch gegen einen Neuantrag ausgetauscht worden sei. Tatsächlich wurde der Widerspruch gegen den Bescheid vom 12.04.2021 jedoch nicht schriftlich zurückgenommen und danach von der Beklagten das Widerspruchsverfahren fortgeführt, wobei der Bescheid vom 02.07.2021 nicht ausdrücklich in das Widerspruchsverfahren einbezogen wurde, wie sich aus den Formulierungen des Widerspruchsbescheides ergibt, wo der Bescheid vom 02.07.2021 überhaupt nicht erwähnt wird. Zwar ist nach § 86 SGG ein während des Vorverfahrens erlassenen Verwaltungsakt nur dann automatisch Gegenstand des Widerspruchsverfahrens, wenn der vorhergehende Verwaltungsakt abgeändert wird. Dies gilt jedoch gleichermaßen nach der Rechtsprechung (vergleiche BSG vom 19.11.2009 - B 13 R 113/08 Rz. 12), wenn der bisherige Verwaltungsakt ersetzt wird. Dies war hier letztlich sinngemäß der Fall.

Die Klage ist auch begründet.
Die Bescheide der Beklagten vom 12.04.2021 und 02.07.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.10.2021 sind rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf Durchführung einer stimmerhöhenden Operation als Sachleistung in einer Vertragsklinik.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unter Einbeziehung der medizinischen Unterlagen, des gerichtlichen Gutachtens und insbesondere des Ohrenscheins in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht davon überzeugt, dass eine stimmerhöhende Operation ein weiterer notwendiger Baustein zur Geschlechtsangleichung bei der Klägerin ist.

Transsexuelle Versicherte können zur Minderung ihres psychischen Leidensdrucks Anspruch auf chirurgische Eingriffe in gesunde Organe haben. Die geschlechtsangleichende Operation muss zur Behandlung erforderlich sein. Daran fehlt es, wenn zum Erreichen der in § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Therapieziele Behandlungsmaßnahmen ausreichen, die ein Leben im anderen Geschlecht ohne somatische Maßnahmen unterstützen oder sich auf hormonelle Behandlungen ohne Operationen beschränken. Das Ausmaß des Anspruchs Transsexueller auf geschlechtsangleichende Behandlung bezieht sich unter Einbeziehungen der Wertungen des § 116b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. i SGB V auf der Basis der allgemeinen und besonderen Voraussetzungen des Anspruchs auf Krankenbehandlung. Besteht eine Indikation für eine begehrte geschlechtsangleichende Operation transsexueller Versicherter, bestimmen vornehmlich objektivierte medizinische Kriterien das erforderliche Ausmaß. Hierbei ist vor allem die Zielsetzung der Therapie zu berücksichtigen, den Leidensdruck der Betroffenen durch solche operativen Eingriffe zu lindern, die darauf gerichtet sind, das körperlich bestehende Geschlecht dem empfundenen Geschlecht anzunähern, es diesem näherungsweise anzupassen. Die Begrenzung auf eine bloße Annäherung des körperlichen Erscheinungsbildes an das gefühlte Geschlecht ergibt sich dabei nicht nur aus den faktischen Schranken, die hormonelle Therapie und Chirurgie setzen. Die Einräumung von Ansprüchen für transsexuelle Versicherte führt unverändert nicht dazu, Betroffenen Anspruch auf jegliche Art von geschlechtsangleichenden operativen Maßnahmen im Sinne einer optimalen Annäherung an ein vermeintliches Idealbild und ohne Einhaltung der durch das Recht der GKV vorgegebenen allgemeinen Grenzen einzuräumen. Die Ansprüche sind vielmehr beschränkt auf einen Zustand, der aus der Sicht eines verständigen Betrachters dem Erscheinungsbild des anderen Geschlechts deutlich angenähert ist. (BSG vom 11.09.2012 - B 1 KR 3/12 R).

Diese Voraussetzungen sind hier im Einzelfall zur Überzeugung des Gerichts bei der Klägerin erfüllt.

Ein Transsexualismus liegt als gesicherte Diagnose vor. Die Klägerin hat nach geschlechtsangleichenden Operationen und hormoneller Behandlung ein äußerlich eindeutig weibliches Erscheinungsbild erreicht und "verhält sich" nach dem Eindruck des Gerichts in der mündlichen Verhandlung auch entsprechend weiblich, ohne dabei gekünstelt zu wirken.
Nicht dazu passend ist jedoch ihre "männliche" Stimme, die einen Bruch zum ansonsten eindeutig weiblichen Erscheinungsbild darstellt. Dabei geht es klar um die Stimmhöhe, da die Klägerin mit ihrer normalen, angelernt höheren Sprechstimme sich in einem durchaus für eine Frau akzeptablen Bereich bewegen würde und auch ihre Sprechmodulation dem weiblichen Sprechen angepasst ist. Allerdings wurde in der mündlichen Verhandlung deutlich, dass dieses weibliche Sprechen nicht andauernd durchgehalten werden kann. Offensichtlich benötigt die Klägerin Konzentration und Vorbereitung, um die angelernte höhere weiblichere Sprechstimme abrufen zu können, während dagegen ihre normale Sprechstimme relativ tief wäre, selbst für einen Mann. Dies wurde deutlich, als die Klägerin zu Beginn der mündlichen Verhandlung nur wenige Worte eingeworfen hatte, und ihre Stimme dabei deutlich tiefer lag als beim späteren längeren Sprechen und Vorlesen. Beim freien Sprechen war die Stimme durchaus als weiblich identifizierbar, allerdings wurde klar deutlich, dass je länger und angestrengter die Klägerin sprach, desto mehr Einbrüche in einen tieferen, eindeutig männlichen Stimmbereich aufgetreten sind. Beim längeren Vorlesen eines Textes klang die Stimme schon tiefer als vorher beim Sprechen, und es wurden immer wieder Einbrüche in eine männliche Stimmlage und auch männliche Sprechweise erkennbar, je länger die Klägerin die Konzentration auf das Vorlesen halten musste. Auffällig war dabei auch, dass ein lauteres oder auch leiseres Sprechen mit der angelernten höheren weiblichen Sprechstimme praktisch nicht möglich war.
Insgesamt entstand daher in der mündlichen Verhandlung für das Gericht der Eindruck einer männlichen Stimme, insbesondere wenn die Klägerin länger, lauter oder unvorbereitet reden muss. Auch die Logopädin Frau D. bestätigt in ihrem Bericht vom 23.08.2022 den Eindruck, dass in Situationen, wenn die Klägerin unvorbereitet angesprochen wird, müde ist oder lauter sprechen muss, ihre Stimme in den männlichen Frequenzbereich abrutscht. Ebenso hat der Gerichtsgutachter bestätigt, dass ihre Stimmhöhe von ihm als nicht geschlechtskongruent wahrgenommen wurde. 

Logopädische Therapie hat dabei zu keiner anhaltenden alltagsrelevanten Anpassung hin zu einer weiblichen Stimmhöhe geführt, die auch längerfristig ohne große Anstrengung durchgehalten werden könnte. Dies ergibt sich aus dem Bericht der Logopädin Frau D. vom 23.08.2022.

Ein anhaltender psychischer Leidensdruck wegen des immer wieder beim Sprechen vorkommenden, ungewollten Outings als "Mann", ist offensichtlich vorhanden. Dies bestätigt der psychologische Psychotherapeut Dr. H. in seiner Bescheinigung vom 14.05.2022. Auch das Gericht gewann in der mündlichen Verhandlung den Eindruck, dass der Klägerin das "Abrutschen" in einen männlichen Stimmbereich bzw. Probleme, den weiblichen Stimmbereich zu halten und weiblich zu antworten, äußerst peinlich sind und immer wieder zu Entschuldigungen geführt haben, sie daher derartige Situationen in ihrem Leben möglichst vermeiden möchte.

Eine stimmerhöhende Operation kann auch, wie der Gerichtsgutachter ausführt, zu einer Besserung der Sprechsituation beitragen, da die Klägerin bei einer konstitutionell höheren Sprechstimme sich nicht mehr derart "anstrengen" müsste, die weibliche Sprechlage und Sprechintonation zu halten.

Das Gericht sieht es daher insgesamt als erforderlich an, eine stimmerhöhende Operation bei der Klägerin durchzuführen. Denn eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des weiblichen Geschlechts ist im Bereich der Stimme noch nicht ausreichend eingetreten.
Das Argument der Beklagten, dass auch Frauen eine tiefe Stimmlage haben können, greift dabei nicht durch. Denn primär geht es nach dem Eindruck des Gerichts bei der Klägerin nicht um die Tiefe bzw. Höhe der Sprechstimme, sondern darum, dass die Klägerin die angelernte, höhere Sprechstimme nicht durchgehend halten kann, sondern immer wieder abrutscht in eine eindeutig männliche Stimmtiefe, teils verbunden auch mit einer dann männlichen Intonation. Das aber würde gerade bei einer Frau mit einer tiefen Stimme nicht auftreten, die ihre Stimmlage durchgehend halten kann und nach Bedarf auch entsprechend lauter und leiser sprechen kann. Gerade lautes Sprechen ist der Klägerin aber nicht möglich, was bei ihrem Beruf im Baubereich wichtig wäre.

Daher sieht das Gericht im Einzelfall die Voraussetzungen für eine stimmerhöhende Operation als gegeben an. Die Klage ist daher begründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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