L 1 U 1073/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 12 U 386/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 1073/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 18. März 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Bescheids über die Anerkennung von Unfallfolgen und begehrt die Gewährung einer Verletztenrente.

Er ist im Jahre 1983 geboren. Seit Januar 2007 war er als Schweißer in einem Unternehmen der Montagetechnik beschäftigt, das damals Mitglied der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG Bau) war. Am 3. September 2010 stieß er während der Arbeit mit der linken Schläfe und der Schulter gegen einen Stahlträger. D-Arzt O1 diagnostizierte am selben Tage eine Kopfplatzwunde links temporal und eine Schulterprellung links. Es bestanden keine neurologischen Auffälligkeiten. Die Platzwunde wurde genäht. Der Kläger war ab dem 13. September 2010 wieder arbeitsfähig.

Am 16. März 2011 wurde er notfallmäßig mit Schmerzen und Bewegungseinschränkungen der Halswirbelsäule (HWS) und Lähmungen im linken Arm in das T1 M1 aufgenommen. Er gab dort an, er leide seit einem Monat an Beschwerden. Diagnostiziert wurde ein radikuläres HWS-Syndrom mit Schwäche des M. Trizeps links bei NPP (Nucleus-pulposus-pro­laps, Bandscheibenvorfall) an den Halswirbelkörpern (C) 5/6. Es wurde eine Spondylodese (Wirbelkörperverblockung) durchgeführt (Entlassbrief vom 21. März 2011). Eine histologische Untersuchung des entnommenen Bandscheibenmaterials ergab degenerative Veränderungen.

Der Kläger meldete diese Behandlung der BG Bau und führte aus, bei dem Unfall sei sein Kopf von links nach rechts verdreht worden. Die BG Bau zog Behandlungsberichte bei. Dabei teilte M2 am 28. September 2011 mit, der Kläger habe am 18. Februar 2011 von Beschwerden an HWS und Hinterkopf seit dem Unfall berichtet.

Im Auftrag der BG Bau erstattete K1 das Zusammenhanggutachten vom 21. März 2012. Er ging von einer „Maximalrotation“ des Kopfes aus. Der Kläger leide seit dem Unfall an Schmerzen bei Bewegungen von Kopf und HWS, insbesondere bei Über-Kopf-Arbeiten, weswegen er auf die Einnahme von Ibuprofen angewiesen sei. Diese Beschwerden seien wesentlich durch den Unfall bedingt, auch wenn die bildgebenden und histologischen Befunde im März 2011 keine Unterscheidung zwischen „primärer“ und „sekundärer“ Degeneration des Bandscheibengewebes mehr zuließen. Der Kläger sei bis November 2011 unfallbedingt arbeitsunfähig gewesen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werde für noch ein Jahr (bis März 2013) 20 vH betragen, danach sei von einer MdE um 10 vH auszugehen.

Nachdem Beratungsarzt S1 einen Zusammenhang wegen des zeitlichen Abstands und des histologischen Befundes für nicht nachvollziehbar hielt, bekräftigte K1 am 21. August 2012 seine Einschätzung. M2 habe in seinem „Bericht vom 18. Februar 2011“ bestätigt, dass der Kläger die Beschwerden durchgehend seit dem Unfall beklagt habe. Dass der histologische Befund degenerative Vorschäden zeige, liege an dem langen Abstand zwischen Trauma und Entnahme des Bandscheibenmaterials.

Auf Nachfrage der BG Bau legte M2 am 22. November 2012 das Behandlungsblatt des Klägers vor. Danach hatte der Kläger am 18. Februar 2011 über „Schmerzen an HWS und Hinterkopf (seit) 10 Tagen“ geklagt. R1 teilte am 14. November 2012 mit, der Kläger habe am 11. März 2011 von Schmerzen seit drei Wochen gesprochen. Der Arbeitgeber des Klägers gab unter dem 29. April 2013 an, die Beschwerden an der HWS beständen seit dem Unfall.

Mit Bescheid vom 2. September 2013 bewilligte die BG Bau dem Kläger vom 24. Oktober 2011 bis zum 28. Februar 2013 eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH (Einmalzahlung von € 3.391,99). Darüber hinaus bestehe kein Rentenanspruch. Die BG Bau erkannte als Folgen des Arbeitsunfalls - neben den ausgeheilten Verletzungen an Kopf und Schulter - eine „endgradige Bewegungseinschränkung der HWS nach Wirbelkörperverblockung (Spondylodese) C5/6 mit teilweiser Entfernung der Bandscheiben (Nukleotomie) C5/6 und Einengung des Spinalkanals“ an.

Anfang 2015 wurde mit Wirkung ab April 2014 der Arbeitgeber des Klägers von der BG Bau zur Beklagten überwiesen, nachdem sich sein Geschäftsbetrieb verändert hatte.

Am 17. Mai 2019 beantragte der Kläger bei der BG Bau erneut eine Verletztenrente. Er leide aktuell an Schmerzen und Taubheitsgefühlen in der gesamten linken Körperhälfte, die auf den Arbeitsunfall zurückzuführen seien. Er teilte mit, er sei zum Dezember 2018 entlassen worden. Die BG Bau übersandte den Vorgang im Oktober 2019 an die Beklagte.

Im Auftrag der Beklagten erstattete - nach Auswahl durch den Kläger - G1 das Gutachten vom 23. Juni 2020. Er führte aus, ein Zusammenhang der Gesundheitsstörungen mit dem Unfall könne weder jetzt bejaht werden, noch sei er rückblickend zu erkennen. Auch eine Verschlimmerung gegenüber den maßgeblichen Vergleichsbefunden sei nicht festzustellen. Gegen einen Zusammenhang spreche, dass die Beschwerden erst Anfang 2011 aufgetreten seien. Etwas Anderes ergebe sich entgegen der Ansicht des damaligen Gutachters K1 auch nicht aus den zeitnahen Behandlungsberichten, insbesondere nicht aus den Angaben M3. Ferner habe der histologische Befund 2011 deutliche degenerative Veränderungen gezeigt.

Der Beratungsarzt der Beklagten, W1, stimmte dem zu und führte ergänzend aus, eine Verletzung der HWS sei nach dem Unfall nicht dokumentiert worden. Auch der spätere Verlauf mit weiteren Bandscheibenschäden bei C6/7 und an der LWS (L4/5 und L5/S1) spreche für degenerative Ursachen (Stellungnahme vom 2. September 2020).

Ohne vorherige Anhörung des Klägers erließ die Beklagte den Bescheid vom 14. Oktober 2020. Darin führte sie aus, der Bescheid vom 2. September 2013 sei rechtswidrig, denn die Beschwerden an der Wirbelsäule seien zu Unrecht als Folgen des Unfalls vom 3. September 2010 anerkannt worden. „Änderungen im Leistungsanspruch“ zu Gunsten des Klägers würden nicht gewährt, Ansprüche auf künftige Sach- und Geldleistungen beständen nicht. Zur Begründung gab die Beklagte an, die erneute Begutachtung durch G1 habe ergeben, dass rückblickend kein Zusammenhang zwischen den Beschwerden an der HWS und dem Unfall bestehe. Die Beklagte zitierte einige der Begründungen, die G1 für diese Einschätzung gegeben hatte. Sodann führte sie aus, der Bescheid vom 2. September 2013 könne nach § 45 Abs. 3 SGB X nicht mehr zurückgenommen werden, jedoch sei die „Aussparungsregelung“ aus § 48 Abs. 3 SGB X auch anwendbar, wenn - wie hier - der Fehler eines Bescheids nicht die Höhe von Geldleistungen, sondern die Grundlage der Leistungsbewilligung betreffe. Bei dem dabei auszuübenden Ermessen sei - unter anderem ‑ zu berücksichtigen, dass ohne Anwendung der Regelung „ein Anwachsen des Unrechts erfolgen“ würde, während dem Kläger keine Leistung entzogen werde, auf die er schutzwürdiges Vertrauen habe entwickeln können.

Den Widerspruch des Klägers, der weiterhin eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH begehrte, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 2021 zurück.

Am 11. Februar 2021 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Er hat vorgetragen, er leide nunmehr wegen des Arbeitsunfalls auch an einer depressiven Störung. Hierzu hat er das Attest des S2 vom 19. Mai 2020 vorgelegt („arbeitsplatzbedingte Problematik im Zusammenhang mit dem erlittenen Unfall trägt zur Entstehung bei“).

Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers (die R1 und H1 und den M4) schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Keiner von ihnen hat einen nachweisbaren Ursachenzusammenhang zwischen Unfall und HWS-Schäden des Klägers bejaht. Ferner hat das SG von Amts wegen bei P1 das Gutachten vom 20. Dezember 2021 erhoben. Dieser Sachverständige hat ausgeführt, es liege kein Unfallzusammenhang vor. Der Kläger neige offensichtlich zu vorzeitigen Verschleißerscheinungen der Bandscheiben. Ein Unfallhergang, der einen Bandscheibenvorfall verursachen könne, sei nicht dokumentiert. Auch fehlten ligamentäre oder strukturelle Begleitverletzungen, die aber zu erwarten seien, bevor ein Unfall zu einem Bandscheibenschaden führe. Gegen einen Zusammenhang sprächen ferner der zeitliche Abstand zwischen Unfall und Auftreten des Bandscheibenvorfalls, der histologische Befund des bei der Operation entnommenen Materials und die damals bildgebend festgestellten degenerativen Veränderungen.

Mit angekündigtem Gerichtsbescheid vom 18. März 2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Die von der Beklagten herangezogene Regelung in § 48 Abs. 3 SGB X gelte auch, wenn die Rechtswidrigkeit eines Bescheids nicht allein die Leistungshöhe, sondern auch den Grund der Leistung betreffe. Ihre Voraussetzungen lägen hier vor. Der Bescheid vom 2. September 2013 sei rechtswidrig gewesen. Die Sachaufklärung des SG, insbesondere das Gutachten von P1, hätten die entsprechenden Feststellungen der Beklagten bestätigt.

Der Kläger hat am 11. April 2022 Berufung zum Landessozialgericht erhoben. Er trägt vor, das SG und P1 hätten sich nicht mit dem konkreten Unfallablauf auseinandergesetzt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 18. März 2022 und den Bescheid der Beklagten vom 14. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 3. September 2010 eine Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie teilt ergänzend mit, nach dem Ende der damaligen Rentenbewilligung im Februar 2013 hätten weder sie noch die BG Bau dem Kläger Leistungen erbracht.

Ferner hat sie mit Schreiben vom 20. Februar 2023 die im Verwaltungsverfahren unterlassene Anhörung des Klägers zur Feststellung der Rechtswidrigkeit des Anerkennungsbescheids nachgeholt und dem Bevollmächtigten des Klägers das Gutachten von G1 übersandt.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist statthaft (§ 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG), insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig. Der Kläger wendet sich zum einen gegen die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Bescheids, zum anderen begehrt er laufende Sozialleistungen für mehr als ein Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Sie ist aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Dabei stellt der Kläger bei genauer Betrachtung zwei Klageanträge. Zum einen ficht er den Bescheid vom 14. Oktober 2020 isoliert als belastenden Verwaltungsakt an, soweit die Beklagte darin festgestellt hat, der Anerkennungs- und Bewilligungsbescheid vom 2. September 2013 sei rechtswidrig (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGG). Zum anderen erhebt er eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG), mit der er sein Begehren auf Gewährung einer Verletztenrente (also eine Verurteilung dem Grunde nach, § 130 Abs. 1 SGG) weiterverfolgt und damit zusammenhängend die Aufhebung der entsprechenden Ablehnungsentscheidung aus dem Bescheid vom 14. Oktober 2020 begehrt.

Beide Anträge sind zulässig. Insbesondere hat die Beklagte in dem angegriffenen Bescheid vom 14. Oktober 2020 - auch - über den Rentenantrag des Klägers ablehnend entschieden. Zwar stehen dort ebenso wie in dem Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 2021 Ausführungen zur Rechtswidrigkeit der früheren Anerkennung im Vordergrund. Bei sachgerechter Auslegung (§§ 133, 157 BGB) durfte der Kläger den Bescheiden aber auch eine Ablehnung seines Rentenantrags entnehmen, am ehesten in dem letzten Verfügungssatz, es bestehe kein Anspruch auf (künftige) Geld- und Sachleistungen. So erwähnt die Beklagte in dem Bescheid selbst den Antrag des Klägers vom 17. Mai 2019 bei der BG Bau, und in dem Widerspruchsbescheid wird - einmalig, in dem Hinweis auf die Widerspruchsbegründung - der Begriff „Verletztenrente“ genannt. Es wäre auch unverständlich, wenn die Beklagte gerade über jenen Antrag, der das Verwaltungsverfahren ausgelöst hatte, nicht hätte entscheiden wollen.

Die Anträge des Klägers sind jedoch nicht begründet. Die Beklagte war nach § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X befugt, festzustellen, dass der Bescheid vom 2. September 2013 rechtswidrig ist, soweit darin „Beschwerden an der Wirbelsäule“ als Folgen des Unfalls vom 3. September 2010 anerkannt worden sind. Auf dieser Grundlage durfte sie auch entscheiden, dass „Ansprüche auf künftige Sach- und Geldleistungen“, darunter auch die Verletztenrente, nicht bestehen.

Sie war für diese Entscheidung zuständig, auch wenn den ursprünglichen Bescheid vom 2. September 2013 nicht sie, sondern die BG Bau erlassen hatte. Nach § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X gilt - in allen Anwendungsfällen des § 48, also auch nach § 48 Abs. 3 SGB X - § 44 Abs. 3 SGB X entsprechend. Nach jener Vorschrift entscheidet (über die Rücknahme) nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist. Die Beklagte war aber wegen der zwischenzeitlichen Überweisung des Arbeitgebers in ihren Zuständigkeitsbereich (§ 136 Abs. 1 Satz 4 SGB VII) für den laufenden Leistungsfall des Klägers zuständig geworden (§ 137 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VII).

Jedoch litt der angefochtene Bescheid zunächst an einem Verfahrensfehler und war daher formal rechtswidrig. Die Beklagte griff mit ihrer Entscheidung von Amts wegen in bestehende, durch bindenden (§ 77 SGG) Verwaltungsakt festgestellte Rechte ein. Daher hätte sie den Kläger nach § 24 Abs. 1 SGB X vor ihrer Entscheidung anhören müssen. Keine der Ausnahmen von der Anhörungspflicht aus § 24 Abs. 2 SGB X lag hier vor. Insbesondere griff nicht die Regelung in Nr. 3 ein, wonach eine Anhörung unterbleiben kann, wenn von den Angaben des Betroffenen nicht abgewichen wird. Die Entscheidung der Beklagten nach § 48 Abs. 3 SGB X beruhte nicht auf den Angaben des Klägers, sondern auf den Feststellungen und Ausführungen des Gutachtens G1, das dem Kläger nicht übermittelt worden war. Es handelte sich insoweit um eine Überraschungsentscheidung. Nachdem der Kläger die erneute Gewährung einer Verletztenrente beantragt hatte, musste er nicht damit rechnen, dass die Beklagte bei dieser Gelegenheit den bindenden Anerkennungsbescheid vom 2. September 2013 für rechtswidrig erklären würde.

Dass Fehlen der notwendigen Anhörung war auch nicht unbeachtlich, § 42 Satz 2 SGB X.

Allerdings ist dieser Verfahrensfehler geheilt worden (§ 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X), und zwar nicht erst mit der formellen Anhörung des Klägers am 20. Februar 2023, sondern bereits im Widerspruchsverfahren. Der Kläger hatte nach Erhalt des Bescheids und Einlegung des Widerspruchs vom 16. Oktober 2020 Gelegenheit zur Stellungnahme. Ihm lagen auch alle notwendigen Hinweise vor, die die Beklagte im Rahmen der Anhörung nach § 24 Abs. 1 SGB X hätte mitteilen müssen. Die Beklagte hatte in dem Bescheid auf das Gutachten G2 hingewiesen und auch dessen wesentliche Ausführungen zitiert. Bei einem anwaltlich vertretenen Kläger reichen diese Informationen aus, um sachgerecht Stellung nehmen zu können. Der Bevollmächtigte des Klägers hätte auf Grund dieser Hinweise das Gutachten anfordern oder Akteneinsicht nehmen können, wenn er meinte, dass er noch genauere Angaben über die Einschätzungen des Sachverständigen benötigte (BSG, Urteil vom 14. Juli 2021 - B 6 KA 12/20 R -, SozR 4-2500 § 101 Nr. 22, Juris Rn. 25).

In der Sache lagen die Voraussetzungen des § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X vor.

Diese Vorschrift bestimmt: „Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach (§ 48) Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt.“

Über den Wortlaut hinaus ermächtigt diese Vorschrift einen Leistungsträger nicht nur, eine an sich erhöhte Leistung nicht oder nicht in voller Höhe neu festzusetzen, wenn der zu Grunde liegende Bewilligungsbescheid nicht mehr zurückgenommen werden kann: Vielmehr kann - und muss - ein Leistungsträger aus Gründen der Transparenz durch gesonderten Bescheid bzw. Verfügungssatz gerade auch die Feststellung treffen, dass der zu Grunde liegende Bescheid rechtswidrig ist (Brandenburg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 48 SGB X, Stand: 01.12.2017, Rn. 97). Diese Feststellung kann zusammen mit dem „Abschmelzen“ bzw. „Aussparen“ nach § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X erfolgen, aber auch selbstständig und zeitlich davor (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2004 - B 9 VS 1/04 R -, Rn. 15, juris). Eine solche vorzeitige, gesonderte Feststellung der Rechtswidrigkeit setzt dabei - noch - nicht voraus, dass in der Höhe des - zu Unrecht zuerkannten - Leistungsanspruchs eine Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten ist (BSG, a.a.O.). Vielmehr betrifft eine solche isolierte Feststellung der Rechtswidrigkeit alle künftigen, möglicherweise eintretenden Veränderungen in den Leistungsvoraussetzungen.

Ferner erfasst § 48 Abs. 3 SGB X nicht nur Fehler des ursprünglichen Bescheids, die sich auf die Höhe einer (laufenden) Geldleistung auswirken. Die Norm greift vielmehr auch dann ein, wenn der Fehler die Grundlage der Leistungsbewilligung betrifft. An dieser Auffassung hält das BSG in ständiger Rechtsprechung fest (BSG, Urteil vom 31. Januar 1989 - 2 RU 16/88 - Rn. 14, juris; Urteil vom 20. März 2007 - B 2 U 38/05 R -, Rn. 19, juris). Zur Begründung führt es aus, es sei unerheblich, ob ein rechtswidrig festgestellter Faktor oder eine rechtswidrig festgestellte Grundlage der Leistungsbewilligung die Ursache für ein späteres „Anwachsen des materiellen Unrechts“ durch eine Erhöhung der zu Unrecht zuerkannten Leistung sei. Insbesondere kann daher ein Unfallversicherungsträger auch dann nach § 48 Abs. 3 SGB X vorgehen, wenn bislang nur ein Anerkennungsbescheid - z.B. über die Folgen eines Arbeitsunfalls - vorliegt, aber Leistungen nicht mehr oder noch nicht bewilligt sind. In diesem Fall kann auf Grund des Anerkennungsbescheids, auch wenn er formal weiterbesteht, niemals ein Leistungsanspruch entstehen, auch wenn sich die Folgen der - zu Unrecht anerkannten - Unfallfolgen verschlechtern.

Der Bescheid der BG Bau vom 2. September 2013 über die Anerkennung endgradige Bewegungseinschränkung der HWS nach Wirbelkörperverblockung (Spondylodese) C5/6 mit teilweiser Entfernung der Bandscheiben (Nukleotomie) C5/6 und Einengung des Spinalkanals als Folgen des Arbeitsunfalls vom 3. September 2010 war von Anfang an rechtswidrig. Die anerkannten Gesundheitsschäden beruhten nicht mit Wahrscheinlichkeit auf dem Unfall als wesentlicher Ursache (§ 8 Abs. 1 SGB VII). Bei dieser Einschätzung stützt sich der Senat auf das gerichtliche Gutachten von P1 und das im Verwaltungsverfahren erhobene Gutachten von G1, das als Urkunde mit öffentlichem Glauben (§ 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO) verwertet werden kann.

P1 hat sich ausführlich mit der Kausalitätsfrage hinsichtlich der Schäden an der HWS, insbesondere den Ursachen des Bandscheibenvorfalls im Februar bzw. März 2010, auseinandergesetzt. Er hat die Aktenlage im zeitlichen Verlauf ab dem Unfallereignis aufgearbeitet und nachvollziehbar herausgearbeitet, dass mangels knöcherner Schäden und mangels jeglicher Verletzungen an den Bändern in dem betroffenen Segment (C5/6) der Wirbelsäule bei nur sehr kurzer Arbeitsunfähigkeit nach dem Unfall, sodann mehrmonatigem beschwerdefreiem Intervall und erstmals fünf Monate danach dokumentierten radikulären Ausfällen weder eine Entstehung, noch eine richtungsweisende Verschlimmerung der Bandscheibenveränderungen des Klägers durch den Unfall wahrscheinlich gemacht werden können. P1 hat zutreffend auch den Gesichtspunkt einbezogen, dass sowohl an der HWS als auch an der LWS weitere vorzeitige Verschleißveränderungen der Bandscheiben des Klägers festzustellen sind und dass bei einem erheblichen Trauma im Bereich der HWS auch bei der kernspintomografischen Untersuchung etwas mehr als sechs Monate nach dem Unfallereignis noch Signaländerungen der knöchernen Strukturen im Sinne eines sog. bone bruise und auch Residuen einer eventuell stattgehabten Einblutung oder einer Ruptur des Bandapparates der Wirbelsäule nachzuweisen gewesen wären. Ferner hat P1 die Ausführungen G2 bestätigt, dass entgegen der Annahme des Gutachters K1, der im Jahre 2012 einen Ursachenzusammenhang gesehen hatte, nach dem Unfall keine durchgehenden Beschwerden bestanden. Vielmehr hatte der Kläger bei den ärztlichen Vorstellungen ab Februar 2011 und der Einlieferung in das T1 M1 jeweils angegeben, die Beschwerden hätten vor „einigen Wochen“ begonnen. Dies gilt auch für die allererste Vorstellung bei M2, wie sich aus der nachträglichen Stellungnahme dieses Arztes vom 22. November 2012 ergibt. Dass damals der Arbeitgeber des Klägers von durchgehenden Beeinträchtigungen an der HWS seit dem Unfall berichtet hatte, muss dagegen zurücktreten, da dies keine ärztliche Stellungnahme war und außerdem mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Angaben des Klägers beruhte. Letztlich kann der Senat auch P2 Einschätzung folgen, dass kein Unfallhergang gesichert ist, der geeignet wäre, einen (isolierten) Bandscheibenschaden zu verursachen. Der Kläger ist mit der linken Schläfe und der linken Schulter gegen einen Stahlträger gestoßen. Eine Krafteinwirkung auf die HWS ist dabei nicht erkennbar. Die Annahme des damaligen Gutachters K1, der Anstoß habe eine „Maximalrotation“ verursacht, ergibt sich nicht einmal aus den eigenen zeitnahen Angaben des Klägers.

Wie schon das SG ausgeführt hat, haben auch die Aussagen der jetzt behandelnden Ärzte im erstinstanzlichen Verfahren keine andere Einschätzung ergeben. Die beiden H1 und R1 haben dabei sogar ausdrücklich bekundet, es handele sich sämtlich um degenerative und chronische Befunde, die nicht durch das Unfallereignis verursacht worden seien, ferner fehle es an den notwendigen Begleitverletzungen. Zwar hat M4 einen Ursachenzusammenhang nicht ausdrücklich verneint, aber auch er hat darauf hingewiesen, die Kausalitätsfrage könne nicht klar beantwortet werden, weil unmittelbar nach dem Unfall kein MRT durchgeführt worden sei. Letztlich ergeben sich auch aus dem Attest von S2, das der Kläger zur Akte des SG gereicht hat, keine anderen Hinweise. S2 erwähnt darin ausschließlich eine psychische Erkrankung des Klägers („depressive Episode“), die aber nicht Gegenstand des Bescheids vom 2. September 2013 war.

Der Bescheid vom 2. September 2013 konnte auch nicht mehr nach § 45 Abs. 1 SGB X zurückgenommen werden. Als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - hierzu gehören auch Bescheide über die Anerkennung der gesundheitlichen Folgen eines Versicherungsfalls - konnte der Bescheid nach § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X spätestens zwei Jahre nach seinem Erlass zurückgenommen werden. Diese Frist ist abgelaufen. Ausnahmen nach § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X liegen nicht vor. Insbesondere kann nicht angenommen werden, dass bei einem medizinischen, komplexen Sachverhalt wie hier der Kläger im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X erkannt hat oder hätte erkennen müssen, dass die Anerkennung der Unfallfolgen 2013 rechtswidrig war.

Eine ausdrückliche Veränderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X muss nach der Rechtsprechung des BSG für eine Feststellung nach § 48 Abs. 3 SGB X nicht vorliegen. Unabhängig davon waren aber bei dem Kläger in der Zeit seit 2013 weitere gesundheitliche Schäden hinzugekommen, insbesondere weitere Bandscheibenvorfälle auch an der HWS, sodass - entgegen der Einschätzung von G1 - eine Verschlechterung der anerkannten Unfallfolgen nicht auszuschließen war.

Die Beklagte hat auch zu Recht die erneute Bewilligung einer Verletztenrente auf den Antrag des Klägers vom 17. Mai 2019 hin abgelehnt. Ein solcher Anspruch kann nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII nur bestehen, wenn die Folgen des Versicherungsfalls - hier des Arbeitsunfalls - zu dauerhaften funktionellen Einbußen führen, die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten um wenigstens 20 vH mindern (MdE). Ein Rentenanspruch mit einer niedrigeren MdE von mindestens 10 vH nach § 56 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 SGB VII scheidet im Falle des Klägers aus, da keine stützenden anderen Versicherungs- oder Entschädigungsfälle vorgetragen oder ersichtlich sind. Die bei dem Kläger zu Recht anerkannten Unfallfolgen - Platzwunde und Prellung der Schulter - sind kurz nach dem Unfall ausgeheilt. Die zu Unrecht anerkannten Folgen scheiden nach der Entscheidung der Beklagten nach § 48 Abs. 3 SGB X als Grundlage eines Rentenspruchs aus. Und weitere Unfallfolgen, die ihrerseits zu einer MdE von wenigstens 20 vH führen können, liegen ebenfalls nicht vor. Dies gilt insbesondere für die psychischen Beeinträchtigungen, die S2 in seinem Attest vom 19. Mai 2020 beschrieben hat. Es ist ersichtlich, dass ein so geringfügiges Trauma wie der Unfall des Klägers am 3. September 2010 nicht die wesentliche Ursache einer depressiven Erkrankung (F32.-, F33.- ICD-10 GM) sein kann, die erstmals zehn Jahre später diagnostiziert wird.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Der - geringfügige und alsbald geheilte - Fehler im Vorverfahren zwingt auch nicht dazu, der Beklagten nach § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X Kosten des Vorverfahrens aufzuerlegen.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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