L 9 SO 37/23 KL

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 37/23 KL
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Tenor:

1. Die „Anträge auf Bürgergeld“ werden zurückgewiesen.

2. Die Gehörsrügen werden als unzulässig verworfen.

3. Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der 0000 geborene Antragsteller ist dauerhaft voll erwerbsgemindert und bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung sowie von der Antragsgegnerin ergänzende Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII. Seit April 2016 hat er bei dem Landessozialgericht bislang ca. 550 Verfahren anhängig gemacht. Der Antragsteller hat am 24.01.2023 15 ungeordnete Zettel an das Landessozialgericht übersandt. Zehn Anträge hat der Kläger „gegen Stadt M.“ gerichtet und Bürgergeld von 2023 bis 2032 beantragt. Fünf Gehörsrügen beziehen sich auf die Verfahren L 9 SO 306/22 B ER, L 9 SO 308/22 B ER, L 9 SO 309/22 B ER, L 9 SO 336/22 B ER und L 9 SO 337/22 B ER. Die Gehörsrüge in dem Verfahren L 9 SO 309/22 B ER hat der Antragsteller mit „je mehr Sie der Gegenseite durchgehen lassen, desto mehr Verfahren“ und die Gehörsrüge in dem Verfahren L 9 SO 336/22 mit „schauen wir, wieviele Verfahren wir brauchen um Frage zu klären“ begründet.

II.

Der Senat legt die Anträge „gegen Stadt M.“ auf Bürgergeld dahingehend aus, dass die Stadt M. als Sozialhilfeträger im Wege des Eilrechtsschutzes verpflichtet werden soll, dem Antragsteller bis 2032 Leistungen in Höhe des Bürgergeldes zuzusprechen. Diese Anträge sind zurückzuweisen, denn sie sind rechtsmissbräuchlich. Aus dem gleichen Grund sind die Gehörsrügen als unzulässig zu verwerfen.

Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG steht demjenigen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen. Dieser Gewährleistung liegt der rechtsstaatliche Gedanke einer allgemeinen und lückenlosen gerichtlichen Sicherung gegen Maßnahmen von Trägern der öffentlichen Gewalt im Bereich der individuellen Rechte zu Grunde. Der Bürger hat einen substanziellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (st.  Rspr. des BVerfG, zuletzt Beschluss vom 28.07.2022 – 2 BvR 1814/21 mwN). Der gesetzlich vorgesehene Rechtsweg darf nicht ausgeschlossen werden. Die Rechtsweggarantie des Grundgesetzes gilt allerdings nur im Rahmen der jeweiligen Prozessordnung. Daher ist es zulässig, die Anrufung des Gerichts von der Erfüllung bestimmter, gesetzlich geregelter formaler Voraussetzungen, wie der Einhaltung einer Frist oder einer bestimmten Form, abhängig zu machen, wenn dadurch der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird. Gleiches gilt auch für eine Einschränkung des Rechtswegs durch ungeschriebene, allgemein anerkannte Prozessgrundsätze (BVerfG Beschluss vom 28.07.2022 – 2 BvR 1814/21 und Beschluss vom 21.08.2001 – 2 BvR 282/00).

Ein allgemeines prozessuales Missbrauchsverbot ist in der Rechtsprechung anerkannt (BVerfG Beschluss vom 21.08.2001 – 2 BvR 282/00). Eine Gesamtbetrachtung des Verhaltens ist für die Frage, ob missbräuchliches Verhalten vorliegt, nicht ausgeschlossen. Dessen wesentliche inhaltliche Voraussetzung ist das Vorliegen eines zweckwidrigen Einsatzes von Rechten. Für die Bejahung von Missbrauch muss festgestellt werden können, dass der Betroffene die ihm eingeräumten prozessualen Möglichkeiten nicht zur Wahrung seiner Belange, sondern gezielt zu verfahrensfremden und -widrigen Zwecken einsetzt (BVerfG Beschluss vom 21.08.2001 – 2 BvR 282/00 mwN). In einem solchen Fall dient das Begehren bei verständiger Betrachtung nicht mehr einer vermeintlichen Rechtsverfolgung oder dem Schutz eines vermeintlich beeinträchtigten Rechts; es kann nur noch scheinbar von einem Rechtsschutzbegehren im prozessrechtlichen Sinn ausgegangen werden. Ersuchen, die nur noch primär eine zusätzliche Arbeitsbelastung der Gerichte bezwecken, sind von vornherein nicht als förmliche Rechtsbehelfe zu behandeln. Insofern ist die Sachlage vergleichbar mit der bei der Einreichung von Rechtsmitteln mit vorwiegend beleidigendem Inhalt, die ebenfalls als unbeachtlich angesehen werden (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 20.06.2016 – L 7 AS 950/16 B ER; VG Gelsenkirchen Beschluss vom 08.02.2023 – 15 K 3678/22).

Der Senat geht davon aus, dass der Antragsteller seine ihm vom SGG eingeräumten prozessualen Rechte durch die Anträge und die Gegenvorstellungen missbräuchlich ausnutzt.

Das sozialgerichtliche Verfahren ist für Leistungsempfänger grundsätzlich kostenfrei (§ 183 SGG), ein Anwaltszwang besteht auch beim LSG nicht (§ 73 Abs. 1 SGG), die Formanforderungen an eine wirksame Klageerhebung bzw. Stellung sonstiger Anträge sind gem. (bzw. entsprechend) § 92 SGG gering. Gerade die Vorschrift des § 92 SGG ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass bei den Sozialgerichten auch juristische Laien Schutz suchen und daher die Anforderungen an eine zulässige Klageerhebung bzw. Antragstellung im Lichte des Grundrechts auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht überspitzt sein dürfen. Die Vorschrift dient mit ihren Erleichterungen dem Schutzzweck, es auch den unvertretenen Klägern zu ermöglichen, niedrigschwellig (Hofmann in: Ory/Weth, jurisPK-ERV § 92 SGG Rn. 7) sozialgerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen zu können und hierdurch effektiven Rechtsschutz zu erlangen (BSG Urteil vom 28.09.2006 – B 3 KR 20/05 R; SG Itzehoe Urteil vom 04.09.2018 – S 20 KR 289/18).

Ungeachtet des hiernach vom Gesetzgeber beabsichtigten niedrigschwelligen Zugangs zu den Sozialgerichten deutet bereits die Form der Anträge bzw. Gegenvorstellungen darauf hin, dass es dem Antragsteller nicht ernsthaft um die Erlangung von effektivem Rechtsschutz geht, was im Rahmen der Möglichkeiten des Rechtssuchenden ein Mindestmaß an Bemühung um Verständlichkeit, Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit seines Anliegens erfordert. Die Schreiben beschränken sich auf diverse eng beschriebene, nur schwer zu entziffernde Zettelchen, teilweise in Briefmarkengröße. Bereits dies erweckt den Eindruck, dass es dem Antragsteller unter Ausnutzung der Kostenfreiheit des sozialgerichtlichen Verfahrens und der geringen Formanforderungen um die massenhafte Produktion von Verfahren geht und nicht um das Verfolgen eines ernsthaften Rechtsschutzanliegens. Diese Annahme wird durch die Formulierungen „je mehr Sie der Gegenseite durchgehen lassen, desto mehr Verfahren“ und „schauen wir, wieviele Verfahren wir brauchen um Frage zu klären“ sowie den Umstand, dass der Antragsteller bereits ca. 550 Verfahren bei dem Landessozialgericht anhängig gemacht hat, bestärkt.

Auch aus dem Inhalt der Schreiben folgt der Rechtsmissbrauch. Die Missbräuchlichkeit der Anträge auf Verpflichtung der Stadt M. zur Zahlung von Bürgergeld bis 2032 folgt auch daraus, dass der prozesserfahrene Antragsteller, der nach Aktenlage ein Jurastudium absolviert hat, wissen muss, dass – unabhängig davon, dass er als nicht erwerbsfähige Person ohnehin keinen Zugang zum Bürgergeld hat (§§ 7 Abs. 1 Nr. 2, 8 SGB II) – ein Anspruch auf Zubilligung von Bürgergeld für die nächsten zehn Jahre weder materiell-rechtlich besteht noch bei dem erstinstanzlich zuständigen Sozialgericht oder dem Landessozialgericht zulässig beantragt werden kann. Dem prozesserfahrenen Antragsteller ist bewusst, dass das Landessozialgericht nicht für erstinstanzliche Anträge zuständig ist. Dies hat der Senat ihm gegenüber bereits in zahlreichen Verfahren entschieden (vergl. 15 Verfahren iS L 9 AR 38/20 bis L 9 AR 45/20 und L 9 AR 13/21 bis L 9 AR 19/21). Der Antragsteller weiß, dass ein erstinstanzlicher Antrag beim Landessozialgericht allein dazu führt, dass das Verfahren an das zuständige Sozialgericht verwiesen werden muss. Dies führt auch zu seinen eigenen Lasten zu einer Verzögerung des Gesamtverfahrens. Dass er dennoch beharrlich Anträge ohne Vorbefassung der ersten Instanz direkt beim Landessozialgericht stellt, zeigt, dass es ihm nicht um effektiven Rechtsschutz geht, sondern darum, auch auf diesem Weg eine hohe Verfahrenszahl als Selbstzweck zu produzieren. Die Missbräuchlichkeit der Gehörsrügen wird auch dadurch deutlich, dass der Antragsteller nicht im Ansatz eine Gehörsverletzung iSd § 178a SGG rügt und stattdessen ausdrücklich erklärt, eine möglichst große Anzahl von Verfahren erreichen zu wollen.

Da sich das Verhalten des Antragstellers als bewusst missbräuchlich darstellt, war der Senat nicht verpflichtet, ihn gem. § 106 Abs. 1 SGG auf die fehlende Zulässigkeit seiner Eingaben hinzuweisen (hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 20.06.2016 – L 7 AS 950/16 B ER).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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