L 2 R 3519/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 14 R 642/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 2 R 3519/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 8. Oktober 2021 aufgehoben und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1965 geborene, 1978 in die Bundesrepublik Deutschland eingereiste Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war zuletzt bis Mai 2017 als Arbeiterin in einer Wäscherei versicherungspflichtig beschäftigt. Seither ist sie arbeitsunfähig bzw. arbeitslos. Die Klägerin leidet im Wesentlichen an Rücken- und Schulterbeschwerden, einer chronischen Schmerzstörung sowie psychischen Störungen, deren Ausmaß zwischen den Beteiligten streitig ist. Bei der Klägerin ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 seit November 2019 anerkannt.

In der Zeit vom 29. Mai bis 26. Juni 2018 befand sich die Klägerin in einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme in den R1-Kliniken S1. Im Reha-Entlassungsbericht vom 28. Juni 2018 (Bl. 26 f. Band V eVA) sind als Diagnosen chronisch persistierende Cervicobrachialgien rechts bei aktivierter Sternoclaviculargelenksarthrose rechts, ein chronisches Schmerzsyndrom mit psychischen und somatischen Faktoren, Zustand nach Schädelprellung/Commotio cerebri nach Sturz auf Glatteis 01/2017, eine bekannte Migräne sowie eine Langzeit-Opioidtherapie mit Tilidin 100 mg täglich genannt. Zum Leistungsvermögen ist ausgeführt, die Klägerin könne ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Arbeiterin in einer Wäscherei nicht mehr ausüben, während sie zu leichten Wechseltätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bei qualitativen Einschränkungen noch mindestens sechs Stunden täglich in der Lage sei. Es seien Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu prüfen.
Am 2. Oktober 2018 fand eine Erstberatung wegen solcher Leistungen statt, im Vermerk vom 2. Oktober 2018 (Bl. 153/153 eVA Band IV) ist u.a. angegeben, der Klägerin habe aufgrund der körperlichen Einschränkungen und der Probleme mit der deutschen Sprache lediglich ein Eingliederungszuschuss angeboten werden können.

Vom 25. bis 29. Oktober 2018 befand sich die Klägerin auf der geschlossenen Allgemein-Psychiatrischen Station des Kreiskrankenhauses C1. Im vorläufigen Entlassbericht vom 29. Oktober 2018 (Bl. 40 SG-Akte) sind als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung bei gegenwärtig schwerer Episode ohne psychotische Symptome, eine Migräne ohne Aura, ein Cervicobrachial-Syndrom und ein chronischer Schmerz im Hals-Nacken-Bereich ohne oder nur geringer motorischer Funktionseinschränkung angegeben. Weiter ist dort vermerkt, dass eine Verlegung aus der Klinik R2 wegen eines Verdachts auf akute Suizidalität erfolgt sei. Die Klägerin leide seit einem Verbrennungsunfall ihrer Tochter an Depressionen. Obwohl es der Tochter der Klägerin inzwischen sehr gut gehe, komme sie damit noch nicht klar. Bei der Aufnahme habe sie sich von akuter Suizidalität glaubhaft distanziert.

Vom 4. März bis 19. März 2019 wurde die Klägerin in der Klinik K1 (Bl. 93/98 eVA Band II) behandelt. Im Entlassungsbericht vom 22. März 2019 sind als Diagnosen eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine posttraumatische Belastungsstörung, ein Kopfschmerz bei Schmerzmittelübergebrauch, eine täglich mehrfache Analgetika-Triptaneinnahme, eine Opiatdauertherapie, eine Migräne ohne Aura, chronische Schulterschmerzen rechts mit Sternoclaviaturgelenks-AC-Gelenksarthrose, eine rezidivierende depressive Störung bei gegenwärtig mittelgradiger Episode und ein Asthma Bronchiale angegeben. Anlass für die stationäre Aufnahme seien die anhaltenden Kopfschmerzen gewesen. Diese stünden im Zusammenhang mit dem traumatisch erlebten Verbrennungsunfall ihrer damals fünfjährigen Tochter. Ein im Oktober 2018 erlebter Autounfall habe ihre Ängste, anderen zu schaden, nochmals verstärkt. Eine Besserung der Schmerzsymptomatik habe durch die stationäre Behandlung nicht erreicht werden können. Es habe sich insgesamt eine komplexe, hochchronifizierte Schmerzerkrankung ausgebildet, indem sich das Trauma, die Depression und die Schmerzen ungünstig beeinflussten. Zuletzt sei es durch den Autounfall zur Retraumatisierung mit sozialem Rückzug gekommen. Es sei eine spezifische Traumatherapie indiziert. Eine muttersprachliche stationäre Therapie sei von der Klägerin bereits geplant, allerdings ohne Traumatherapie.

Im April 2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung und verwies in dem Zusammenhang auf den Entlassungsbericht der Klinik K1 vom 22. März 2019. Mit Bescheid vom 24. Mai 2019 (Bl. 78 f. eVA Band I) lehnte die Beklagte den Antrag gestützt auf den Reha-Entlassungsbericht der  R1kliniken vom 28. Juni 2018 ab.

Hiergegen erhob die Klägerin am 13. Juni 2019 Widerspruch (Bl.  125 eVA Band III) mit der Begründung, sie sei nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Sie verwies auf den mit ihrem Antrag eingereichten Entlassungsbericht. Die Beklagte habe ihre Erkrankungen nicht ausreichend erfasst. Sie leide an einer schwergradigen Depression mit ausgeprägten Schlafstörungen und einer hochchronifizierten Schmerzerkrankung. Aufgrund dieser Erkrankungen fehle es an der notwendigen Umstellungsfähigkeit.

Vom 26. September bis 29. Oktober 2019 war die Klägerin im Psychiatrischen Krankenhaus R3 (S2) in stationärer Behandlung. Im vorläufigen Entlassungsbericht vom 24. Oktober 2019 sind als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung bei gegenwärtig schwerer Episode ohne psychotische Symptome, eine posttraumatische Belastungsstörung, eine nicht näher bezeichnete Hypothyreose sowie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren angegeben (Bl. 35 f. SG-Akte). Die Klägerin sei freiwillig von ihrem Hausarzt auf eine Station mit kultursensiblem und muttersprachlich türkischen, arabischen und kurdischen Behandlungskonzept aufgenommen worden. Bei der Aufnahme habe sie von mehreren belastenden Lebensereignissen (Unfall der Tochter, Tod der Mutter) berichtet, aufgrund derer sie dekompensiert sei. Durch den Autounfall im Jahr 2018 hätten sich ihre Beschwerden verstärkt. Der Verbtrennungsunfall ihrer jüngsten Tochter im Jahr 2005 mit dem anschließenden langen Prozess der Genesung habe eine enorme Belastung und Prägung im Leben der Klägerin dargestellt. Sie habe sich allein auf die jüngste Tochter konzentriert und dabei ihren Ehemann und die ältere Tochter vernachlässigt. Im Verlauf der Behandlung seien Schuld- und Insuffizienzgefühle sowie eine starke narzistische Kränkung deutlich geworden. Im Laufe der Behandlung habe sich die Klägerin zunehmend öffnen sowie zugänglicher motivierter mitarbeiten können. Trotz der Schwere und Komplexität des Krankheitsbildes habe sie stabilisiert werden können. Eine weitere ambulante psychiatrische bzw. psychotherapeutische Behandlung sei weiter indiziert gewesen. Zum Leistungsvermögen wurden keine Angaben gemacht.

Die Beklagte hat sodann bei dem M1 das Gutachten vom 6. November 2019 (Bl. 102/122 eVA Band II) eingeholt. Der M1 diagnostizierte auf der Grundlage der von ihm am 6. November 2019 durchgeführten Untersuchung bei der Klägerin eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einen Analgetika-induzierten Kopfschmerz und eine bei massiver Aggravation nicht mehr einzuordnende depressive Störung. Für körperlich leichte Tätigkeiten bestehe weiterhin ein sechsstündiges Leistungsvermögen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2020 (Bl. 133/136 eVA III) wies die Beklagte den Widerspruch zurück und hielt daran fest, dass die Klägerin bei qualitativen Einschränkungen noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich verrichten könne.

Hiergegen hat die Klägerin am 9. März 2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Mannheim erhoben. Zur Begründung hat ihr Bevollmächtigter das Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und ergänzend auf den vorläufigen Entlassungsbericht des Psychiatrischen Krankenhauses R3 vom 24. Oktober 2019 Bezug genommen.

Das SG hat im Folgenden Auskünfte bei den behandelnden Ärzten der Klägerin eingeholt.
Der R4 hat in seiner sachverständigen Zeugenauskunft vom 5. Mai 2020 angegeben, die Klägerin sei seit Dezember 2018 bei ihm in verhaltenstherapeutischer Behandlung wegen Ängsten und einer Depression, wobei bis zu diesem Zeitpunkt 21 Therapiesitzungen stattgefunden hätten. Auslöser für die Behandlung sei ein Autounfall auf der Autobahn gewesen. Im Lauf der Behandlung hätten sich weitere traumatisch erlebte Ereignisse hinzugefügt. Unter anderem habe sich ihre Tochter im Alter von fünf Jahren schwere Verbrennungen zugezogen. Eine Besserung des Gesundheitszustands der Klägerin habe im Rahmen der Behandlung nicht erzielt werden können, was insbesondere an den begrenzten Deutschkenntnissen der Klägerin liege. Dem von der Beklagten eingeholten Gutachten des M1 stimme er in den meisten Punkten zu. Allerdings habe es bei seiner Behandlung eine Situation gegeben, bei der er bei der Verabschiedung aufgrund einer Brandblase, die er ihr gezeigt habe, das Händeschütteln verweigert habe, was dazu geführt habe, dass die Klägerin für 20 bis 30 Sekunden weggetreten sei und sich habe festhalten müssen, um sich wieder zu stabilisieren. Dieses Verhalten könne nicht simuliert werden, sodass er von einer glaubhaften chronifizierten Traumatisierung ausgehe.
Der S3 hat in seiner sachverständigen Zeugenauskunft vom 7. Mai 2020 angegeben, die Klägerin sei bei ihm seit März 2018 in etwa sechswöchigen Abständen wegen eines chronischen Kopfschmerzsyndroms und einer rezidivierenden depressiven Erkrankung in Behandlung. Trotz der auch stationären Behandlungen habe keine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes erzielt werden können. Zum Leistungsvermögen gab er an, die Klägerin könne auch leichte Tätigkeiten nicht mit der notwendigen Regelmäßigkeit durchführen. Bei mehreren stationären Aufenthalten sei übereinstimmend eine schwere depressive Episode diagnostiziert worden. Dem Gutachten des M1 stimme er daher nicht zu.

Das SG hat im Anschluss bei dem N1 das Gutachten vom 16. Juli 2020 eingeholt, das dieser nach der Untersuchung der Klägerin am 4. Juli 2020 erstellt hatte. N1 hat bei der Klägerin eine Angst- und depressive Störung, gemischt, ein Analgetika-induziertes Kopfschmerzsyndrom und ein degeneratives Cervicalsyndrom ohne Wurzelreiz- oder Ausfallsymptome diagnostiziert und ist zum Ergebnis gelangt, dass die Klägerin noch leichte Tätigkeiten bei qualitativen Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich verrichten könne.

Auf Antrag der Klägerin hat das SG im Weiteren nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) noch bei dem H1 das Gutachten vom 26. März 2021 eingeholt. H1 ist auf der Grundlage der von ihm am 24. März 2021 (unter Hinzuziehung einer Dolmetscherin) durchgeführte Untersuchung zu den Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer rezidivierenden depressiven Störung bei gegenwärtig schwerer Episode mit psychotischen Symptomen sowie einer  chronischen somatoformen Schmerzstörung gelangt  und hat das Leistungsvermögen der Klägerin dahingehend eingeschätzt, dass diese bis auf Weiteres nicht in der Lage sei, sich auf eine neue Beschäftigung einzustellen und auch leichte Tätigkeiten nicht im Umfang von drei Stunden täglich verrichten könne. Es bestehe die Indikation für eine Traumatherapie.

Mit Urteil vom 8. Oktober 2021 hat das SG der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24. Mai 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2020 verpflichtet, der Klägerin ab 1. Oktober 2021 befristet  bis zum 30. September 2023 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Das SG hat hierbei die Auffassung vertreten, dass die Klägerin jedenfalls ab 1. Oktober 2021 einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung befristet bis zum 30. September 2023 habe. Das SG hat die nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI geforderten Voraussetzungen als erfüllt angesehen, war insbesondere entgegen der Ansicht der Beklagten der Auffassung, dass die Klägerin seit März 2021 voll erwerbsgemindert sei. Es hat sich hierbei maßgeblich auf das Sachverständigengutachten von H1 vom 26. März 2021 unter Berücksichtigung der sachverständigen Zeugenauskünfte von R4 und S3 sowie der Entlassberichte über drei stationäre Aufenthalte gestützt.
Die Klägerin leide rentenrelevant an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer rezidivierenden depressiven Störung mit schweren Episoden und einer chronischen somatischen Schmerzstörung. So habe die Klägerin bei der Untersuchung durch H1 im Zusammenhang mit dem von ihr miterlebten schweren Verbrennungsunfall ihrer Tochter im Alter von fünf Jahren massive Verhaltensauffälligkeiten gezeigt. Sie sei abwesend, versunken und abgelenkt gewesen und habe wiederholter freundlicher Ansprache zur Fortsetzung des Gesprächs bedurft. Dasselbe auffällige Verhalten habe bereits R4 beschrieben. Schlüssig und überzeugend habe H1 für das SG dargelegt, dass es sich bei diesem Verhalten ohne Zweifel um den Ausdruck einer dissoziativen Störungskomponente im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung handele. Ebenso habe R4 überzeugend beschrieben, dass sich ein solches klinisch auffälliges Verhalten nicht simulieren lasse. Auch im Übrigen habe die Klägerin bei der Untersuchung durch H1 eine deutliche Einschränkung ihrer affektiven Schwingungsfähigkeit aufgewiesen.
Das SG vermöge sich den Beurteilungen des M1 im vom Beklagten eingeholten Gutachten vom 6. November 2019 und von N1 im vom SG von Amts wegen eingeholten Gutachten vom 17. Juli 2020, wonach bei der Klägerin eine jedenfalls erhebliche Aggravation vorliege, nicht anzuschließen. Vielmehr sei das SG davon überzeugt, dass sowohl der M1 als auch N1 die Schwere der psychiatrischen Erkrankung der Klägerin mangels Überwindung der Sprachbarriere nicht erkannt hätten. In den vorliegenden Unterlagen seien die mangelhaften Deutschkenntnisse der Klägerin vielfach dokumentiert. Auch das SG selbst habe sich in der mündlichen Verhandlung hierüber einen Eindruck verschaffen können. Im Rahmen der regelmäßigen ambulanten Behandlungen der drei stationären Aufenthalte sei wiederholt eine muttersprachliche Traumatherapie empfohlen worden, welche bislang noch nicht habe stattfinden können. H1 sei im vorliegenden Verfahren der einzige Sachverständige gewesen, der die Klägerin unter Hinzuziehung einer Dolmetscherin exploriert habe. Das Fehlen einer erheblichen Aggravation werde nach der Überzeugung des SG dadurch bestätigt, dass die Klägerin weiterhin in dreimonatigen Abständen den Weg in die Nähe von H2 zwecks therapeutischer Maßnahmen auf sich nehme. Dass die Klägerin offensichtlich die ihr verschriebenen Medikamente nicht wie verordnet einnehme, was sich aus den vom  M1 und N1 erhobenen Medikamentenspiegeln ergebe, sehe das SG als mangelnde Compliance im Rahmen des Krankheitsbildes. Auch der Umstand, dass die Klägerin nach dem Trauma bis vor einigen Jahren noch in der Lage gewesen sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, stehe nach Überzeugung des SG einer schweren psychiatrischen Erkrankung nicht entgegen. Vielmehr sei davon auszugehen, dass es durch den Autounfall im Jahr 2018 zu einer Retraumatisierung gekommen sei.
Auf der Grundlage der von ihm erhobenen objektiven Befunde sei H1 für das SG schlüssig und überzeugend zum Ergebnis gekommen, dass die Klägerin bis auf Weiteres nicht in der Lage sei, sich auf eine neue Beschäftigung einzustellen. Die Klägerin habe daher Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und zwar gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGBVI befristet auf zwei Jahre. Denn wie H1 überzeugend dargelegt habe, sei es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass die Klägerin bei Durchführung einer Traumatherapie nach voraussichtlich etwa zwei Jahren ihre Leistungsfähigkeit zumindest zum Teil wiedererlangen könne.

Die Beklagte hat gegen das ihr mit Empfangsbekenntnis am 20. Oktober 2021 zugestellte Urteil am 11. November 2021 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhoben. Zur Begründung macht die Beklagte geltend, dass letztlich das Gutachten von H1, auf das sich das SG maßgeblich gestützt habe, nicht überzeuge.
Zum einen verweise man insoweit schon auf die Kritikpunkte in der Stellungnahme des Sozialmedizinischen Dienstes vom 17. Mai 2021 (N2), mit dem sich das SG nicht ausreichend auseinandergesetzt habe.
Aufgrund des medizinischen Sachverhalts sei davon auszugehen, dass bei der Klägerin keine Gesundheitsstörungen in einem Ausmaß vorliegen würden, die ihr Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht einschränken würden. Darüber hinaus werde noch darauf hingewiesen, dass sich der Beweiswert von Gutachten nach deren Inhalt und deren Überzeugungskraft richte. Die Überzeugungskraft sei insbesondere von einer nachvollziehbaren und überzeugenden Begründung abhängig, im Gutachten von H1 würden jedoch erhebliche methodische Mängel vorliegen, wodurch dieses eben nicht ausreichend und nachvollziehbar sei.
In den Vorgutachten von M1 vom 6. November 2019 sowie N1 vom 16. Juli 2020 würden eine massive Antwortverzerrung und auffällige Ergebnisse in den Beschwerdevalidierungstest bzw. deutliche Hinweise auf ein verfälschendes Antwortverhalten der Klägerin angegeben. So führe N1 u.a. aus, dass die von der Klägerin als schwerstgradig angegebene Beeinträchtigung im Alltag, welche nahezu keine Tätigkeit zulasse, angesichts des hiesigen, wenig beeinträchtigt wirkenden psychiatrischen Untersuchungsbefundes sowie der Verhaltensbeobachtung nicht nachzuvollziehen sei, sodass selbstlimitierende Tendenzen anzunehmen seien. Zudem habe die Spiegelbestimmung der nach Angaben der Klägerin eingenommenen Antidepressiva und Schmerzmittel im unteren Wirkbereich liegende niedrige Ergebnisse erbracht, was an deren therapeutischen Compliance zweifeln lasse und nicht für einen hohen Leidensdruck spreche, in jedem Falle bestünden hier noch weitreichende Behandlungsoptionen. Zudem habe der medizinische Sachverständige auch darauf hingewiesen, dass die durchgeführten Beschwerdevalidierungstests Hinweise für eine negative Antwortverzerrung ergeben hätten, was im Beschwerdevortrag im Allgemeinen bzw. an der tatsächlichen Intensität zweifeln ließe.
Der M1 habe zum Tomm-Test ausgeführt, dass dieser sprachneutral sei und kein Lesen erfordere. Die Klägerin habe im ersten Durchgang acht Punkte erreicht, wobei man in diesem Forced-Choise-Test bei jedem der 50 Items eine 50%-Chance schon alleine nach der Ratewahrscheinlichkeit habe. Das Ergebnis der Klägerin habe der medizinische Sachverständige ohne massive Simulation für nicht vorstellbar gehalten. Der H1 setze sich jedoch nicht mit einer möglichen negativen Antwortverzerrung bei der Begutachtung der Klägerin auseinander, sondern habe dies mit dem Hinweis auf die von der Klägerin geltend gemachte Sprachbarriere abgetan. Dabei hätte gerade aus dem Umstand der in den Vorgutachten dargelegten nichtauthentischen Verhaltensweise der Klägerin erwartet werden müssen, dass H1 bei seiner Exploration einen strengen Maßstab mit spezifischen Nachfragen anlegen würde, was nicht geschehen sei.
So übersehe oder ignoriere H1, dass die Klägerin beim M1 zunächst anscheinend zu Beginn der Exploration nach ihren Angaben keine einzige Frage verstanden habe und nach dem Angebot, die Untersuchung zu verschieben und erneut mit Dolmetscher zu untersuchen, das Sprachvermögen deutlich besser geworden sei. Die Mitarbeit habe er allerdings weiterhin eingeschränkt beurteilt.
N1 habe in seinem Gutachten (S. 12) erklärt, dass die Untersuchung und Exploration in deutscher Sprache erfolgt sei und die Beiziehung eines Dolmetschers nicht notwendig gewesen sei. Das Sprachverständnis sowie die Ausdrucksfähigkeit der Klägerin in der deutschen Sprache habe er als gut beurteilt. Weiter habe er die Klägerin als gepflegt gekleidet, freundlich und etwas zurückhaltend im Umgang beschrieben. Der Rapport sei geordnet gewesen, die Klägerin habe wenig strukturierende Hilfe durch den Untersuchenden benötigt. Die Klägerin habe im Gespräch den Augenkontakt gehalten. Von einer Sprachbarriere könne daher nicht ausgegangen werden.
Gerade im Hinblick auch auf die Gefahr durch Täuschungsmanöver im Rahmen der Begutachtung durch die zu Begutachtenden halte die Beklagte Beurteilungen, die allein auf Interviewform und dem klinischen Eindruck sowie der Befragung von Angehörigen beruhen, wie von H1 vorgenommen, für enorm fehleranfällig.
Hier sei daher eine Ergänzung durch den Einsatz geeigneter Messmethoden zur Erfassung der Beschwerdenvalidität zwischenzeitlich unumgänglich. Erst in der Zusammenschau von Exploration, Untersuchungsbefunden, Verhaltensbeobachtung, Testungen sowie gegebenenfalls Bestimmung des Medikamentenspiegels und Aktenlage unter Beachtung von Plausibilitäts- und Konsistenzprüfungen könne sich der medizinische Laie ein Bild bezüglich der Auswirkungen von Erkrankungen im Hinblick auf Funktionsstörungen und auf das Leistungsvermögen machen. Dies sei nach dem Gutachten von H1 nicht ausreichend geschehen.
Die Beklagte hat im Weiteren unter Hinweis darauf ausgeführt, dass sowohl beim M1 als auch bei N1 die jeweiligen Serumspiegelbestimmungen die von der Klägerin behaupteten Medikamenteneinnahme nicht ansatzweise bestätigt hätten, hier die Klägerin eine Behandlungsbedürftigkeit geltend mache, die offensichtlich in dieser Form gar nicht existiere. Gerade auch vor diesem Hintergrund sei nicht nachvollziehbar, weshalb H1 auf eine Plasmaspiegeluntersuchung bei der Klägerin verzichtet habe.
Die Beklagte hat zum Weiteren darauf verwiesen, dass H1 zur Begründung, dass er von der Leistungseinschätzung der Vorgutachter abweiche, neben dem Vorliegen einer von ihm gesehenen Sprachbarriere, erklärt, dass dabei eine Fehleinschätzung der im stationären Rahmen wiederholt gestellten posttraumatischen Belastungsstörung durch die Gutachter vorgelegen habe.
Dies erschließe sich der Beklagten nicht, nachdem der Gutachter zum einen erklärt habe, dass er aufgrund der verfügbaren Informationen zur Krankheitsvorgeschichte keine vernünftigen Zweifel daran habe, dass es sich bei den beobachteten Verhaltensauffälligkeiten um den Ausdruck einer dissoziativen Störungskomponente im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung handele. Aufgrund der bereits in der Vergangenheit gestellten Diagnose könne er dies hier aus eigener unmittelbarer Anschauung bestätigen, wobei er angefügt habe, dass unter ethischen Aspekten davon abgesehen werden sollte, entsprechende Symptome bewusst zu provozieren, auch wenn es gegebenenfalls im Begutachtungskontext aufschlussreich sein möge. H1 habe daher ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es ihm gerade nicht darum zu tun gewesen sei, hier die Gültigkeit einer Vordiagnose zu überprüfen, sondern dass sich die entsprechende Gesprächssequenz aus der Erhebung der biographischen Anamnese ergeben habe.
Hier übersehe der medizinische Sachverständige nach Auffassung der Beklagten, dass die Gutachtenerstellung zur Aufklärung der Tatsache aus dem Bereich Medizin diene. Eine bloße Übernahme der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung aus anderen medizinischen Unterlagen und ohne die Angaben der Klägerin hierzu auf Konsistenzfähigkeit und Plausibilität zu prüfen, stelle keine ordentliche Aufklärung des medizinischen Sachverhalts zur Entscheidungsreife darstelle, sondern einen methodischen, gravierenden Fehler, wodurch das Gutachten eigentlich nicht verwertbar sei.
So habe N1 in seinem Gutachten ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht nachvollziehen lasse, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass derartige Störungen üblicherweise innerhalb von sechs Monaten nach dem auslösenden traumatischen Ereignis auftreten würden und nicht erst Jahrzehnte später. Der Klägerin sei es gelungen, nach dem Unfall der Tochter 2005 über Jahre hinweg einer regelmäßigen Tätigkeit nachzugehen und ihre familiären Verpflichtungen zu erfüllen, was gegen eine namhafte posttraumatische Störung spreche. Das Unfallereignis 2018, bei dem es sich um einen Auffahrunfall ohne eine schwergradige Verletzung der Klägerin bzw. ohne andere schwergradig verletzte Verkehrsteilnehmer gehandelt habe, lasse sich schwerlich als auslösendes Ereignis einer posttraumatischen Belastungsstörung ansehen, da das Ereignis nicht dem nach ICD 10 bzw. DSM 5 geforderten Schweregrad entspreche, die Eingangskriterien für eine derartige Diagnose bereits nicht erfüllt seien.
Von H1 seien von der Klägerin weder die Häufigkeit von sogenannten Flashbacks erfragt worden, noch ausreichend überprüft worden, wie sich das „wiedererleben“ gestaltet habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 8. Oktober 2021 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Zur Begründung führt der Bevollmächtigte aus, entgegen der Auffassung der Beklagten sei die Klägerin nicht in der Lage, auch nur leichte Arbeiten noch sechs Stunden oder länger pro Tag unter den betriebsüblichen Bedingungen auszuführen. Die Behauptung der Beklagten, das SG habe sich nicht ausreichend mit der Stellungnahme des Sozialmedizinischen Dienstes vom 17. Mai 2021 auseinandergesetzt, überzeuge nicht. Im Übrigen handele es sich beim Sozialmedizinischen Dienst der Beklagten nicht um eine unparteiische Instanz, sondern um eine parteiische Einrichtung, die auftragsgemäß ausschließlich im Interesse der Beklagten tätig werde und in diesem Licht dann auch entsprechende Stellungnahmen abgebe. Das Gutachten von H1 sei vielmehr voll überzeugend und auch vom SG zutreffend bewertet worden, insbesondere könne nicht gesehen werden, dass erhebliche methodische Mängel vorliegen würden.
Insbesondere werde auch bestritten, dass massive Antwortverzerrungen, wie vom ebenfalls parteiischen Gutachter der Beklagten M1, behauptet oder ein verfälschtes Antwortverhalten der Klägerin gegeben sein soll wie N1 behaupte. Bezüglich der Begutachtung durch den M1 weise der Bevollmächtigte darauf hin, dass dieser aufgrund seiner Tätigkeit für die Beklagte nicht als unparteiisch anzusehen sei. H1 sei insbesondere auf alle Punkte, die vom M1 vorgebracht worden seien, ausdrücklich eingegangen. Wenn H1 keine Simulation oder Aggravation erkennen könne, so liege dies nicht daran, dass H1 eine unzutreffende Bewertung abgegeben habe, sondern dass eben keine Simulation oder Aggravation vorliege.
Die Behauptung der Beklagten, dass sich H1 auf eine Dolmetscherin stütze, welche mit den Vorgutachten und den dort dargelegten Diskrepanzen nicht vertraut sein dürfte, sei nicht relevant. Er habe sich als einziger Gutachter einer Dolmetscherin bedient, weil nur mit Hilfe der Dolmetscherin eine ordnungsgemäße Untersuchung der Klägerin möglich gewesen sei.

Der Senat hat bei der Klinik Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Psychiatrischen Zentrums N3, W1 S3 das Gutachten vom 3. November 2022 eingeholt. Das Gutachten stützt sich neben den zur Verfügung gestellten Aktenunterlagen auf zwei ausführliche fachpsychiatrische Explorationen und Untersuchungen der Klägerin am 20. September 2022 und 23. September 2022 in den Räumen des Psychiatrischen Zentrums N3 S3 hat auf der Basis der von ihm erhobenen Befunde, der eruierten eigenanamnestischen Angaben sowie der ausgewerteten aktenkundigen Vorbefunde unter Verwendung des Klassifikationssystems ICD 10 (5. Aufl., WHO 2011) auf psychiatrisch-psychotherapeutischem Fachgebiet eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode (ICD 10;F 33.0), auf dem orientierend  mitbeurteilten neurologischen Fachgebiet ein Kopfschmerzsyndrom nicht näher bezeichnet (ICD 10: G 44.8) diagnostiziert.
Das Leistungsvermögen hat S3 dahingehend eingeschätzt, dass unter Berücksichtigung der bei der Klägerin auf psychiatrisch-psychotherapeutischem Fachgebiet bestehenden Erkrankungen Tätigkeiten, die mit einer erhöhten psychovegetativen Stressbelastung einhergehen (z.B. durch erhöhten Zeitdruck, z.B. Akkordarbeit, oder durch unphysiologische psychovegetative Belastungen, z.B. Nachtarbeit), nicht mehr in Frage kommen. Auch Tätigkeiten mit erhöhter Verantwortung für Personen oder Sachwerte oder Tätigkeiten mit anhaltend hohen Anforderungen an die Daueraufmerksamkeit (etwa Kontrollaufgaben mit der Notwendigkeit sofortiger Reaktion in definierten Fallkonstellationen) seien aufgrund der damit verbundenen psychovegetativen Daueranspannung aus gesundheitlichen Gründen auszuschließen. Eine Überforderung in diesem Bereich würde mit dem Risiko einer Verstärkung der depressiven Symptomatik, gegebenenfalls zur Ausbildung einer verstärkten depressiven Episode oder depressiven Dekompensation einhergehen.
Aus der Kombination von chronisch-rezidivierender Depression und (nicht gesundheitlich beeinträchtigter) Primärpersönlichkeit sei die Fähigkeit zur Bewältigung interpersoneller Konflikte reduziert. Vor diesem Hintergrund seien Tätigkeiten mit erhöhtem Konfliktpotenzial sowie Tätigkeiten, die die Fähigkeit voraussetzten, sich auf spezifische Bedürfnisse Dritter einzustellen und das eigene Verhalten darauf auszurichten – z.B. unmittelbarer Publikumskontakt, pflegende/beratende Tätigkeiten – nicht mehr leidensgerecht.
Aufgrund der von fachorthopädischer Seite festgestellten degenerativen Veränderung des Bewegungsapparats kämen darüber hinaus körperlich schwere oder anhaltend mittelschwere Tätigkeiten nicht mehr in Frage. Auch seien Tätigkeiten mit besonderer Belastung für die Wirbelsäule – somit auch Überkopfarbeiten, Arbeiten mit häufigerem oder anhaltendem Bücken oder Knien, ebenso Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten – auszuschließen. Vermieden werden sollten häufiges und längerdauerndes Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 10 kg ohne Einsatz technischer Hilfen, häufiges und längerdauerndes Bücken, häufige und längerdauernde Tätigkeiten in Zwangshaltungen.
Grundsätzlich möglich seien daher insgesamt kognitiv wenig beanspruchende, emotional und psychovegetativ nicht überdurchschnittlich belastende Tätigkeiten unter Ausschluss der oben formulierten Bedingungen. Möglich seien aus Sicht von S3 dementsprechend auch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wie das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen und entsprechende Hilfstätigkeiten.
Unter Beachtung dieser qualitativen Leistungseinschränkungen sei die Klägerin noch in der Lage, entsprechende Tätigkeiten vollschichtig, sechs Stunden und mehr an fünf Tagen pro Woche abzuleisten.

Die Beklagte hat noch auf Anforderung des Senates den aktuellen Versicherungsverlauf der Klägerin vom 28. Februar 2023 vorgelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

I.

Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1, Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig.

II.

Die Berufung der Beklagten ist auch begründet. Entgegen der Auffassung des SG ist der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2020 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Denn zur Überzeugung des Senates besteht kein Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung.

Nach § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
voll erwerbsgemindert sind,
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Satz 1).

Voll erwerbsgemindert sind gem. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen der Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können.

Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
teilweise erwerbsgemindert sind,
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind gem. § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Gem. § 43 Abs. 3 SGB VI ist jedoch nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen liegen ausweislich des Versicherungsverlaufes vom 28. Februar 2023 bei der Klägerin vor, insbesondere hinsichtlich der notwendigen Pflichtbeiträge und der Wartezeit. Die Klägerin ist jedoch nicht im Sinne der obigen gesetzlichen Regelung erwerbsgemindert.

Auf der Grundlage der hier vorliegenden ärztlichen Befundunterlagen, dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten des M1, das hier im Urkundenbeweis zu verwerten ist, den Auskünften der behandelnden Ärzte im SG-Verfahren, der dort eingeholten Gutachten des N1 und des H1 sowie insbesondere des hier im Berufungsverfahren eingeholten Gutachtens des S3, auf das sich der Senat hier maßgeblich stützt, ist zur Überzeugung des Senates festzustellen, dass die Klägerin unter Beachtung der zuletzt von S3 benannten qualitativen Einschränkungen noch in der Lage ist, leichten körperlichen Tätigkeiten täglich 6 Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche nachzugehen.

Maßgeblich sind bei der Klägerin die auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet liegenden Gesundheitsstörungen.
Auf der Grundlage der zuletzt von S3 getroffenen Feststellungen im Zusammenhang mit den Explorationen und Untersuchungen der Klägerin am 20. September und 23. September 2022 hat er als Diagnose auf psychiatrischem Gebiet eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte depressive Episode sowie auf neurologischem Gebiet ein Kopfschmerzsyndrom, nicht näher bezeichnet, gestellt.

Im Rahmen seiner Untersuchung hat er unter anderem den folgenden Tagesablauf erhoben:
Um die Darstellung eines typischen Tagesablaufs gebeten berichtete die Klägerin, dass sie gegen 8:00 Uhr aufstehe. Nach dem Bad bereite sie sich einen Pulverkaffee. Vormittags „mache ich gar nichts, ich laufe in der Wohnung hin und her". Sie wisse nicht, warum sie das tue, Hintergrund sei aber auch, „dass ich mir nicht zutraue, alleine nach draußen zu gehen". Der Therapeut in der Klinik R3 empfehle ihr dringend, Kontakte außerhalb des Hauses wahrzunehmen und hinauszugehen, „das mache ich aber nicht". Auf Nachfrage: Ein Mittagessen nehme sie nicht ein. Nachmittags „versuche ich, im Haushalt Staub zu wischen oder zu bügeln, habe aber schon einmal vergessen, das Bügeleisen vom Strom zu nehmen". Mehrmals habe sie auch den Herd oder den Backofen angelassen. Auf Nachfrage: Das käme daher, dass sie manchmal versuche, zu kochen. Versuchen würde sie es, „wenn es mir einfällt". Auf Nachfrage: Zuletzt sei dieses vor drei Wochen vorgefallen. „Ich wollte eine Suppe kochen am späten Nachmittag. Habe dann vergessen, einige Zutaten dazu zu tun und habe ohne diese gekocht ... Es war aber keine Suppe, sondern nur heißes Wasser."
Nachmittags gegen 17:00 Uhr käme der Ehemann, der bereite dann das Essen. Auf Nachfrage: Sie helfe ihm beim Kochen, berate ihn, „er fragt mich, was er machen soll" und er koche dann das, „was mir schmeckt". Beim Kochen selbst helfe sie nicht, das erledige der Ehemann. Sie decke wohl den Tisch, räume dann auch manchmal ab. Am späteren Abend „sitze ich auf dem Sofa". Gegen 23:00 Uhr begebe sie sich zu Bett.
Zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel befragt: Zuletzt sei sie vor drei Wochen mit dem Ehemann mit einem öffentlichen Verkehrsmittel gefahren. Gefragt, wann zuletzt sie allein gefahren sei: Vor zwei Wochen sei sie mit dem Bus vom Bahnhof S4 nach W1 gefahren. Es handele sich um einen Direktbus. Von der W1 R5straße aus sei sie dann zu Fuß zum B1 gegangen, der seine Praxis in der S5 habe.

Nach dem von S3 erhobenen psychischen Befund trug die Klägerin gepflegte Alltagskleidung, einen modischen Kurzhaarschnitt, keine Pflegedefizite. Im Kontaktverhalten anfangs zurückhaltend, verschlossen wirkend, dann zunehmend freundlich-zugewandt, schließlich aufgeschlossen; durchwegs mitteilungsbereit. Blickkontakt haltend, differenzierte Artikulation, keine Sprech- oder Sprachstörung. Im Sozialverhalten korrekt, situationsangemessene Nähe-Distanz-Regulation.
Bei eigenamnestischer Angabe von „Schwierigkeiten beim Sprechen über die Verletzung der Tochter" - insofern sie dann ihren „Körper verliere ... Man kann gar nicht mehr reden, meine Zunge wurde steif" - wurden solche Phänomene von S3 zu keinem Zeitpunkt beobachtet. Bei der Erörterung traumatischer Belastungen keine Hinweise auf flashbackartiges Wiedererleben, wie es sich etwa in sprachlichen und formalgedanklichen Veränderungen (Verlangsamung des Sprachflusses, Änderung der Sprachmelodie, Wortfindungsstörungen, Umkippen in konfuse Schilderung), in dissoziativen Phänomenen (mentales Abschweifen, Kontaktabbruch, Abbruch des Blickkontakts, tranceartige Interaktionsstörung) oder in Zeichen psychovegetativer Anspannung und Erregung (vertiefte Atmung, erhöhte Muskelanspannung, psychomotorische Unruhe) zeigen könnte.
Bei Angabe permanent extrem ausgeprägter Schmerzen waren von S3 keine schmerztypischen Verhaltensweisen zu beobachten (keine Ausweichbewegungen, keine übervorsichtigen Bewegungen, kein Reiben eines Schmerzbereichs, kein Entlasten einer Schmerzzone, keine starre/abnorme Haltung, keine Schmerzmimik oder -gestik).
Bei Angabe von Episoden des Orientierungsverlusts bei unbegleitetem Aufenthalt im öffentlichen Raum war die Klägerin bei S3 wach, bewusstseinsklar, zu Person, Ort, Zeit und Situation uneingeschränkt orientiert.
Das Denken war in formaler Hinsicht ungestört, keine Verlangsamung, kein Grübeln, keine Umständlichkeit, keine Einengung, kein Perseverieren, kein Vorbeireden, kein Gedankenabreißen, keine Inkohärenz, keine Ideenflüchtigkeit, keine Neologismen, kein Gedankendrängen, kein beschleunigtes Denken.
Das Auffassungsvermögen war altersentsprechend durchschnittlich gut; Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung nicht objektivierbar beeinträchtigt. Bei Angabe fluktuierend ausgeprägter, schwerster Störungen des Gedächtnisses (auch: episodisches Vergessen des Namens ihrer Töchter, ihres Mannes und des eigenen Namens) fanden sich bei S3 keine sicheren pathologischen Beeinträchtigungen der mnestischen Funktionen in Bezug auf das Kurz- und Langzeitgedächtnis; keine Paramnesien (kein Déjà-vu, keine Intrusionen, kein Flashback); keine pathologischen Ausdauerleistungsdefizite in Bezug auf die konzentrativen und mnestischen Funktionen im mehrstündigen Explorationsverlauf.
Bei depressionstypischem sozialem Rückzugsverhalten fanden sich keine eindeutigen und authentischen pathologischen Ängste im Sinne situativer, panikartiger oder generalisierter Ängste. Eigenanamnestische Angabe von objektiv übertriebenem Kontrollverhalten ohne Zwangscharakteristik (Klägerin betont die Funktionalität des Verhaltens, erlebe sich nicht gedrängt, versuche auch keinen Widerstand dagegen zusätzlich, somit keine plausible Zwangssymptomatik beschrieben); aktuell auf Ebene des beobachtbaren Verhaltens und geklagter Beschwerden keine echte Zwangssymptomatik im Sinne von Zwangsgedanken, -impulsen oder -handlungen.
Aktuell keine überwertigen Ideen, keine Wahnstimmung, keine Wahnideen, kein Beobachtungserleben, keine Wahndynamik.
Die Stimmungslage war herabgemindert, emotionale Schwingungsfähigkeit deutlich eingeschränkt; keine Affektstörung im Sinne von Affektlabilität oder -inkontinenz, keine Ambivalenz oder Parathymie; deutliche Störung der Vitalgefühle (vermindertes Erleben von Vitalität und Frische, rasche körperliche/geistige Erschöpfbarkeit); deutliche Störungen des Selbstwerterlebens, deutliches Insuffizienzerleben.
Der Antrieb war nicht pathologisch gemindert, insbesondere keine erhöhte Ermüdbarkeit, Ausdrucksverhalten adynam und schwunglos.
Kein Hinweis auf Derealisations- oder Depersonalisationserleben, kein Hinweis auf Gedankenausbreitung, -entzug oder -eingebung.
Bei Angabe des Hörens einer fremden männlichen Stimme imperativen Charakters vor drei bis sechs Monaten aktuell kein Hinweis auf illusionäre oder halluzinatorische Fehlwahrnehmungen.
Kein Hinweis auf akute oder latente Eigen- oder Fremdgefährdung.

Zur Konsistenz und Plausibilität war für S3 zusammenfassend festzuhalten, dass sich bei Analyse der Ergebnisse der klinischen Exploration, der körperlich-neurologischen Untersuchung sowie der testpsychologischen Untersuchungen deutliche Hinweise auf negative Antwortverzerrungen im Sinne von nicht bzw. in der geklagten Weise nicht plausiblen Beschwerden ergeben hätten. Nach Art und Ausprägungsgrad dieser multiplen Auffälligkeiten sei Aggravation anzunehmen, Simulation in Teilbereichen nicht auszuschließen. Aufgrund dieser Auffälligkeiten müsse mit den eigenanamnestischen Angaben zu Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen kritisch umgegangen werden.

Auf dieser Grundlage ist auch für den Senat die von S3 auf psychiatrischem Fachgebiet gestellte Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig leichte Episode, schlüssig und nachvollziehbar.
So sind in den Vorbefunden und Vorgutachten durchgängig depressive Syndrome konstatiert und depressive Erkrankungen diagnostiziert, jedoch in deutlich unterschiedlichen Schweregraden (so im Rahmen der Behandlung im Klinikum C1 als gegenwärtig schwere Episode, in der Klinik K1 als mittelgradige depressive Episode, in der Klinik R3 als gegenwärtig schwere depressive Episode, beim M1 eine gewisse depressive Symptomatik, bei N1 eine leichtgradige ängstlich, depressive Symptomatik – diagnostiziert als Angst und depressive Störung, gemischt – bei H1 als gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen).
Bei Zusammenschau der von S3 erhobenen Befunde mit den aktenkundigen Vorbefunden ergibt sich, selbst bei Berücksichtigung der mangelhaften Authentizität bei den hiesigen Beschwerdeangaben, doch das Bild einer offenkundig schon im jungen Erwachsenenalter manifesten, jetzt bereits längerfristig anhaltenden, fluktuierend schwer ausgeprägten depressiven Symptomatik. In der depressionsbezogenen Selbstbeschreibung erreichte die Klägerin mit 45 Wertungspunkten ein Ergebnis, welches - rein formal und nach Selbstbeschreibung - für ein sehr schwer ausgeprägtes depressives Erleben spricht. Wie von S3 bereits dargestellt, wird in der strukturierten Fremdbeurteilung mittels der Hamilton Depression Scale (HAMD-17-Skala) sowie im hiesigen psychischen Befund lediglich eine leichte Depressivität festgestellt. In der Begutachtung durch S3 zeigte sich nämlich auf psychopathologischer Ebene keine grundsätzliche Störung des Antriebs: keine nachvollziehbare Antriebsreduktion, Antriebshemmung und/oder objektivierbare pathologische Ermüdbarkeit. Subjektiv wurde eine Minderung des Erlebens von Vitalgefühlen angegeben. Das Denken war in formaler Hinsicht ungestört. In kognitiver Hinsicht wurden von der Klägerin schwerste Beeinträchtigungen geklagt, jedoch ergaben sich objektivierbare Defizite weder hinsichtlich des Auffassungsvermögens, der Aufmerksamkeit noch hinsichtlich der Konzentrationsleistung oder der mnestischen Funktionen. Pathologische und authentische, krankheitswertige Ängste waren nicht zu eruieren. Zeichen schwerer Depressivität - Ich-Störungen, Wahnerleben, Wahrnehmungsstörungen - waren gegenwärtig nicht zu konstatieren. Früher mitgeteilte Wahrnehmungsstörungen sind nach S3 zwanglos als Pseudohalluzinationen zu bewerten, wie sie bei depressiven Störungen ganz unterschiedlichen Schweregrades von Personen aus dem Kulturkreis der Klägerin häufig berichtet werden. Zeichen schwerster Depressivität - Ich-Störungen, Wahnerleben, Wahrnehmungsstörungen oder Suizidalität - waren hier auszuschließen.
Insgesamt kam so auf psychopathologischer Ebene ein eher umschriebenes leichtgradiges depressives Syndrom zur Darstellung. Für die präzise diagnostische Zuordnung sind die Kriterien des Klassifikationssystems ICD-10 relevant. Auszugehen ist von einer anhaltenden depressiven Verstimmung, hinreichend plausibel nachzuvollziehen sind Interessen- und Freudeverlust, weiterhin auch Minderung des Selbstwerterlebens, und artikulierte unbegründete Schuldgefühle. Die Angaben der Klägerin zur Schlafstörung waren in wesentlicher Hinsicht nicht nachvollziehbar. Weiterhin ist nachzuvollziehen, dass die Klägerin bei multiplen Belastungen im Kindes- und Jugendalter sowie im frühen Erwachsenenalter bereits früh depressive Verstimmungen entwickelt hat. Eigenanamnestisch berichtete die Klägerin hier von einem kinder- und jugendpsychiatrischen stationären Aufenthalt kurz nach Übersiedlung nach Deutschland. Bei nachzuvollziehendem rezidivierendem Verlauf einer depressiven Grunderkrankung und gegenwärtig leichtgradiger depressiver Verstimmung ist nach S3 unter Verwendung des Klassifikationssystems ICD-10 in der Version der „Diagnostischen Kriterien für Forschung und Praxis“ (5. Aufl., WHO 2011) zu diagnostizieren: Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte depressive Episode (ICD-10: F33.0).

Des Weiteren verweist S3 darauf, dass bei der Klägerin letztlich die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung <PTBS> (ICD-10: F43.1) auf Basis der hier erhobenen Befunde nicht zu stellen ist. Zunächst ist festzustellen, dass entgegen eines weit verbreiteten Missverständnisses die PTBS keineswegs primär chronisch verläuft. Nach wissenschaftlicher Datenlage bewältigt der größere Teil traumatisch Belasteter die Erlebnisse ohne gravierende langfristige Folgen; die durchschnittliche Dauer des Bestehens des klinischen Vollbildes beträgt bei Frauen 48 Monate, bei Männern 12 Monate (Frommberger et al. 2019, S. 503). Spätmanifeste posttraumatische Belastungsstörungen mit symptomfreien Monaten oder Jahren zwischen dem Ereignis und der Ausprägung des Vollbildes der Symptomatik sind eine Rarität (Andrews et al. 2007) und stellen besondere Anforderungen an die Diagnosesicherung. Nach aktuellem fachwissenschaftlichem Konsens sind nach einmaligen Erlebnissen „asymptomatische Perioden" von mehr als sechs Monaten hinaus äußerst selten. Nach schweren, langanhaltenden traumatischen Erlebnissen (auch: Missbrauchserlebnisse in der Kindheit) ist die Manifestation klinisch relevanter Symptome auch mehrere Jahre bis Jahrzehnte später im dann eingehend zu begründenden Einzelfall möglich (AWMF 2019, Teil III, S. 22 f.). Im vorliegenden Kontext ist nach S3 zu beachten, dass Gesundheitsschädigungen grundsätzlich vollbeweislich zu sichern sind. Dabei betont die verbindliche aktuelle Begutachtungsleitlinie, dass die Diagnose einer PTBS grundsätzlich nur dann zu stellen ist, wenn anhand der Vorbefundlage und/oder anhand der gutachtlich erhobenen Befunde „Kernsymptome" einer PTBS (wie ein Wiedererleben und ein Vermeidungsverhalten) konkret nachzuweisen und mit einer PTBS zusammenhängende Funktionsstörungen „auf der Befundebene zu sichern" sind (AWMF 2019, Teil III, S. 35).
Es bestehen Hinweise dafür, dass die Diagnose PTBS im therapeutischen Kontext schneller und offenkundig auch weniger kritisch vergeben wird als in Begutachtungen, so dass teilweise von einem „inflationären Gebrauch der Diagnose PTBS" bei unzulässiger Ausweitung des Traumabegriffs gesprochen wird. In einer aktuellen systematischen Untersuchung war bei weniger als 5% von 378 Klägern mit vordiagnostizierter PTBS diese Diagnose auch korrekt und nachvollziehbar gestellt worden (siehe Spieß-Kiefer et al. 2021, S. 201).
In der einschlägigen Begutachtungsleitlinie (AWMF 2019, Teil III, S. 33 ff.) werden für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung die Kriterien nach ICD-10 und DSM-5 zugrunde gelegt. Nach beiden Diagnosesystemen müssen operationalisiert definierte Kriterien erfüllt sein (ICD-10 Kriterien A bis E, nach DSM-5 Kriterien A bis H).
Nach ICD-10 verlangt das A- oder Traumakriterium, dass Betroffene einem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt sein müssen.
Über die subjektive Traumahaftigkeit hinaus enthält das Kriterium noch ein gewisses objektives Korrektiv, weil hiernach überhaupt infrage kommende Ereignisse dazu in der Lage sein müssen, „nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung" auszulösen. „Nahezu bei jedem" kann dabei auch so verstanden werden: Auch bei psychisch robusten Menschen mit überdurchschnittlich starkem Nervenkostüm (LSG NRW, Urteil vom 16. Mai 2007 – L 17 U 127/06 – juris Rn. 25).
Übersichtsarbeiten zeigen laut S3, dass die durch objektivierbare Parameter messbare Schwere des Traumas (z.B. Traumadauer, Schadensausmaß, Verletzungsgrad, Anzahl von Toten) mit dem Ausmaß der Folgen in einer direkten Beziehung steht (Dosis-Wirkungsbeziehung; siehe Maercker/Augsburger 2019),
Folgt man den eigenanamnestischen Angaben der Klägerin, so war ihre biografische Entwicklung multipel belastet: Wiederkehrende direkte intrafamiliäre Gewalterfahrungen durch Mutter und Großvater, indirekte Gewalt/Diskriminierungserfahrungen als Kurden in der Türkei; Zeugenschaft der Verletzung der damals fünfjährigen Tochter; schwere Erkrankung und Pflege, schließlich Tod der Mutter; innerpartnerschaftliche Enttäuschungen. Von den vielfältigen Belastungen kommt am ehesten die nach Mitteilung der Klägerin gravierende Hautverbrühung/-verbrennung der fünfjährigen Tochter als identifizierbar traumatische Belastung infrage. Nähere und insbesondere objektive Informationen zum damaligen Ereignishergang liegen nicht vor. Folgt man den - allerdings in vielfältiger Hinsicht nicht voll authentischen - Angaben der Klägerin, war sie mit der verletzten Tochter mit Wahrscheinlichkeit einer außergewöhnlichen psychischen Belastung ausgesetzt gewesen. Somit ist das A- oder Traumakriterium als mit Wahrscheinlichkeit erfüllt zu betrachten.
Das B- oder Wiedererlebenskriterium verlangt, dass es bei den Betroffenen zu anhaltenden Erinnerungen oder unwillkürlichem Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume etc. kommt. Intrusives Wiedererleben tagsüber - durch sich aufdrängende, nicht ohne weiteres abweisbare und als belastend erlebte Erinnerungen - waren von S3 in Bezug auf die Verletzung der Tochter nicht zu eruieren. Wohl berichtete die Klägerin, dass sie sich an Belastungen in ihrer Kindheit erinnere, „wenn ich mit meinen Kindern zusammensitze". Hierbei gilt, dass die Klägerin selbst sich in solchen Situationen aktiv an ihre eigenen Belastungserfahrungen erinnert. Sie selbst möchte diese Belastung nicht vergessen, „ich erinnere alles, vergesse nichts, bis in die kleinsten Einzelheiten". Deutlich wird in diesem Zusammenhang eine familiendynamische Instrumentalisierung dieser Erinnerungen für die Interaktion mit den Töchtern. Erkennbar erlebt die Klägerin ein Defizit von Wertschätzung und Anerkennung, dass ihre Töchter ihr eben nicht „die Anerkennung [geben], dass ich es schwer gehabt habe ... Ich akzeptiere ihr Leben, aber sie haben kein Verständnis für meine Zeit". Unabhängig davon, ob die von ihr selbst intrafamiliär erlebte Drangsal und die körperlichen Misshandlungen den A- oder Traumakriterien Genüge tun, war hier kein intrusives Wiedererleben, vielmehr eine bewusste und in ihrer persönlichen Erinnerungskultur gepflegte Erinnerung an die eigene schlimme Kindheit zu eruieren.
Albträume traumaspezifischen Inhalts waren ebenfalls nicht mit der notwendigen Plausibilität zu eruieren. Wie an anderer Stelle dargestellt, waren die hiesigen Angaben der Klägerin zu hochfrequenten und maximal belastenden Albträumen seit dem Unfall der Tochter B2 klar zu widerlegen mit früheren eigenanamnestischen Angaben und insbesondere fehlenden Angaben zu entsprechenden Belastungen in praktisch sämtlichen Vorbefunden in den Vorbehandlungen und Vorbegutachtungen. Lediglich in der Begutachtung durch S3 und der Begutachtung durch H1 wurden überhaupt Albträume erwähnt. Die Inhalte waren dabei klar diskrepant zu Angaben bei S3 (siehe Darstellung im Gutachten S3 Abschnitt 4.1). Anzumerken bleibt, dass die hier wie gegenüber dem H1 geltend gemachten Albträume keinen Bezug zu tatsächlich erlebten Belastungen, gar psychotraumatischen Ereignissen haben. Das B- oder Wiedererlebenskriterium ist daher nicht als erfüllt zu betrachten.
Das C- oder Vermeidungskriterium verlangt, dass Betroffene Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen, tatsächlich oder möglichst vermeiden. An Vermeidungsverhalten berichtete die Klägerin hier den selbstständigen Aufenthalt im sozialen Nahraum sowie das selbstständige Pkw-Fahren. Wie von S3 im Gutachten bereits dargestellt, resultiert das Vermeiden der sozialen Öffentlichkeit am ehesten einem kultur- und depressionsassoziierten Schamerleben. Das Vermeiden des selbstständigen Pkw-Fahrens wurde von der Klägerin mit mangelhafter Authentizität beschrieben. Ein Zusammenhang mit einem relevanten Psychotrauma ergab sich nicht. Das C- oder Vermeidungskriterium wird nicht erfüllt.
Das D- oder Hypersensitivitäts-/Amnesiekriterium verlangt, dass bei Betroffenen Zeichen belastungsassoziierter Amnesie oder Hypersensitivität vorliegen. Das Unterkriterium „Amnesie" meint dabei die teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern. Eine Erinnerungsstörung in Bezug auf eine definierte psychische Belastung war hier nicht zu eruieren.
Das alternative Unterkriterium „Hypersensitivität" ist erfüllt, wenn mindestens zwei der folgenden fünf Merkmale erfüllt sind: Ein- und Durchschlafstörungen; Reizbarkeit oder Wutausbrüche; Konzentrationsschwierigkeiten; Hypervigilanz; erhöhte Schreckhaftigkeit. Wohl berichtete die Klägerin bei S3 über Ein- und Durchschlafstörungen, in Teilbereichen - hinsichtlich der Albträume - jedoch definitiv unauthentisch. Auf Befundebene waren hier Reizbarkeit oder Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz oder erhöhte Schreckhaftigkeit nicht zu belegen. Somit ist das D- oder Hypersensitivitäts-/Amnesiekriterium nicht als erfüllt zu betrachten.
Das E- oder Zeitkriterium verlangt, dass die Kriterien B, C und D (Wiedererlebens-, Vermeidungs- und Hypersensitivitäts-/Amnesiekriterium) innerhalb von sechs Monaten nach Ende einer Belastungsperiode erfüllt sein müssen. Aufgrund der mangelhaften Erfüllung der klinischen Kriterien kann auch das E- oder Zeitkriterium nicht erfüllt sein.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im vorliegenden Fall eine posttraumatische Belastungsstörung im Sinne der ICD-10-Kategorie F43.1 nicht mit der hier erforderlichen Sicherheit zu diagnostizieren ist.
Auch nach den Kriterien des Diagnosesystems DSM-5 ist eine posttraumatische Belastungsstörung (DSM-5: F43.10) nicht zu diagnostizieren. Das Traumakriterium im DSM-5 verlangt das Vorliegen der „Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt", wobei beispielhaft angeführt werden: Raubüberfall, erzwungener Geschlechtsverkehr, Entführung, Folterungen, dann aber auch „Natur- oder durch Menschen verursachte Katastrophen und schwere Verkehrsunfälle" (Falkai/Wittchen 2018, S. 373 f.). Analog zu den Darlegungen zum Traumakriterium nach ICD-10 ist auch hier mit Wahrscheinlichkeit die Erfüllung des Kriteriums in Bezug auf die Verletzung der Tochter mit fünf Jahren anzunehmen.
Auch das Klassifikationssystem DSM-5 enthält ein Wiedererlebenskriterium (Kriterium B) und ein Vermeidungskriterium (Kriterium C). Beide Kriterien sind aus denselben Gründen nicht zu bestätigen, wie oben in der Diskussion zu den Kriterien des ICD-10 dargelegt. Da somit die beiden wesentlichen, obligat zu erfüllenden Eingangskriterien B und C nicht erfüllt sind, zudem das A-Item nur mit Wahrscheinlichkeit erfüllt ist, erübrigt sich die Erörterung der weiteren PTBS-Kriterien nach DSM-5 (Kriterium C bis Kriterium H). Auch nach DSM-5 ist eine posttraumatische Belastungsstörung nicht zu diagnostizieren.

Ebenso schlüssig und nachvollziehbar hat auch S3 die Voraussetzungen für die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung verneint.
Wiederholt findet sich in aktenkundigen Vorbehandlungen und Vorgutachten die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung, z.B. als „chronische Schmerzstörung mit somatischen psychischen Faktoren (F45.41), aktenkundig schon in Bezug auf die stationäre Schmerztherapie in der Klinik K1 im März 2019. Während der M1 in seinem Gutachten vom November 2019 diese Diagnose bestätigt (E-Akte, Blatt 709), wird diese vom N1 im Gutachten vom Juli 2022 verworfen, während H1 in seinem SG-Gutachten vom März 2011 genau diese Diagnose stellte.
Nach den „Diagnostischen Kriterien für Forschung und Praxis" setzt die Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung im Sinne der ICD-10 Kategorie F45.4 voraus, dass ein anhaltender, schwerer und belastender Schmerz in einem Körperteil besteht, der nicht hinreichend körperlich erklärbar ist und anhaltend den Hauptfokus der Aufmerksamkeit der Patientin bildet. Nun sind bei der Klägerin langjährig grundsätzlich schmerzbehaftete, überwiegend degenerative Veränderungen des Bewegungsapparates bekannt. Schon im orthopädischen Befundbericht zur Behandlung von Mai bis Juni 2018 werden degenerativ begründete Veränderungen im Bereich der HWS und der oberen Extremitäten festgestellt und als leistungslimitierend beschrieben. Zum Zeitpunkt der Begutachtung durch S3 berichtete die Klägerin von Schmerzen im Kopf und den oberen Extremitäten, verstärkt bei depressiven Verstimmungen. Über die Beschwerdeangaben hinaus ergab sich jedoch keine wesentliche, das Verhalten und Erleben der Klägerin dominierende Schmerzsymptomatik, auch kein Hauptfokus der Aufmerksamkeit mit Bezug auf den Schmerz. Bestens bekannt ist eine verstärkte Schmerzsensitivierung durch depressive Verstimmung. Vom Beschwerdebild von der Befundlage aus ergab sich jedenfalls keine im Vordergrund stehende, organisch nicht hinreichend erklärbare Schmerzsymptomatik. Geklagte Schmerzen im Bewegungsapparat gehen zwanglos in den von orthopädischer Seite diagnostizierten, degenerativen Veränderungen auf. Angesichts der hier berichteten und multiplen aktenkundigen Beschwerden ist vom Bestehen eines gewissen, anhaltenden Kopfschmerzes auszugehen. Die nähere diagnostische Einordnung ist mangels belastbarer eigenanamnestische Angaben nur bedingt möglich. Nach Einschätzung von S3 ist am ehesten Kopfschmerzsyndrom, nicht näher bezeichnet (ICD-10: G44.8) zu diagnostizieren.

S3 hat sich im Weiteren auch für den Senat überzeugend mit den anderen Gutachten auseinandergesetzt und für den Senat schlüssig und nachvollziehbar die von ihm vorgenommene Einschätzung begründet.
Zum Gutachten des M1 hat S3 unter anderem darauf verwiesen, dass dieses Vorgutachten auf eine mangelhafte Authentizität der Beschwerdeangaben fokussiert. Diese Einschätzung gründet auf der Feststellung eines manipulatives Antwortverhalten im Beschwerdevalidierungsverfahren TOMM, auf die fehlende Nachweisbarkeit von Serumspiegeln der nach Angaben der Klägerin angeblich regelmäßig eingenommenen Medikamente sowie auf angegebene, neurologisch nicht erklärbare Sensibilitätsdefizite (mittellinienbegrenzte Hypästhesie der rechten Körperhälfte). Der Vorgutachter resümiert: „Insgesamt ist die Beurteilbarkeit kooperationsbedingt erheblich eingeschränkt". Auch in Bezug auf die Schmerzsymptomatik gelte: „Bei massiver negativer Antwortverzerrung sind allerdings auch die Angaben zur Kopfschmerzsymptomatik nur eingeschränkt verwertbar". Vor dem Hintergrund der „massivsten Aggravation" lasse sich Art und Ausprägung der depressiven Störung nicht weiter einordnen. Die Authentizitätsmängel in Bezug auf angegebene Beschwerden und eingenommene Medikamente würden in diesem Vorgutachten stringent dargelegt. Der psychopathologische Befund habe nur geringe Auffälligkeiten gezeigt. Gleichwohl sei letztlich nicht klar, inwieweit Kommunikationsmängeln der nicht perfekt deutsch sprechenden und verstehenden Klägerin zur Feststellung eines dezenten Symptomprofils beigetragen haben. Immerhin betone der Vorgutachter, die Klägerin habe „die meisten Fragen auf Anhieb" verstanden, was - sofern die Sprachkompetenz hierfür Ursache sei - einen Dolmetscher nahegelegt hätte.

Ebenso äußert S3 auch hinsichtlich des nervenärztlichen Gutachtens von N1 an einigen Stellen Bedenken: Das Gutachten enthalte eine differenzierte Anamnese, einen vollständigen psychopathologischen und neurologischen Befund sowie eine differenzierte Beschwerdevalidierung. Nachvollziehbar sei die Feststellung, dass die durchgeführten Beschwerdevalidierungstests „Hinweise auf negative Antwortverzerrungen" liefern würden, sodass am Beschwerdevortrag im Allgemeinen bzw. an der tatsächlichen Intensität der Beschwerden zu zweifeln sei. Als Detailkritik verweist S3 allerdings darauf, dass die Ergebnisse des Beschwerdevalidierungtests TOMM etwas überinterpretiert erscheinen. Der Vorgutachter bewerte die erbrachten Leistungen in diesem Alternativwahlverfahren - 20 Wiedererkennung nach dem ersten Durchgang, 23 nach dem zweiten - so, dass diese Ergebnisse im Bereich unterhalb der Ratewahrscheinlichkeit (50% = 25 richtige Antworten) liegen würden und nur durch eine bewusste Auswahl von Falschantworten zu erklären sei. Die große Zahl der falschen Antworten der Klägerin erfordere nach N1 viel mehr eine hohe kognitive Leistung, da Falschantworten bewusst generiert werden müssten (da zunächst das richtige Bildobjekt erkannt und dann das falsche benannt werden müsse), was also schwieriger sei, als das richtige Bildobjekt auszuwählen. Bereits im vorangegangenen Gutachten von November 2019 würden vergleichbare Ergebnisse der Beschwerdevalidierungstests beschrieben. In dem Zusammenhang gibt S3 allerdings folgendes zu bedenken: Bei der Interpretation der Ergebnisse des TOMM, eines Alternativwahlverfahrens, liegt die Wahrscheinlichkeit einer zutreffenden Antwort bei bloßem Raten, also ohne mentale Anstrengungsleistung überhaupt, bei 50%, sodass um die 25 Treffer bei reinem Raten zu erwarten sind. Jedoch können auch mehr oder weniger als 25 Treffer durch bloßes zufälliges Auswählen zustande kommen. Auch Extremergebnisse können per Zufall zustande gekommen, nur eben mit geringerer Wahrscheinlichkeit. Teststatistisch ist bei der hier vorliegenden Binomialverteilung mit 5-prozentiger Irrtumswahrscheinlichkeit (üblicher wissenschaftlicher Maßstab) der Zufallsbereich als Konfidenzintervall anzugeben, dieser liegt zwischen 18 und 32 Treffern. So sieht es auch das englischsprachige Handbuch des Verfahrens TOMM vor: „The 95% confidence interval for chance performance ranged from 18 to 32. Consequently, scores below 18 are unlikely to occur by chance" (Tombaugh 1996). Nach wissenschaftlichen Kriterien (Irrtumswahrscheinlichkeit 5 %) sind somit erst unterhalb von 18 Treffern bewusste Falschangaben, also: eine Testmanipulation, anzunehmen. Die von der Klägerin in der Begutachtung durch den Vorgutachter erbrachten Leistungen liegen also ganz im Konfidenzintervall für zufällige Leistungen. Eine Interpretation als bewusste Vortäuschung ist bei üblichen wissenschaftlichen Kriterien nicht möglich. Anders verhält es sich mit der vom Vorgutachter zitierten Ergebnis im Gutachten vom M1, wo die Klägerin 8 Treffer erzielte; damit war damals ein bewusstes manipulatives Verhalten belegt. Im Übrigen sind die diagnostischen Einschätzungen und die Leistungsbeurteilung im Gutachten von N1 auch aus Sicht von S3 schlüssig nachvollziehbar.

Dem Gutachten von H1 kann der Senat in keiner Weise folgen. S3 hat in dem Zusammenhang auch sehr überzeugend und schlüssig die Schwachpunkte dieses Gutachtens beschrieben. Danach ist schon der psychopathologische Befund dieses Gutachtens nicht vollständig. Es fehlten die Beurteilung des Auffassungsvermögens, der Aufmerksamkeit und der Konzentrationsfähigkeit. Die Beurteilung dieser psychopathologischen Kategorien ist notwendig, wenn, wie im vorliegenden Fall, z.B. eine gravierende depressive Störung mit Auswirkung auf das quantitative Leistungsvermögen diagnostiziert werden soll.
Eine weitere Auffälligkeit des psychopathologischen Befundes besteht in der Feststellung: „Halluzinatorisches Erleben wird in der Form von „Träumen" mit auch tageweise auftretenden visuellen Trugwahrnehmungen von „Toten" oder fremden Personen beschrieben". Psychopathologisch handelt es sich bei Halluzinationen um Wahrnehmungen ohne externe Reizquelle, verbunden mit der subjektiven Überzeugung des Realitätscharakters des Wahrgenommenen. Genau letzteres Merkmal ist jedoch nicht erfüllt, es fehlt der Beleg für die subjektive Überzeugung der Klägerin, dass wahrgenommene „Tote" oder „fremde Personen" real präsent wären. Folgt man den im Gutachten von H1 dokumentierten Angaben der Klägerin, so fehlt das Merkmal des Realitätsbewusstseins. Der H1 führt in dem Zusammenhang aus: „Um Feststellung gebeten, ob es sich hierbei um einen Traum oder eine Wahrnehmung im Wachzustand handele, wirkte Frau Y1 verunsichert; sie ging davon aus, sich in einem „Dämmerzustand" zu befinden, aus dem sie dann bei stärkeren Außenreize, gelegentlich auch spontan aufschrecke, wobei sie häufig schreie". Von echten Halluzinationen kann damit aber mit S3 nicht die Rede sein, vielmehr von Pseudohalluzinationen, somit Fehlwahrnehmungen ohne subjektive Realitätsgewissheit (siehe z.B. AMDP 2016, S. 72 f.). Diese Differenzierung ist nicht trivial, da Pseudohalluzinationen bei Personen aus dem Kulturkreis der Klägerin nach klinischer Erfahrung bei affektiven Störungen praktisch jedweden Schweregrades auftreten können.
Zur Authentizität der Angaben der Klägerin findet sich lediglich etwas lapidar und vage der Hinweis, dass die Angaben der Klägerin zur derzeitigen Alltagsgestaltung „im Wesentlichen authentisch [sind] und mit dem beschriebenen und im unmittelbar sich darstellenden Befund kompatibel erscheinen". Legt man als Maßstab die verbindliche aktuelle AVVMF-Begutachtungsleitlinie an, so ist festzustellen: „Eine eingehende, explizit und nachvollziehbar dargelegte Beschwerdevalidierung ist zwingender Bestandteil jedes Gutachtens. Ihr Kernstück ist eine sorgfältige Plausibilitäts- und Konsistenzprüfung, die, je nach Einzelfall, durch spezifische Verfahren untermauert werden kann" (AVVMF 2019, Teil I, S. 12). Grundsätzlich gilt vielmehr: „Die Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit sowie krankheitsbedingter Leistungsbeeinträchtigungen ohne explizite Maßnahmen zur Validierung von Klagen über Beschwerden sowie körperlicher und psychosozialer Einschränkungen ist unvollständig. Ohne dokumentierte Validierung (Darstellung der zur Validierung verwendeten Informationen, Begründung der gutachterlichen Urteilsbildung) kann eine vollbeweisliche Sicherung der Klagen oder gezeigter Funktionsbeeinträchtigungen nicht angenommen werden." (AVVMF 2090, Teil II, S. 38). Eine eingehende, explizit und nachvollziehbar dargelegte Beschwerdevalidierung ist hier im Gutachten von H1 nicht zu entnehmen. Damit fehlt diesem Gutachten - aus der fachlichen Sicht von S3 - ein wesentliches Fundament für die Tragkraft der gutachterlichen Beurteilung.
Im Hinblick darauf sind die gestellten Diagnosen zu hinterfragen. So diagnostiziert H1 eine posttraumatische Belastungsstörung <PTBS> (ICD-10: F43.1), ohne dass die hierfür erforderlichen diagnostischen Kriterien erfüllt werden. Nicht einmal auf Beschwerdeebene, aber auch nicht auf Befundebene wird die Kernsymptomatik der PTBS nachgewiesen. Dieses ist als Defizit zu bewerten, zumal die einschlägige Begutachtungsleitlinie festgelegt, dass die Diagnose einer PTBS nur dann zu stellen ist, wenn anhand der Vorbefundlage und/oder anhand der gutachterlich erhobenen Befunde die „Kernsymptome einer PTBS nachweisbar sind" (AWMF 2017, Teil III, S. 35). Genau dieses leistet das Gutachten H1 nicht.
Auch die gestellte Diagnose der rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10: F33.3) ist nicht hinreichend begründet. Wie oben bereits erläutert, werden im psychopathologischen Befund psychotische Symptome - hier: Halluzinationen - gar nicht hinreichend belegt. Der H1 führt zwar aus: „Sofern die visuellen Trugwahrnehmungen sich höchstens teilweise eindeutig als Reminiszenzen traumatisierender Begebenheiten zuordnen lassen, bleibt zu konstatieren, dass gerade die Wahrnehmung von Toten in der unmittelbaren Umgebung im Sinne eines psychotischen Symptoms einer depressiven Störung einzuordnen ist". Hierbei handele sich aber nach der Einschätzung von S3 teils um Spekulationen, teils um falsche Aussagen. Dass die Wahrnehmung von „Toten" als „Reminiszenzen traumatisierender Begebenheiten" eingeordnet werden könnten setze voraus, dass sie jemals eine solche Konstellation erfahren hätten. Für eine solche beeindruckende Erfahrung gibt es jedoch in allen dokumentierten eigenanamnestischen Angaben, auch im Gutachten von H1 und in der Begutachtung bei S3, keinerlei Hinweis. Dass eine solche Wahrnehmung von „Toten" „gerade im Sinne eines psychotischen Symptoms einer depressiven Störung einzuordnen" sei, ist unzutreffend. Psychotische Symptome bei depressiven Störungen betreffen im Regelfall charakteristische Wahnideen (Armut, körperliche Krankheiten, moralische Schuld); psychotische Fehlwahrnehmungen wie Halluzinationen sind eine echte Rarität; häufig sind hingegen Pseudohalluzinationen bei Personen aus dem Kulturkreis der Klägerin.

Auch die Diagnose der chronischen somatoformen Schmerzstörung (ICD-10: F45.41) wird im Gutachten H1 nicht hinreichend begründet. Voraussetzung wäre nämlich in jedem Fall, dass ein körperlich nicht hinreichend erklärbarer Schmerz als andauernd, schwer und quälend erlebt wird und einen zentralen Fokus der Aufmerksamkeit bildet. Genau das ist jedoch vorliegend nicht der Fall, da H1 dokumentiert: „Sofern Y1 schließlich noch eine somatoforme Beschwerdekomponente beschrieb, maß sie dieser im Rahmen des Untersuchungsgesprächs und insbesondere bei der eingehenden Symptombeschreibung keine besonders hohe Bedeutung bei". Damit aber entfällt eine wesentliche Voraussetzung für die Diagnose der somatoformen Schmerzstörung.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass bei Defiziten des psychopathologischen Befundes, fehlender strukturierten Beschwerdevalidierung und mangelhafter Begründung der diagnostischen Einschätzungen die Grundlage für eine valide Beurteilung von Krankheitsentwicklung, Krankheitsprognose und Leistungsbeurteilung fehlt.

In gleicher Weise hatte auch schon zuvor der N2 in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 17. Mai 2021 Kritik an dem Gutachten von H1 geübt und unter anderem auch darauf verwiesen, dass das Gutachten zum Teil als widersprüchlich zu bezeichnen sei, wenn auf eine posttraumatische Belastungsstörung abgehoben werde, die sich in einer entsprechenden Krankheitsschwere weder in der Anamnese noch im psychopathologischen Untersuchungsbefund wieder finde. So zeigten sich nach N2 im Untersuchungsbefund keine Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung, abweichende Testbefunde diesbezüglich seien ebenfalls nicht vorgelegt worden, weshalb völlig unklar bleibe, wenn bei nur rudimentärer Anamnese an dem Postulat einer posttraumatischen Belastungsstörung festgehalten werde, sodass eine Nachvollziehbarkeit nicht bestehe.
Diskrepanzen ergeben sich laut N2 auch hinsichtlich der Einschätzung des Schweregrades des depressiven Syndroms im Hinblick auf die mitgeteilten testpsychologischen Ergebnisse der Hamilton-Depression-Skala zum mitgeteilten psychopathologischen Befund, zumal auch nicht berichtet worden sei, welche Skala überhaupt ausgefüllt worden sei, da es bei dieser klinischen Fremdbeurteilungsskala mittlerweile mehrere Versionen gebe. Genauso wenig erschließe sich, weshalb die subjektive Beschwerdeangabe  von Schmerzen einer somatoformen Störung zugeordnet worden sei, für die die nach dem ICD-10 geforderte „wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und der Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind“, nachdem weder aus den sachverständigen Zeugenaussagen noch dem Gutachtensergebnis von H1 nachvollziehbare Anknüpfungstatsachen vorhanden seien.

Auf orthopädischem Fachgebiet bestehen daneben noch das bereits 2018 von den R1kliniken und auch von N1 anlässlich der Begutachtung der Klägerin im Juli 2020 diagnostizierte degenerative Zervikalsyndrom ohne Wurzelreiz- oder Ausfallsymptome.

Zur Überzeugung des Senates ist damit im Ergebnis festzustellen, dass bei der Klägerin unter Berücksichtigung der bei ihr bestehenden Erkrankungen zwar qualitative Leistungseinschränkungen - wie zuletzt von S3 beschrieben (keine Tätigkeiten, die mit einer erhöhten psychovegetativen Stressbelastung einhergehen wie z.B. durch erhöhten Zeitdruck [z.B. Akkordarbeit] oder durch unphysiologische psychovegetativen Belastungen [z.B. Nachtarbeit], keine Tätigkeiten mit erhöhter Verantwortung für Personen oder Sachwerte oder Tätigkeiten mit anhaltend hohen Anforderungen an die Daueraufmerksamkeit, keine Tätigkeiten mit erhöhten Konfliktpotenzial sowie Tätigkeiten, die die Fähigkeit voraussetzen, sich auf spezifische Bedürfnisse Dritter einzustellen [unmittelbarer Publikumskontakt, pflegende/beratende Tätigkeiten] ebenso wenig Tätigkeiten mit besondere Belastung für die Wirbelsäule, also keine Überkopfarbeiten mit häufigem oder anhaltendem Bücken oder Knien, keine Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten, auch keine Tätigkeiten mit häufigem oder länger dauerndem Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 10 kg ohne Einsatz technischer Mittel, kein häufigeres und länger dauerndes Bücken, keine häufigen oder länger dauernde Tätigkeiten in Zwangshaltungen) - bestehen, diese aber keine quantitative Leistungseinschränkung rechtfertigen. Die Klägerin ist vielmehr zur Überzeugung des Senates noch in der Lage, leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt täglich 6 Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche auszuüben.

Es war im Übrigen im Hinblick auf dieses Leistungsvermögen zu der Frage, inwieweit welche konkrete Tätigkeit der Klägerin noch leidensgerecht und zumutbar ist, keine Prüfung durchzuführen, da die jeweilige Arbeitsmarktlage bei einer Leistungsfähigkeit von sechs Stunden täglich und mehr nicht zu berücksichtigen ist (§ 43 Abs. 3 letzter Halbsatz SGB VI).
Auch Anhaltspunkte dafür, dass hier in der Person der Klägerin eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungs­beeinträchtigung gegeben wäre, bestehen nicht und schließlich ist hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen (siehe BSG Urteil vom 30. November 1983 - 5a RKn 28/82 - in: BSGE 56, 64 = SozR 2200 § 1246 Nr. 110, juris ; siehe insbesondere auch hierzu den bestätigenden Beschluss des Großen Senats vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 - in: BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr. 8, juris; siehe auch zuletzt BSG im Urteil vom 5. Oktober 2005 - B 5 RJ 6/05 R - in: SozR 4-2600 § 43 Nr.5, juris).

Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit des Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die es dem Versicherten nicht erlaubt, täglich viermal eine Fußstrecke von mehr als 500 m in jeweils weniger als 20 Minuten zurückzulegen, stellt bei dem anzuwendenden generalisierenden Maßstab eine derart schwere Leistungseinschränkung dar, dass der Arbeitsmarkt trotz vorhandenen vollschichtigen Leistungsvermögens als verschlossen anzusehen ist (Großer Senat Beschluss vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 - in: BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr. 8 S. 28, juris ; BSG Urteil vom 21. März 2006 - B 5 RJ 51/04 R - in SozR 4-2600 § 43 Nr.8, juris Rn. 15) .
Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (vgl. BSG Urteil vom 17. Dezember 1991 - 13/5 RJ 73/90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr. 10, S. 30 f; Urteile vom 19. November 1997 - 5 RJ 16/97 - SozR 3-2600 § 44 Nr. 10 - und vom 30. Januar 2002 - B 5 RJ 36/01 R - jeweils in juris).
Zur Überzeugung des Senates liegt auch auf der Grundlage der ärztlichen Feststellungen keine Einschränkung der Wegefähigkeit der Klägerin in rentenrelevanten Umfang vor.

Aus diesen Gründen ist auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.  


 

Rechtskraft
Aus
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