L 6 SB 198/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 22 SB 2029/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 SB 198/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 1/23 R
Datum
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.04.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung seines Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 40.

Der 0000 geborene Kläger wurde im Sommer 2000 eingeschult und beendete seine Schullaufbahn im Juni 2016 mit dem Abitur. Im Oktober 2016 begann er ein Biologiestudium, welches er im Herbst 2017 wieder aufgab. Im September 2017 begann er eine Ausbildung zum Chemikanten bei der Y., die er im Januar 2021 erfolgreich abschloss. Bei dieser Firma ist er seitdem als Chemielaborant beschäftigt.

Die Beklagte stellte bei dem Kläger zunächst mit Bescheid vom 08.10.2008 einen GdB von 30 fest (Erstantrag vom 13.11.2007). Dabei berücksichtigte sie ein seelisches Leiden bzw. eine Anpassungsstörung des Klägers mit einem Einzel-GdB von 30 sowie eine Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) mit einem Einzel-GdB von 10. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Bezirksregierung I. mit Widerspruchsbescheid vom 12.03.2009 zurück. In dem sich anschließenden Klageverfahren verurteilte das Sozialgericht (SG) Düsseldorf die Beklagte nach Einholung eines Gutachtens des Diplom-Psychologen B. vom 29.07.2009 und eines jugendpsychiatrischen Sachverständigengutachtens des A. vom 21.05.2010, bei dem Kläger einen GdB von 50 ab Antragstellung festzustellen (Urteil vom 25.01.2011, S 42 SB 92/09). Dagegen legte die Beklagte Berufung ein (Landessozialgericht [LSG] Nordrhein-Westfalen, L 10 SB 59/11). Nach Einholung zweier ergänzender Stellungnahmen des A. vom 05.05.2011 und vom 24.02.2011 einigte sich der Kläger mit der Beklagten auf Feststellung eines GdB von 50 ab Antragstellung (Regelungsangebot der Beklagten vom 27.05.2012, Annahmeerklärung vom 20.06.2012 [Eingang bei Gericht am 22.06.2012]). A. war in seinen ergänzenden Stellungnahmen davon ausgegangen, dass für die unter Teil B Ziff. 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) gemäß der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zusammengefassten Störungen (soziale Phobie und leichtgradige depressive Episode) des Klägers ein Einzel-GdB von 40 und für die „nicht vollständig remittierte Legasthenie“ ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen sei.

Den Vergleich setzte die Beklagte mit Bescheid vom 25.07.2012 um und überprüfte ihre Entscheidung 2014 beanstandungslos.

Im Jahr 2016 leitete sie ein weiteres Nachprüfungsverfahren ein. Im Oktober 2016 sandte die Mutter des Klägers das von der Beklagten übersandte Formular zur Nachprüfung an diese mit dem Hinweis zurück, dass die Art der Einschränkungen des Klägers nicht in den üblichen Rahmen des Fragebogens passe. Seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen würden nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung behandelt. Eine sinnvolle und notwendige Psychotherapie sei unterblieben. Zudem sei seit 2012 eine Schilddrüsenunterfunktion festgestellt worden. Es möge eine persönliche Untersuchung des Klägers durchgeführt werden.

Die Beklagte zog einen Befundbericht bei der den Kläger behandelnden Fachärztin für Allgemeinmedizin O. vom 24.10.2016 bei. Sodann veranlasste sie eine persönliche Begutachtung des Klägers durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie X. (Gutachten vom 26.04.2017). Dieser stellte folgende Behinderungen fest: Seelisches Leiden, Anpassungsstörung (Einzel-GdB 30), Rechtschreibschwäche (Einzel-GdB 20). Eine soziale Phobie sei nicht mehr nachweisbar. Depressive Episoden bei noch bestehender Anpassungsstörung seien nicht mehr geschildert worden.

Mit Schreiben vom 16.05.2017 hörte die Beklagte den Kläger zu einer beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 40 an. Die Beeinträchtigungen „Seelisches Leiden, Anpassungsstörung“ hätten sich gebessert.

Hiergegen wandte die Mutter des Klägers ein, die Begutachtung sei nicht geeignet gewesen, die tatsächlich vorliegenden Behinderungen und Einschränkungen in der sozialen und allgemeinen Teilhabe aufzuklären. Bei dem Kläger bestehe eine tief greifende Entwicklungsstörung (Autismus-Spektrum-Störung [ASS]). Allein dieses Störungsbild verlange permanente Unterstützung in einem Helfersystem. Aktuelle Befunde dazu oder fremdanamnestische Angaben seien nicht erhoben worden. Es bestünden Folgestörungen bzw. Komorbiditäten wie eine rezidivierende depressive Störung, eine affektive Störung, eine Anpassungsstörung und eine sehr ausgeprägte LRS. Das Niveau der LRS sei bereits in der Vergangenheit falsch eingeschätzt worden und werde dem Kläger auch weiterhin zu schaffen machen. Er habe große Probleme mit der Fokussierung seiner Aufmerksamkeit und Konzentration. Es sei auch nicht richtig, dass sich die soziale Phobie gebessert habe. Eine solche habe zu keinem Zeitpunkt bestanden. In Wirklichkeit liege bei dem Kläger eine ASS vor. Seine Teilhabe sei durch die Legasthenie weiterhin eingeschränkt, da korrektes Schreiben Voraussetzung für gute Noten während der Ausbildung sei. Der Kläger habe nur mit massiver Unterstützung das Abitur abgelegt und zunächst versucht, Biologie zu studieren. Er breche sein Studium ab, um eine Ausbildung zum Chemikanten zu beginnen. Auch hierbei werde die Legasthenie eine Rolle spielen.

Nach Einholung einer sozialmedizinisch-gutachtlichen Stellungnahme bei ihrem Gesundheitsamt hörte die Beklagte den Kläger erneut zu der beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 40 an (Schreiben vom 07.07.2017). Hierzu teilte die Mutter des Klägers mit, er habe inzwischen aufgrund von bedeutsamen Ereignissen tiefe Verzweiflung bis hin zu suizidalen Gedanken erlitten.

Die Beklagte hob mit Bescheid vom 04.08.2017 die bisherige Festsetzung (Bescheid vom 25.07.2012) teilweise auf und setzte den GdB auf 40 herab. Der Grad der Behinderung sei nun niedriger zu bewerten. Die Auswirkungen der Beeinträchtigung „Seelisches Leiden, Anpassungsstörung“ hätten sich gebessert. Ein Zugangsnachweis für diesen Bescheid liegt der Beklagten nicht vor.

Den hiergegen im Wesentlichen unter Hinweis auf die bisherigen Ausführungen erhobenen Widerspruch vom 28.08.2017 wies die Bezirksregierung I. nach nochmaliger Einholung gutachtlicher Stellungnahmen des Gesundheitsamtes der Beklagten (C. vom 11.09.2017 sowie des Neurologen und Psychiaters J. vom 04.10.2017) zurück (Widerspruchsbescheid vom 17.10.2017).

Am 16.11.2017 hat der Kläger, vertreten durch seine Mutter, Klage bei dem SG Düsseldorf erhoben. Die der Herabsetzung vorangegangene Sachverhaltsaufklärung sei mangelhaft gewesen. Die Zunahme einiger Beschwerden und das Persistieren anderer Beschwerden seien nicht angemessen gewürdigt worden. Eine Besserung lasse sich nicht nachweisen. Das Bestehen des Abiturs, das Biologiestudium und die Berufsausbildung änderten nichts an seiner Legasthenie und nur wenig an den Auswirkungen dieser Teilleistungsstörung auf die Persönlichkeit. Er sei weiterhin Schüler (Berufsschüler) und lege schriftliche Prüfungen ab. Eine Altersgrenze, bis wann die Auswirkungen der LRS zu bewerten seien, sei in den VMG nicht enthalten. Die seelische Befindlichkeit des Klägers sei durch traumatisierende Ereignisse in den letzten Monaten erneut herabgesetzt.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid vom 04.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2017 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich im Wesentlichen auf das im Verwaltungsverfahren beigezogene Gutachten des X. und auf die gutachtlichen Stellungnahmen ihres Gesundheitsamtes bezogen. Zudem hat sie darauf hingewiesen, dass im Zeitpunkt der Herabsetzungsentscheidung im Oktober 2017 die Schullaufbahn des Klägers bereits beendet gewesen sei.

Das SG hat zunächst einen Befundbericht eingeholt bei dem Facharzt für Neurologie und Nervenheilkunde E. vom 28.01.2018. Es hat sodann Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie T. vom 13.05.2018. Dieser hat in seinem Gutachten nach entsprechender Befragung und Untersuchung des Klägers am 12.04.2018 ausgeführt, dass diagnostisch am ehesten von einer chronisch-depressiven Symptomatik im Sinne einer Dysthymie mit dysthymer Grundstimmung, eingeschränkter affektiver Schwingungsfähigkeit, Problemen in sozialen Kontakten, resignativ-nihilistischen Kognitionen und einer Anhedonie auszugehen sei. Des Weiteren liege eine LRS vor. Ein Vergleich zwischen den tatsächlichen Verhältnissen am 25.07.2012 und der aktuellen Situation sei kaum möglich. Eine Änderung des GdB bezogen auf den 17.10.2017 sei nicht zu begründen. Die Einschätzung vom 25.07.2012 sei das Resultat längerer gutachtlicher und juristischer Auseinandersetzungen und am Ende sicherlich als sehr wohlwollende Einschätzung anzusehen. Eine Änderung des Einzel-GdB für die Dysthymie, die bisher mit 40 bewertet worden sei, sei aktuell nicht zu begründen. Die LRS sei bisher mit einem GdB von 20 bewertet worden. Zwischen beiden Störungen bestünden Wechselwirkungen. Der Gesamt-GdB von 50 für das Funktionssystem Nervensystem und Psyche sei beizubehalten.

Nach der durch den Sachverständigen T. durchgeführten Begutachtung hat die Mutter der Klägerin mit Schreiben vom 18.04.2018 gegen die durchgeführte Begutachtung remonstriert. T. sei kein Sachverständiger für die Problembereiche ihres Sohnes. Er habe offen zugegeben, keine Kenntnisse über Legasthenie, andere Teilleistungsstörungen sowie tiefgreifende Entwicklungsstörungen zu haben.

Die Beklagte hat an der Herabsetzung festgehalten und auf die versorgungsärztliche Stellungnahme ihres Gesundheitsamtes vom 07.08.2018 verwiesen, in der die durch den Sachverständigen durchgeführte Exploration im Beisein der Mutter beanstandet wird. Hinsichtlich der weiterhin bestehenden LRS sei zu berücksichtigen, dass der Kläger sein Abitur erreicht und zunächst sogar ein Biologiestudium aufgenommen habe, so dass ein Einzel-GdB von 20 nicht mehr zu begründen sei. Die Beklagte hat zudem eingewandt, dass Teil B Ziff. 3.4.2 VMG eine Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit im Schul- und Jugendalter aufgrund kognitiver Teilleistungsschwächen lediglich bei wesentlicher Beeinträchtigung der Schulleistungen vorsehe.

Das SG hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie N. vom 10.02.2020 und eines neuropsychologischen Zusatzgutachtens des Diplom-Psychologen PD R. vom 06.12.2019.

R. hat in seinem neuropsychologischen Gutachten nach Untersuchung am 03.12.2019 vereinzelt Einschränkungen des Klägers in seiner geistigen Durchhaltefähigkeit ohne funktionsspezifische Leistungsdefizite festgestellt. Feststellbar seien schizoide, anankastische, selbstunsicher-ängstliche und dependente Merkmalsakzentuierungen im Persönlichkeitsgefüge. Weiterhin seien in geringfügig erhöhten Ausprägungen emotional-instabile Merkmalszüge erkennbar. Die Stimmungslage sei durch unsichere, niedergedrückte sowie ängstlich-angespannte Verstimmungszustände von aktuell leichtgradiger Ausprägungsform geprägt. Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeitserwartung zeigten sich ebenfalls reduziert. Weiterhin seien ausgeprägte Einschränkungen in der emotionalen Differenzierungsfähigkeit feststellbar.

Die Sachverständige N. hat nach Untersuchung am 02.09.2019 auf ihrem Fachgebiet eine Dysthymie und eine isolierte LRS festgestellt. Im Vergleich zur Feststellung der Behinderungen im Bescheid vom 25.07.2012 sei eine Besserung eingetreten. Es bestehe eine Problematik in der sozialen Interaktion mit anderen Menschen. Die weiterhin vorhandene LRS wirke sich nicht mehr derart gravierend aus wie im Kindes- und Jugendalter. Den am 17.10.2017 bestehenden Gesamt-GdB hat N. unter Berücksichtigung des Ergebnisses der neuropsychologischen Begutachtung mit 40 eingeschätzt.

Hiergegen hat die Mutter des Klägers eingewandt, dass die Sachverständige N. einen Ist-Zustand aufgrund der Untersuchung am 02.09.2019 beschreibe und dem Klagegrund inhaltlich nicht nachgegangen sei. Sie habe auch keine gezielte Anamnese zur Legasthenie erhoben. Die Legasthenie bei dem Kläger sei mit einem GdB von 30 zu bewerten, da sie den Bereich der besonders schweren Ausprägung nach mehr als sieben Jahren intensiver außerschulischer Förderung mittlerweile verlassen habe. Aus der Kapitel-Überschrift Teil B Ziff. 3.4.2 VMG „… im Schul- und Jugendalter“ zu folgern, dass die Bewertungsvorgaben nur und ausschließlich bei Schülerinnen und Schülern gälten, sei sachlich falsch und fachlich unhaltbar.

Das SG hat sodann eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen N. vom 13.11.2020 eingeholt, die bei ihrer bisherigen Einschätzung verblieben ist.

Mit Urteil vom 09.04.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. lm Vergleich zu den dem bindend gewordenen Bescheid vom 25.07.2012 zu Grunde liegenden gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers sei bis zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung im Oktober 2017 eine Verbesserung eingetreten und die Herabsetzung des GdB von 50 auf 40 damit (auf der Grundlage von § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz [SGB X]) zu Recht erfolgt. Im Vordergrund der Beschwerden des Klägers stehe nach Einschätzung der beiden Sachverständigen N. und R. eine Dysthymie. Die Dysthymie mit ängstlicher selbstunsicherer Symptomatik und wechselnd ausgeprägter depressiver Symptomatik sei im Sinne von Teil B Ziff. 3.7 VMG als stärker behindernde Störung mit Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in einem Wertungskorridor zwischen 30 und 40 hier mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Symptomatik bei dem Kläger seit dem Kindesalter bestehe und damit chronifiziert sei. Die Rechtschreibschwäche trete demgegenüber als leichte Schwäche ohne wesentliche Beeinträchtigung der Schulleistungen mit einem Einzel-GdB von 10 zurück. Der Gesamt-GdB sei mit 40 zu bewerten. Bei der Bildung des Gesamt-GdB sei zu berücksichtigen, dass nach dem Inhalt der ergänzenden Stellungnahme der Sachverständigen N. bereits die Festsetzung eines Einzel-GdB von 40 als hoch angesetzt zu bewerten sei, da der psychopathologische Befund bis auf berichtete emotionale Stimmungseinbrüche bei besonderen Belastungen des Klägers nicht wesentlich auffällig gewesen sei. Daran ändere auch die Beurteilung des Sachverständigen T. nichts. Dessen Feststellungen zur LRS überzeugten nicht. Das Gericht folge der Argumentation der Beklagten, dass eine relevante Einschränkung der Alltagsfertigkeiten des Klägers vom Sachverständigen nicht festgestellt worden sei. Die Einzelbewertung eines GdB von 20 wegen Legasthenie sei nur bei wesentlicher Beeinträchtigung der Schulleistungen vorgesehen. Gerade diese seien aber angesichts des zwischenzeitlich bestandenen Abiturs, des aufgenommenen Biologiestudiums und der unproblematischen Durchführung der Ausbildung zum Chemikanten nicht festzustellen.

Gegen das ihm am 22.06.2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 21.07.2021 Berufung eingelegt. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, die Sachverständige N. sei nicht in der Lage, seine LRS korrekt einzuschätzen und sie gemäß der Vorgabe der VMG zu beurteilen. Die Legasthenie bedinge eine lebenslang bestehende Beeinträchtigung. Es sei eine analoge Bewertung zu Teil B Ziff. 3.4.2 VMG vorzunehmen. Dort sei auch angegeben, wie weiterbestehende Störungen nach Schulabschluss zu bewerten seien.

In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte den Bescheid vom 04.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2017 dahingehend abgeändert, dass die Herabsetzung erst mit dem 29.08.2017 wirksam wird. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.04.2021 zu ändern und den Bescheid vom 04.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2017 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 19.12.2022 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf ihren erstinstanzlichen Vortrag.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der beigezogenen Streitakte des SG Düsseldorf, S 42 SB 92/09, Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

A) Die mangels einer Berufungsbeschränkung aus § 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach § 143 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben dem angefochtenen Urteil vom 09.04.2021 der Anspruch des Klägers auf Aufhebung des Herabsetzungsbescheides vom 04.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2017 und des Teilanerkenntnisses vom 19.12.2022 (§ 95 SGG).

II. Die nach § 54 Abs. 1 Satz 1, 1. Var. SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Anfechtungsklage gegen die Herabsetzung des GdB auf 40, deren Erfolg die ursprüngliche Festsetzung des GdB auf 50 wiederaufleben ließe, ist unbegründet.

Der Kläger ist durch den Bescheid vom 04.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2017 und des Teilanerkenntnisses vom 19.12.2022 nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, weil der angefochtene Bescheid nach dem Teilanerkenntnis der Beklagten rechtmäßig ist.

Die Beklagte hat den GdB des Klägers auf der Grundlage der maßgeblichen Verhältnisse bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids vom 17.10.2017 zu Recht auf 40 herabgesetzt. Die ursprüngliche sich aus der rückwirkenden Aufhebung ergebende teilweise Rechtswidrigkeit des Herabsetzungsbescheides hat sie durch ihr Teilanerkenntnis beseitigt (dazu näher unter 3. a)).

1. Rechtsgrundlage für die Herabsetzung ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Der Anwendbarkeit des § 48 Abs. 1 SGB X (anstelle von § 59 SGB X) steht nicht entgegen, dass es sich bei dem teilweise aufgehobenen Bescheid vom 25.07.2012 um die Umsetzung des in dem Berufungsverfahren L 10 SB 59/11 am 22.06.2012 geschlossenen (außergerichtlichen) Vergleichs handelt. Denn bei einem Vergleich, der – wie hier – über einen Gegenstand geschlossen wird, der üblicherweise durch Verwaltungsakt geregelt wird, ist die Vorschrift des § 59 SGB X zugunsten einer Anwendung von § 48 Abs. 1 SGB X konkludent abbedungen, wenn nichts dafür spricht, dass der Einigung eine höhere Bestandskraft zukommen soll als einem Urteil (Steinwedel in BeckOGK, SGB X, Stand: 01.12.2020, § 48 Rn. 12; ders., jurisPR-SozR 5/2017 Anm. 3; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.10.2016, L 6 U 34/16, juris Rn. 46 f.; a. A. Schütze in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, Vorb. zu §§ 44-49 Rn. 7 m. w. N.). Vorliegend ergeben sich solche Anhaltspunkte aus der beigezogenen Streitakte mit Aktenzeichen des SG Düsseldorf, S 42 SB 92/09, nicht.

2. Formellen Bedenken begegnet die angefochtene Entscheidung nicht, da die örtlich und sachlich zuständige Beklagte den Kläger vorab ordnungsgemäß angehört und ihren Bescheid ausreichend begründet hat (§ 24 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 SGB X).

3. Die materiellen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X waren in dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung insoweit erfüllt, als eine Herabsetzung für die Zukunft verfügt wurde.

a) Soweit der Bescheid auch eine Herabsetzung für die Vergangenheit, d.h. für die Zeit vom 04.08.2017 bis zur Bekanntgabe und damit dem Wirksamwerden der Herabsetzungsentscheidung, vorsah, lagen die materiellen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht vor. Denn die Regelung erlaubt lediglich eine Aufhebung für die Zukunft (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.12.2021, B 9 SB 6/19 R, juris Rn. 31). Die Beklagte hat diese Teilrechtswidrigkeit allerdings durch ihr Teilanerkenntnis vom 19.12.2022, welches der Kläger angenommen hat, behoben, weil der Bescheid vom 04.08.2017 jedenfalls am 28.08.2017 bereits bekannt gegeben war.

Die (Teil-)Rechtswidrigkeit der Aufhebung für die Vergangenheit steht der Rechtmäßigkeit und damit dem Fortbestand der Herabsetzungsentscheidung für die Zukunft nicht entgegen. Denn der Herabsetzungsbescheid vom 04.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2017 ist nach seinem Inhalt teilbar (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.12.2021, B 9 SB 6/19 R, juris Rn. 23 ff.). Ein Verwaltungsakt kann dann teilweise aufgehoben werden, wenn ein (aufzuhebender) Teil der durch ihn getroffenen (Gesamt-)Regelung in einer Weise tatsächlich und rechtlich abgetrennt werden kann, welche die verbleibende(n) (Teil-)Regelung(en) für sich allein genommen logisch sinnvoll und rechtmäßig fortbestehen lässt (lassen). So liegt es zumindest dann, wenn die erlassende Behörde den verbleibenden Verwaltungsakt von vornherein ohne den gesondert aufgehobenen Teil rechtmäßig hätte erlassen können und dürfen, wenn also von Anfang an eine Vergünstigung oder ein Eingriff auch in geringerer Höhe oder Dauer möglich (gewesen) wäre (BSG, Urteil vom 16.12.2021, B 9 SB 6/19 R, juris Rn. 26 m. w. N.). Das ist hier der Fall. Der Bescheid enthält die Feststellung, dass der GdB 40 (statt 50) betrage, und die weitere auszulegende Bestimmung, dass die Entscheidung ab dem 04.08.2017 gelten soll, als zwei verschiedene Verfügungssätze. Der Herabsetzungsbescheid ist teilbar, weil der Zusammenhang zwischen den Verfügungssätzen logisch und rechtlich auflösbar ist. Der Restverwaltungsakt, der nach Teilaufhebung für die Absenkung des GdB verbleibt, kann für sich genommen rechtmäßig bestehen bleiben (BSG, Urteil vom 16.12.2021, B 9 SB 6/19 R, juris Rn. 31).

b) Die angefochtene Entscheidung ist im Übrigen, d.h. mit Blick auf die Herabsetzung für die Zukunft (ab dem 29.08.2017), rechtmäßig.

aa) Bei der Feststellung des GdB von 50 im Bescheid vom 25.07.2012 handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung i. S. v. § 48 SGB X. Aus dem insofern maßgeblichen Verfügungssatz ergibt sich die unbefristete Feststellung eines GdB von 50 ab dem 13.11.2007.

Soweit auf Seite 2 des Bescheides darauf hingewiesen ist, dass der Schwerbehindertenausweis befristet bis zum 31.01.2014 ausgestellt werde, ist hierin keine Befristung der GdB-Feststellung zu sehen. Dass die Gültigkeit des auszustellenden Ausweises befristet wurde, ist unerheblich, da die Ausstellung des Ausweises bzw. dessen Gültigkeit gedanklich und damit auch rechtlich von der Zuerkennung des Schwerbehinderteneigenschaft zu trennen ist (dazu ausführlich Urteil des erkennenden Senats vom 20.05.2021, L 6 SB 242/20).

bb) Die tatsächlichen Umstände, die Grundlage für die Feststellung des GdB von 50 gewesen sind, haben sich entgegen der Auffassung des Klägers wesentlich geändert. Eine wesentliche Änderung liegt im Schwerbehindertenrecht vor, wenn geänderte gesundheitliche Verhältnisse einen um 10 höheren oder niedrigeren GdB begründen (vgl. Teil A Ziff. 7a Satz 1 VMG und etwa BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris Rn. 26; BSG, Urteil vom 11.11.2004, B 9 SB 1/03 R, juris Rn. 12 m. w. N.).

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden festgestellt, § 69 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 SGB IX a.F. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a.F. gelten für diese Feststellung die Maßstäbe der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung (VMG vom 10.12.2008) und insbesondere ihrer Anlage 2 entsprechend.

Die Bemessung des (Gesamt-)GdB ist dabei in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSG, Beschluss vom 09.12.2010, B 9 SB 35/10 B, juris Rn. 5 m. w. N.; BSG, Urteil vom 27.10.2022, B 9 SB 4/2, juris Rn. 21 m. w. N.). In einem ersten Schritt sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche (Gesamt-)GdB zu bilden (BSG, Urteil vom 30.09.2009, B 9 SB 4/08 R, juris Rn. 18 m. w. N.). Außerdem sind nach Teil A Ziff. 3b VMG bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte angegeben sind (BSG, Urteil vom 02.12.2010, B 9 SB 4/10 R, juris Rn. 25; vgl. zum Ganzen auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.06.2012, L 13 SB 127/11, juris Rn. 42 ff., und daran anschließend BSG, Beschluss vom 17.04.2013, B 9 SB 69/12 B, juris Rn. 8 ff.).

Maßgebender Beurteilungs-/Vergleichszeitraum der Rechtmäßigkeit der GdB-Herabsetzung ist hier die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, also die Sach- und Rechtslage bei Erlass des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2017 (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 13. Auflage 2020, § 54 Rn. 33 m. w. N.; BSG, Urteil vom 10.09.1997, 9 RVs 15/96; Urteil vom 12.11.1996, 9 RVs 5/95; Beschluss vom 11.05.2021, B 9 SB 65/20 B), im Vergleich zu der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Vergleichsschlusses am 22.06.2012 (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.08.1998, L 14 RA 27/97, Steinwedel, jurisPR-SozR 5/2017 Anm. 3).

Die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers haben sich in diesem Zeitraum wesentlich gebessert. Sie rechtfertigten nur noch einen Gesamt-GdB von höchstens 40. Dabei ist im Ausgangspunkt der Vollständigkeit halber festzuhalten, dass keinerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Gesundheitszustand des Klägers im Juni 2012 die Feststellung eines GdB von 50 nicht gerechtfertigt hätte.

(1) Die Beeinträchtigungen des Klägers mit Blick auf das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche sind jedenfalls nicht höher als mit einem GdB von 40 zu bewerten.

(a) Nach Teil B Ziff. 3.7 VMG sind stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdB von 30-40 zu bewerten. Eine solche Störung liegt bei dem Kläger vor.

Denn er litt am 17.10.2017 unter einer chronisch-depressiven Symptomatik mit wechselnder Intensität. In dem Gutachten des X. vom 26.04.2017 wird nach persönlicher Begutachtung des Klägers am 16.03.2017 ein seelisches Leiden mit Anpassungsstörung beschrieben. Eine soziale Phobie konnte X. ebenso wenig feststellen wie depressive Episoden. Der Senat folgt daher der Auffassung der Sachverständigen N., dass keine soziale Phobie mehr bei dem Kläger vorlag. Demgegenüber hatte A. in seinem Gutachten vom 21.05.2010 bei dem damals 16-jährigen Kläger neben einer leichtgradigen depressiven Episode und einer LRS eine soziale Phobie festgestellt. Der Kläger hatte diverse isolierte Ängste vor Prüfungen sowie Zukunfts- und Trennungsängste. Aufgrund seiner sozialen Ängste hatte er kaum Kontakt zu Gleichaltrigen aufbauen und wichtige soziale Kompetenzen und Beziehungserfahrungen nicht erlernen können. In der Zwischenzeit hat der Kläger aber im Sommer 2016 die Abiturprüfung abgelegt und ein Studium der Biologie begonnen. Nach Abbruch seines Studiums hat er eine Ausbildung zum Chemikanten erfolgreich abgeschlossen. Er hat einen Freundeskreis und betreibt eine altersgemäße Freizeitgestaltung. Er hat Hobbys und Interessen. Dennoch bestand bei ihm nach den Feststellungen der Sachverständigen N. bedingt durch eine akzentuierte Persönlichkeit mit schizoiden, anankastischen und selbstunsicheren Zügen sowie insbesondere durch eine Gefühlsblindheit eine Problematik in der sozialen Interaktion mit anderen Menschen. Die Feststellungen des Sachverständigen T., der im Wesentlichen bei dem Kläger eine chronisch-depressiven Symptomatik im Sinne einer Dysthymie mit dysthymer Grundstimmung, eine eingeschränkte affektive Schwingungsfähigkeit und Probleme in sozialen Kontakten diagnostiziert hat, weichen von denen der Sachverständigen N. nicht bedeutend ab.

Schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die einen höheren GdB als 40 gerechtfertigt hätten, haben weder die Sachverständige N. noch der Sachverständige T. festgestellt.

Es ist damit für diesen Bereich höchstens von einem Einzel-GdB von 40 auszugehen.

(b) Die bei dem Kläger (unstreitig) weiterhin vorliegende LRS ist nicht (mehr) GdB-relevant. Denn nach Teil B Ziff. 3.4.2 VMG bedingt die Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit im Schul- und Jugendalter durch leichte (ohne wesentliche Beeinträchtigung der Schulleistungen) kognitive Teilleistungsschwächen (z. B. Lese-Rechtschreib-Schwäche [Legasthenie], isolierte Rechenstörung) einen Einzel-GdB von 0-10, sonst – auch unter Berücksichtigung von Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen – bis zum Ausgleich einen Einzel-GdB von 20-40 und bei besonders schwerer Ausprägung (selten) einen Einzel-GdB von 50.

Bereits aus dem Wortlaut der Überschrift des Teil B Ziff. 3.4 VMG sowie aus der Überschrift zu der hier maßgeblichen Ziff. 3.4.2 VMG ergibt sich Beschränkung der Berücksichtigung von Beeinträchtigungen der geistigen Leistungsfähigkeit auf das Kindes- und Jugendalter bzw. auf das Schul- und Jugendalter. Der 0000 geborene Kläger befand sich im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt am 17.10.2017 nicht mehr im Schul- und Jugendalter. Die Berücksichtigung seiner LRS ist daher bereits altersbedingt ausgeschlossen. Eine entsprechende („analoge“) Anwendung der Ziffer (gemäß Teil B Ziff. 1 b) VMG) kommt zur Überzeugung des Senats nicht in Betracht.

Es fehlt zum einen schon an den wortlautgemäßen Voraussetzungen für eine Analogie nach Maßgabe der Regelung in Teil B Ziff. 1 b) VMG. Denn die Bestimmung verlangt, dass die analog zu bewertende Gesundheitsstörung (bislang) nicht in den VMG aufgeführt ist (vgl. dazu näher BSG, Urteil vom 27.10.2022, B 9 SB 4/21 R, juris Rn. 35). Dies ist hier nicht der Fall, weil die LRS in Teil B Ziff. 3.4.2 gelistet ist.

Unbeschadet dessen liegen auch die allgemeinen Voraussetzungen, unter denen üblicherweise von einer Analogie ausgegangen wird (vgl. dazu etwa BSG, Urteil vom 18.09.2012, B 2 U 11/11 R, juris Rn. 24 m. w. N.), nicht vor. Denn es mangelt an einer planwidrigen Regelungslücke (so für die vorliegende Fallgestaltung bereits SG Braunschweig, Urteil vom 12.12.2014, S 11 SB 95/13, juris Rn. 23). Eine planwidrige Regelungslücke ist nicht bereits dann gegeben, wenn eine erwünschte Ausnahmeregelung fehlt oder eine gesetzliche Regelung aus sozial- oder rechtspolitischen Erwägungen als unbefriedigend empfunden wird. Eine Lücke liegt vielmehr nur dort vor, wo das Gesetz eine Regelung weder ausdrücklich noch konkludent getroffen hat und es deshalb nach dem zugrundeliegenden Konzept, dem "Gesetzesplan", unvollständig und damit ergänzungsbedürftig ist (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 06.07.2022, B 5 R 39/21 R, juris Rn. 39 m. w. N.). Dafür bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte. Im Gegenteil zeigt etwa die Folgeziffer Teil B Ziff. 3.5 VMG mit der Überschrift „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“, dass der Verordnungsgeber (offenbar bewusst) zwischen Teilhabebeeinträchtigungen, die nur im Kindes- und Jugendalter berücksichtigt werden sollen, sowie solchen, die zwar im Kindes- und Jugendalter begonnen haben und auch im Erwachsenenalter Berücksichtigung finden sollten, differenziert. Dieses Ergebnis hält der Senat auch für sachgerecht. Denn die während seiner Schulausbildung bedingt durch die LRS vorhandene Teilhabebeeinträchtigung in Form von Nachteilen beim Wissenserwerb liegt angesichts des zwischenzeitlich abgelegten Abiturs (im Jahr 2016), der abgeschlossenen Berufsausbildung und der Integration in den Arbeitsmarkt bei dem Kläger auch nicht mehr bzw. nicht mehr in erheblichem Maße vor.

Da wesentliche Zweifel an der Reichweite der Regelung in Teil B Ziff. 3.4.2 VMG für den Senat nicht bestehen, hat er sich nicht gehalten gesehen, hierzu eine Nachfrage an den Ärztlichen Sachverständigenbeirat nach § 3 VersMedV zu richten (vgl. dazu BSG, Urteil vom 27.10.2022, B 9 SB 4/21 R, juris Rn. 29).

(2) Weitere GdB-relevante und damit berücksichtigungswürdige Gesundheitsstörungen liegen nicht vor. Das Schilddrüsenleiden des Klägers begründet ausgehend von seinem Beschwerdevortrag und den aktenkundigen Befunden gemessen an Teil B Ziff. 15.6 VMG keinen Einzel-GdB.

B) Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193 Abs. 1 Satz 1, 183 SGG und berücksichtigt das nahezu vollständige Unterliegen des Klägers.

C) Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Revision angefochten werden.

Die Revision ist von einem bei dem Bundessozialgericht zugelassenen Prozessbevollmächtigten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder in elektronischer Form beim

Bundessozialgericht, Postfach 41 02 20, 34114 KasseloderBundessozialgericht, Graf-Bernadotte-Platz 5, 34119 Kassel

einzulegen.

Die Revisionsschrift muss bis zum Ablauf der Monatsfrist bei dem Bundessozialgericht eingegangen sein.

Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und

- von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist und über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eingereicht wird oder

- von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 65a Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingereicht wird.

Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung -ERVV) in der jeweils gültigen Fassung. Weitergehende Informationen zum elektronischen Rechtsverkehr können über das Internetportal des Bundessozialgerichts (www.bsg.bund.de) abgerufen werden.

Als Prozessbevollmächtigte sind nur zugelassen

-          jeder Rechtsanwalt,

-          Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen,

-          selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung für ihre Mitglieder,

-          berufsständische Vereinigungen der Landwirtschaft für ihre Mitglieder,

-          Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,

-          Vereinigungen, deren satzungsgemäße Aufgaben die gemeinschaftliche Interessenvertretung, die Beratung und Vertretung der Leistungsempfänger nach dem sozialen Entschädigungsrecht oder der behinderten Menschen wesentlich umfassen und die unter Berücksichtigung von Art und Umfang ihrer Tätigkeit sowie ihres Mitgliederkreises die Gewähr für eine sachkundige Prozessvertretung bieten, für ihre Mitglieder,

-          juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der vorgenannten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.

Die vorgenannten Vereinigungen, Gewerkschaften und juristischen Personen müssen durch Personen mit Befähigung zum Richteramt handeln. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse sowie private Pflegeversicherungsunternehmen können sich durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.

Ein Beteiligter, der zur Vertretung berechtigt ist, kann sich selbst vertreten. Handelt es sich dabei um eine der vorgenannten Vereinigungen, Gewerkschaften oder juristischen Personen, muss diese durch Personen mit Befähigung zum Richteramt handeln.

Die Revisionsschrift muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

Die Revision ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils von einem zugelassenen Bevollmächtigten schriftlich oder in elektronischer Form zu begründen.

Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben.

Die Revision kann nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt.

Für die Revision vor dem Bundessozialgericht kann ein Beteiligter, der nicht schon durch die oben genannten Vereinigungen, Gewerkschaften oder juristischen Personen vertreten ist, Prozesskostenhilfe zum Zwecke der Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragen.

Der Beteiligte kann die Prozesskostenhilfe selbst beantragen. Der Antrag ist beim Bundessozialgericht entweder schriftlich oder in elektronischer Form einzureichen oder mündlich vor dessen Geschäftsstelle zu Protokoll zu erklären.

Dem Antrag sind eine Erklärung des Beteiligten über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und Lasten) sowie entsprechende Belege beizufügen. Hierzu ist der für die Abgabe der Erklärung vorgeschriebene Vordruck zu benutzen. Der Vordruck kann von allen Gerichten oder durch den Schreibwarenhandel bezogen werden.

Wird Prozesskostenhilfe bereits für die Einlegung der Revision begehrt, so müssen der Antrag und die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse - gegebenenfalls nebst entsprechenden Belegen - bis zum Ablauf der Frist für die Einlegung der Revision (ein Monat nach Zustellung des Urteils) beim Bundessozialgericht eingegangen sein.

Mit dem Antrag auf Prozesskostenhilfe kann ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt benannt werden.

Ist dem Beteiligten Prozesskostenhilfe bewilligt worden und macht er von seinem Recht, einen Anwalt zu wählen, keinen Gebrauch, wird auf seinen Antrag der beizuordnende Rechtsanwalt vom Bundessozialgericht ausgewählt.

Der Revisionsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.

Das Bundessozialgericht bittet darüber hinaus um je zwei weitere Abschriften.

Schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt, durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zu Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse eingereicht werden, sind als elektronisches Dokument zu übermitteln. Ist dies aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig. Die vorübergehende Unmöglichkeit ist bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen; auf Anforderung ist ein elektronisches _  Dokument nachzureichen. Gleiches gilt für die nach dem Sozialgerichtsgesetz vertretungsberechtigten Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 65a Absatz 4 Nummer 2 SGG zur Verfügung steht (§ 65d SGG).

Rechtskraft
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