L 7 AS 532/22 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 32 AS 4134/21 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 532/22 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein abgeschlossenes einstweiliges Rechtsschutzverfahren.

Der Antragsgegner bewilligte dem Antragsteller mit Bescheid vom 29.11.2021 Leistungen nach dem SGB II von August bis Dezember 2021 i.H.v. monatlich 446 € und von Januar bis Juli 2022 i.H.v. monatlich 449 €. Da der Antragsteller zwei Termine beim Antragsgegner nicht wahrgenommen hatte und nicht erreichbar war, veranlasste der Antragsgegner eine vorläufige Zahlungseinstellung gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 4 SGB II i.V.m.§ 331 SGB III, worüber er den Antragsteller mit Schreiben vom 21.12.2021 informierte.

Am 01.01.2022 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Dortmund beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung von Leistungen auch über Dezember 2021 hinaus zu verpflichten. Er stehe unter Betreuung und sei aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, Termine wahrzunehmen oder abzusagen. Er befinde sich in einer Notlage. Er könne bei einem Bekannten schlafen und erhalte dort Mahlzeiten. Teilweise übernachte er im Wald.

Der Antragsgegner hat beantragt, den Antrag abzulehnen. Es sei nicht nachgewiesen, dass der Antragsteller nicht in der Lage gewesen sei, vorzusprechen. Auch habe der Betreuer des Antragstellers telefonisch mitgeteilt, dass sich der Antragsteller nicht in P., sondern bei Bekannten aufhalte. Offensichtlich sei dem Antragsteller doch ein Außenkontakt möglich.

Mit Bescheid vom 15.02.2022 hat der Antragsgegner den Bewilligungsbescheid vom 29.11.2021 ab 01.01.2022 ganz aufgehoben. Der Antragsteller habe trotz mehrfacher Aufforderung nicht vorgesprochen. Auch zu einer möglichen Aufhebung des Bescheides habe er sich nicht geäußert. Da der Antragsteller letztmalig im Dezember 2021 Leistungen erhalten und trotz Ausbleibens der Leistungen nicht vorgesprochen habe, sei davon auszugehen, dass der Antragsteller nicht hilfebedürftig sei.

Der Antragsteller hat gegen diesen Bescheid Widerspruch erhoben und seinem Bevollmächtigten per Whatsapp mitgeteilt sich in X. und Y. aufzuhalten, weil er dort von Bekannten mit Essen versorgt würde. Er habe keinerlei Geld mehr, bettele und fahre mit öffentlichen Verkehrsmitteln „schwarz“.

Mit Beschluss vom 22.03.2022 hat das Sozialgericht Dortmund den Eilantrag, den es als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (§ 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG) gegen den Bescheid vom 15.02.2022 ausgelegt hat sowie den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Zwar sei unter dem Gesichtspunkt der Meistbegünstigung anzunehmen, dass der Antragsteller nunmehr einen Antrag gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG stellen wolle. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs sei jedoch nicht anzuordnen, weil der Bescheid vom 15.02.2022 nach summarischer Prüfung rechtmäßig sei. Das Gericht gehe davon aus, dass der Antragsteller seinen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften und Mitteln sichern könne. Das Gericht habe den Antragsteller erfolglos aufgefordert, eine eidesstattliche Versicherung zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts vorzulegen. Der Antragsteller habe zuletzt im Monat Dezember 2021 Leistungen nach dem SGB II erhalten und trotz des Ausbleibens weiterer Leistungen nicht mehr beim Antragsgegner vorgesprochen. Aus den aktenkundigen Whatsapp-Verläufen ergebe sich, dass der Antragsteller sich in Y. und X. aufhalte. Er habe nicht glaubhaft gemacht, wie er die Fahrten dorthin finanziere.

Mit Schreiben vom 23.03.2022 hat der Antragsteller eidesstattlich versichert, in einer Hütte im Wald zu übernachten. Er zahle dafür weder Miete noch Heizung und Strom. Er suche regelmäßig bei Freunden Unterschlupf, die ihn mit Essen versorgten oder es ihm ermöglichten, zu duschen. Er fahre ohne Fahrschein. Ebenfalls am 23.03.2022 hat der Antragsteller mit seinem Betreuer beim Antragsgegner vorgesprochen. Mit Bescheid vom 23.03.2022 hat der Antragsgegner die Leistungsgewährung ab März 2022 wieder aufgenommen.

Der Antragsteller hat am 31.03.2022 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 22.03.2022 Beschwerde eingelegt. Die Beschwerde im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hat er am 03.05.2022 für erledigt erklärt und lediglich die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe aufrechterhalten.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren S 32 AS 4134/21 ER unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten.

Zunächst schließt die zwischenzeitliche Erledigung des zugrundeliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht aus. Vielmehr kommt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe auch nach dem Abschluss eines Verfahrens in Betracht, wenn der Prozesskostenhilfeantrag zum Zeitpunkt der Erledigung des Verfahrens im Sinne der Bewilligung entscheidungsreif gewesen ist. Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs liegt vor, wenn der Antragsteller einen bewilligungsreifen Antrag vorgelegt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.04.2010 – 1 BvR 362/10 – m.w.N). Dies ist hier der Fall, denn der Antragsteller hat die für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlichen Unterlagen mit seinem letzten Bewilligungsbescheid über Leistungen nach dem SGB II bereits mit Antragseingang übersandt.

Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen auch im Übrigen vor. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt, denn das Verfahren hatte hinreichende Aussicht auf Erfolg i.S.d. §§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Dies ist dann der Fall, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen Rechtsfrage abhängt. Die Prüfung der Erfolgsaussichten für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können. Prozesskostenhilfe ist auch zu bewilligen, wenn in der Hauptsache eine Beweisaufnahme erforderlich ist und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragstellers ausgehen wird (BVerfG, Beschlüsse vom 04.05.2015 – 1 BvR 2096/13 -, vom 09.10.2014 – 1 BvR 83/12 – und vom 19.02.2008 – 1 BvR 1807/07 –; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 14.02.2022 – L 7 AS 1648/21 B –, vom 05.11.2020 – L 7 AS 743/20 B – und vom 20.04.2016 – L 7 AS 1645/15 B –).

Nach diesen Maßgaben bot der vom Sozialgericht zutreffend als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (§ 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG) gegen den Bescheid vom 15.02.2022 ausgelegte Eilantrag hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Antrag war zunächst statthaft, denn nach Erlass des Aufhebungsbescheides und aufgrund des Entfallens der aufschiebenden Wirkung des hiergegen erhobenen Widerspruchs des Antragstellers (vgl. hierzu § 39 Nr. 1 SGB II) hatte der Antragsteller sein Ziel, die ursprüngliche Bewilligung wieder aufleben zu lassen, mit einem Antrag nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG zu verfolgen (vgl. hierzu Bayerisches LSG, Beschluss vom 07.03.2013 – L 7 AS 77/13 B PKH –; Bayerisches LSG, Beschluss vom 22.11.2016 – L 11 AS 742/16 B ER – juris, Rn. 11; Kallert in: Gagel, SGB III ˂Stand: 76 EL Dezember 2019˃, § 331 SGB III, Rn. 18 f.; vgl. auch Düe in: Brand, SGB III, 7. Aufl. 2015, § 331 Rn. 8; Kaminski in: BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, 68 Ed. ˂Stand: 01.03.2023˃, § 331 SGB III, Rn. 18). Die Entscheidung, ob die aufschiebende Wirkung durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Aufschubinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist in Anlehnung an § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder ob die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Da § 39 Nr. 1 SGB II das Vollzugsrisiko bei Bescheiden, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufheben bzw. zurückzunehmen, grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Aufschubinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs zumindest überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen. Maßgebend ist, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 14.02.2022 – L 7 AS 1828/21 B ER – , vom 30.08.2018 – L 7 AS 1097/18 B ER – und vom 02.03.2017 – L 7 AS 57/17 B ER –; Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl., § 86b Rn. 12 ff. m.w.N.).

Hier sprach unter Berücksichtigung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 15.02.2022. Nach der allein in Betracht kommenden Ermächtigungsgrundlage des § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Antragsgegner ist davon ausgegangen, dass eine wesentliche Änderung der Verhältnisse deshalb eingetreten sei, weil der Kläger nicht mehr hilfebedürftig war. Ein solches Entfallen der Hilfebedürftigkeit lag unter Berücksichtigung des zum Zeitpunkt der Eilentscheidung maßgeblichen summarischen Prüfungsmaßstabes jedoch nicht vor. Gemäߧ§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Wenn eine Behörde einen Bewilligungsbescheid aufhebt, trägt sie die objektive Beweislast für die Änderung der Verhältnisse (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 24.05.2006 – B 11a AL 7/05 R – juris, Rn. 32 m.w.N.; BSG, Urteil vom 15.06.2016 – B 4 AS 41/15 R – juris, Rn. 30).

Damit traf hier grundsätzlich den Antragsgegner die objektive Beweislast, das der Antragsteller nicht mehr hilfebedürftig war. Allein die Begründung in dem streitgegenständlichen Aufhebungsbescheid, der Antragsgegner „gehe davon aus“, dass der Antragsteller nicht mehr hilfebedürftig sei, weil er trotz Zahlungseinstellung nicht bei ihm vorgesprochen habe, lässt schon Zweifel daran aufkommen, ob der Antragsgegner selbst von einer fehlenden Hilfebedürftigkeit des Antragstellers ausging. Jedenfalls hat der Antragsgegner keinen einzigen Anhaltspunkt dafür benannt, dass der Antragsteller nunmehr über Einkommen oder Vermögen verfügte oder Leistungen von anderen bezog. Weder hat er sich zu Herkunft noch Umfang dieser vermeintlichen Einnahmen geäußert noch angegeben, von wem der Antragsteller Leistungen beziehe. Im Endeffekt handelt es sich um bloße Spekulation. Dass der Antragsteller sich dem Antragsgegner gegenüber möglicherweise unkooperativ verhält und Termine nicht wahrnimmt, hat keine Auswirkungen auf die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers. Auch wenn ein Leistungsträger geltend macht, leistungserhebliche Fragen mit einem Leistungsbezieher erörtern zu müssen, kommt im Fall einer mangelnden Mitwirkung lediglich ein Entziehungsbescheid i.S.v. § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I in Betracht. Zumindest im Rahmen des einstweiligen Rechtschutzverfahrens hat der Antragsteller auch keine Veranlassung gegeben, hier eine Beweislastumkehr zu seinen Lasten anzunehmen. Denn dieser hat sogleich seine Kontoauszüge übersandt, die keine Auffälligkeiten auswiesen, und mitgeteilt, in einer Hütte im Wald zu leben, gelegentlich bei Bekannten zu übernachten, zu duschen, zu betteln und schwarzzufahren. Weiter hat er erklärt, an einer komplizierten Migräneerkrankung zu leiden und deshalb Termine nicht wahrnehmen zu können und dies durch Übersendung des psychiatrischen Gutachtens vom 01.02.2018 jedenfalls plausibel gemacht. All dem ist der beweisbelastete Antragsgegner mit nichts als Mutmaßungen entgegengetreten.

Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe liegen vor.

Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§ 73a SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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