L 7 AS 1197/23 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 53 AS 986/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 1197/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 14.08.2023 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 01.06.2023 bis zum 31.12.2023 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung von Bedarfen für Unterkunft und Heizung i.H.v. monatlich 950 € zu zahlen.

Der Antragsgegner hat die Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich mit seiner Beschwerde gegen einen Beschluss, mit dem das Sozialgericht seinen Antrag auf eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Bedarfen für Unterkunft und Heizung i.S.v. § 22 Abs. 1 SGB II im Wege der einstweiligen Anordnung abgelehnt hat.

Der 0000 geborene Antragsteller ist W. Staatsangehöriger und Inhaber einer Niederlassungserlaubnis. Er war bis November 2022 bei der P. AG beschäftigt. Im Anschluss bezog er Arbeitslosengeld I i.H.v. kalendertäglich 59,46 € bis Ende Mai 2023.

Am 03.03.2023 schloss der Antragsteller für die Zeit ab dem 01.04.2023 einen neuen Mietvertrag über eine 3-Zimmer-Wohnung (An der Zieglei 76 in Herne) ab. Ausweislich des Mietvertrages hat er eine Kaltmiete i.H.v. 800 € zuzüglich Heiz- und Betriebskostenabschlägen i.H.v. 200 € monatlich zu zahlen. Weiter war er gemäß dem Mietvertrag zur Zahlung einer Mietkaution i.H.v. 1.600 € verpflichtet.

Der Antragsteller beantragte am 28.04.2023 beim Antragsgegner Leistungen. Er gab an, in einer 2-Zimmer-Wohnung mit einer Wohnfläche von 50 m² zu wohnen. Der Aufforderung des Antragsgegners, eine Vermieterbescheinigung einzureichen, kam der Antragsteller nicht nach und begründete dies mit einer erfolglos verlaufenen Kontaktaufnahme zu seinem Vermieter.

Mit Bescheid vom 14.06.2023 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen nach dem SGB II i.H.v. 502 € monatlich für den Zeitraum von Juni 2023 bis April 2024. Die Bewilligung von Kosten der Unterkunft und Heizung lehnte er ab, weil 16 € / m² Grundmiete als Wucher anzusehen seien. Ortsüblich seien 8,45 € / m². Das Mietverhältnis sei nichtig.

Der Antragsteller legte am 14.06.2023 Widerspruch gegen den Bescheid ein. Er werde sich eine neue Wohnung suchen, die angemessen sei. Momentan müsse er aber die Miete zahlen. Er habe nicht wissen können, dass er seinen Job verliere. Die Wohnung sei tatsächlich 80 m² groß; die Angabe einer Wohnfläche von 50 m² sei ein Fehler gewesen. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.06.2023 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück. Der Mietvertrag sei wegen Sittenwidrigkeit und/ oder als Scheingeschäft nichtig. Hinweis auf ein Scheingeschäft zum Nachteil des Grundsicherungsträgers sei der unbegründete Umzug des Antragstellers in eine „völlig überteuerte“ Wohnung gerade zu Beginn des SGB II-Bezugs, wohl verbunden mit der Überzeugung, dass der Antragsgegner die Aufwendungen für die Unterkunft in jedem Fall während der ersten sechs Monate des Mietvertrages vollständig zu übernehmen habe. Auch habe sich der Antragsteller erst 1,5 Monate nach Mietbeginn offiziell unter der Adresse angemeldet. Weiter sei sich der Antragsteller über die tatsächliche Größe der Wohnung nicht im Klaren gewesen, bzw. sei diese ihm bei der Auswahl der Wohnung offensichtlich „völlig egal“ gewesen. Der Antragsteller hat am 28.06.2023 vor dem Sozialgericht Klage gegen den Bescheid vom 14.06.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.06.2023 erhoben (S 53 AS 1001/23). Zugleich hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Sein Vermieter „mache Stress“, wenn er die Miete nicht zahle. Seine Angaben seien wahrheitsgemäß.

Der Antragsgegner hat beantragt, den Antrag abzulehnen. Dem Antragsteller drohe keine unmittelbare Obdachlosigkeit, weshalb kein Anordnungsgrund vorliege. Ein Anordnungsgrund sei frühestens anzunehmen, wenn der Vermieter eine Räumungsklage erhoben habe.

In einem Erörterungstermin vor dem Sozialgericht am 26.07.2023 hat der Antragsteller angegeben, dass der Vermieter ihm wegen der Nebenkosten entgegengekommen sei und nunmehr nur noch 150 € monatlich verlange. Der Erhalt der Wohnung sei für ihn wichtig, weil er im Rahmen eines familiengerichtlichen Verfahrens anstrebe, seinen Sohn zu sich zu holen. Hierfür benötige er eine entsprechende Wohnung. Das Sozialgericht hat den Antragsteller aufgefordert, entsprechende, dies belegende Unterlagen einzureichen.

Der Vermieter forderte den Antragsteller mit Schreiben vom 06.07.2023 zu Zahlung rückständiger Mieten auf. Der Antragsteller habe von April bis Juli 2023 2.850 € gezahlt. Für Juli stünden 950 € sowie die vor Einzug zu zahlende Kaution i.H.v. 1.600 € aus. Im Hinblick auf die Kaution biete er eine Ratenzahlung an. Andernfalls werde er gezwungen sein, die Forderung gerichtlich geltend zu machen. Mit Mahnung vom 17.07.2023 kündigte der Vermieter an, nunmehr weitere Schritte zu prüfen. Der Antragsteller habe im April und Mai 100 € zu viel für die Nebenkosten gezahlt. Dies werde er mit der ausstehenden Kaution verrechnen. Die 75 m² große Wohnung sei teilmöbliert und mit einer „Hochglanz-Küche“ ausgestattet. Die Küche, die Möglichkeit einer Nutzung von Garage, Garten, Balkon und die neuen Fenster der Wohnung seien beim Mietpreis zu berücksichtigen.

Auf Nachfrage des Sozialgerichts hat der Vermieter mit Schreiben vom 07.08.2023 erklärt, der Antragsteller sei mit jeweils 1.000 € Miete für Juli und August sowie 1.600 € Kaution im Rückstand. Der Antragsteller habe lediglich die ersten drei Monatsmieten gezahlt.

Mit Schreiben vom 04.08.2023 hat der Vermieter das Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs fristlos gekündigt. Die Wohnung sei vollständig geräumt am 19.08.2023 herauszugeben. Im Anschluss erfolge ohne weitere Ankündigung Räumungsklage. Einer Fortsetzung des Mietverhältnisses widerspreche er gem. § 545 BGB. Gleichzeitig hat der Vermieter die ordentliche Kündigung ausgesprochen. Die schriftliche Mieterselbstauskunft des Antragstellers vom 11.02.2023 sei unvollständig gewesen. Der Antragsteller sei nicht mehr in Vollzeit bei der Firma P. beschäftigt gewesen. Aufgrund dieser bewusst unvollständigen Angaben über seine beruflichen und finanziellen Verhältnisse werde die fristlose und hilfsweise die ordentliche Kündigung erklärt. Außerdem werde der Mietvertrag wegen Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Mieters und wegen Täuschung angefochten. Auf die Anfrage des Sozialgerichts, ob bei Zahlung der ausstehenden Mieten das Mietverhältnis fortsetzt werde, hat der Vermieter nicht geantwortet.

Das Sozialgericht Gelsenkirchen hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 14.08.2023 abgelehnt. Das Mietverhältnis sei inzwischen fristlos, hilfsweise ordentlich gekündigt. Gleichwohl liege kein Anordnungsgrund vor. Aufgrund der ordentlichen Kündigung könne der Antragsteller im Falle einer Räumungsklage auch bei Zahlung der hier säumigen Mieten und Kaution die Kündigung das Mietverhältnis nicht nach § 569 Abs. 3 lit. 2 BGB abwenden. Auch eine Folgenabwägung gehe zu Lasten des Antragstellers aus. Es seien keine Gründe ersichtlich, die sich für den Antragsteller bei einem Verlust der aktuellen, im Rahmen des Leistungsbezugs von SGB II deutlich unangemessenen Wohnung besonders gravierend und unumkehrbar darstellen würden. Dass die Wohnung wegen eines Sorgerechtstreit besonders wichtig sei, habe der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht.

Der Antragsteller hat am 16.08.2023 mitgeteilt, dass die Angabe des Vermieters zu den offenen Forderungen unzutreffend sei, weil eine Warmmiete i.H.v. 950 € vereinbart worden seien. Für die Kaution sei ihm ein Aufschub gewährt worden. Der Vermieter habe Kenntnis von seiner finanziellen Situation gehabt. Er führe vor dem Familiengericht ein Klageverfahren hinsichtlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts seines Sohnes. Dabei habe er angegeben, eine 3-Zimmerwohnung zu haben. Er überreichte einen entsprechenden Schriftsatz an das Familiengericht Leverkusen. Der Antragsteller gab an, gegen die Kündigung vorgehen zu wollen.

Am 21.08.2023 hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt. Hätte der Antragsgegner die Miete gezahlt, wäre ihm nie gekündigt worden. Der Antragsgegner unterstelle zu Unrecht, dass es sich um einen Scheinmietvertrag und Wucher handele.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Die Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs dürfen, gemessen an der drohenden Rechtsverletzung, nicht überspannt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.07.2020 – 1 BvR 932/20 – juris, Rn. 10). Die Entscheidungen dürfen sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern (vgl. BVerfGE 126, 1 ˂27 f.˃). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Indessen dürfen sich die Gerichte, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, nur dann an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, wenn sie die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen können. Eine solche abschließende Prüfung kommt allerdings nur in Betracht, wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren möglich ist. Andernfalls ist eine Folgenabwägung durchzuführen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.07.2020, a.a.O., Rn. 11 m.w.N.; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 30.08.2018 – L 7 AS 1268/18 B ER –, vom 05.09.2017 – L 7 AS 1419/17 B ER – und vom 21.07.2016 – L 7 AS 1045/16 B ER –).

Der Antragsteller hat unter Berücksichtigung des im einstweiligen Rechtsschutzverfahrens maßgeblichen summarischen Prüfungsmaßstabs einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er erfüllt unstreitig die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 SGB II. Der 37jährige Antragsteller hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht (Nr. 1) sowie seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Herne und damit in der Bundesrepublik (Nr. 4). Es gibt keine Anhaltspunkte, die gegen seine Erwerbsfähigkeit i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II sprechen. Der Antragsteller ist auch hilfebedürftig i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 SGB II ist. Er hat angegeben, weder über Einkommen noch über Vermögen zu verfügen. Aufgrund seiner Niederlassungserlaubnis unterliegt er auch nicht dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

Unter Zugrundelegung einer summarischen Prüfung hat der Antragsteller gegen den Antragsgegner auch einen Anspruch auf die Zahlung von Bedarfen für Unterkunft und Heizung in der von ihm geltend gemachten Höhe. Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Für die Anerkennung der Bedarfe für Unterkunft gilt eine Karenzzeit von einem Jahr ab Beginn des Monats, für den erstmals Leistungen nach diesem Buch bezogen werden. Innerhalb dieser Karenzzeit werden die Bedarfe für Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt; Satz 6 bleibt unberührt. Wird der Leistungsbezug in der Karenzzeit für mindestens einen Monat unterbrochen, verlängert sich die Karenzzeit um volle Monate ohne Leistungsbezug. Eine neue Karenzzeit beginnt, wenn zuvor mindestens drei Jahre keine Leistungen nach diesem oder dem Zwölften Buch bezogen worden sind. Erhöhen sich nach einem nicht erforderlichen Umzug die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, wird nur der bisherige Bedarf anerkannt. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sind sie nach Ablauf der Karenzzeit als Bedarf so lange anzuerkennen, wie es der oder dem alleinstehenden Leistungsberechtigten oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. Mit der Anerkennung der individuell angemessenen Bedarfe für Unterkunft und Heizung wird das Grundbedürfnis „Wohnen“ abgesichert.

Durchgreifende Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit des zwischen dem Antragsteller und seinem Vermieter abgeschlossenen Mietvertrag bestehen nicht. Die Auffassung des Antragsgegners, der vom Antragsteller abgeschlossene Mietvertrag sei wegen Wuchers bzw. als wucherähnliches Rechtsgeschäft sittenwidrig und nichtig, ist nicht nachvollziehbar. Ein Rechtsgeschäft ist nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig, wenn es nach seinem aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu entnehmenden Gesamtcharakter mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist. Zu berücksichtigen ist nicht nur der objektive Gehalt des Geschäfts, sondern es sind auch die Umstände, die zu seiner Vornahme geführt haben, sowie die Absicht und die Motive der Parteien in die Würdigung. Gegenseitige Verträge können, auch wenn der Wuchertatbestand des § 138 Abs. 2 BGB nicht in allen Voraussetzungen erfüllt ist, als wucherähnliche Rechtsgeschäfte nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig sein, wenn zwischen Leistung und Gegenleistung objektiv ein auffälliges Missverhältnis besteht und außerdem mindestens ein weiterer Umstand hinzukommt, der den Vertrag bei Zusammenfassung der subjektiven und objektiven Merkmale als sittenwidrig erscheinen lässt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten hervorgetreten ist, etwa weil er die wirtschaftlich schwächere Position des anderen Teils bewusst zu seinem Vorteil ausgenutzt oder sich zumindest leichtfertig der Erkenntnis verschlossen hat, dass sich der andere nur unter dem Zwang der Verhältnisse auf den für ihn ungünstigen Vertrag eingelassen hat. Ist das Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besonders grob, so kann dies den Schluss auf die bewusste oder grob fahrlässige Ausnutzung eines den Vertragspartner in seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtigenden Umstands rechtfertigen. Ein auffälliges, grobes Missverhältnis, das den Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung zulässt, kann regelmäßig angenommen werden, wenn der Wert der Leistung annähernd doppelt so hoch ist wie der Wert der Gegenleistung (vgl. BGH, Urteil vom 16.11.2022 – VIII ZR 436/21 – juris, Rn. 31 ff. m.w.N.). Hier bestehen bereits erhebliche Bedenken, dass der von dem Antragsgegner behauptete objektive Umstand eines auffälligen Missverhältnisses vorliegt. Der Antragsteller hat bereits im Verwaltungsverfahren mitgeteilt, dass die Wohnfläche nicht 50 m², sondern 80 m² betrage. Der Vermieter hat im sozialgerichtlichen Verfahren angegeben, die Wohnfläche belaufe sich auf 75 m². Der Antragsgegner hat diesen neuen Vortrag offensichtlich weder zum Anlass genommen, seine Auffassung zu überdenken noch gegebenenfalls weitere Ermittlungen anzustrengen. Dies wird er – ggf. im Rahmen der Hauptsache – nachzuholen haben, sollte er weiter an den Angaben des Vermieters zweifeln. Ausgehend von einer Wohnfläche von 75 – 80 m² liegt die Grundmiete zwischen 10 und 10,67 € / m² und ist damit weit entfernt von dem, was der Antragsgegner als doppelten Preis für „örtsüblichen Wohnraum i.S.v. 8,45 € / m²“ anzusehen scheint. Zu den außerdem erforderlichen subjektiven Merkmalen zwecks Einstufung eines Rechtsgeschäftes als Sittenwidrig liegen keine belastbaren Anhaltspunkte vor. Eine Nichtigkeit i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB ergibt sich weiter nicht aus der Annahme des Beklagten, der „völlig überteuerte“ Mietvertrag sei „zum Nachteil des Grundsicherungsträgers“ abgeschlossen worden. Zunächst hat der Antragsteller seinen Mietvertrag nicht zu Beginn des SGB-II-Bezugs abgeschlossen, sondern am 03.03.2023, wobei er bis Ende Mai 2023 Arbeitslosengeld I in einer Höhe bezogen hat, mit der er die Wohnung ohne Weiteres finanzieren konnte. Im Eilverfahren hat der Antragsteller weiter vorgetragen, eine große Wohnung zur Vorhaltung von Wohnraum für sein Kind zu benötigen und damit einen objektiven Grund für die Auswahl der Wohnung genannt. Selbst wenn die Unterstellungen des Antragsgegners, der Mietvertrag sei „zu seinem Nachteil“ abgeschlossen worden, zutreffend sein sollte, würde dies nicht zur Nichtigkeit des Vertrages führen. Die Absicht, einen Vertrag zum Nachteil eines Dritten zu schließen, führt nur dann zur Nichtigkeit, wenn die Absicht alleiniger oder hauptsächlicher Zweck des Rechtsgeschäftes ist (vgl. BGH, Urteil vom 05.07.2002 – V ZR 229/01 –). Dies ist aber nicht gegeben, wenn der Antragsteller – wie hier – in der angemieteten Wohnung tatsächlich wohnen möchte und sein Vermieter hierfür eine Miete verlangt. Dass eines von beiden nicht ernstlich gewollt sein könnte, ist nicht ersichtlich. Auch die Annahme eines Scheingeschäfts i.S.v. § 117 Abs.1 BGB („wenn nach dem übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien das Vereinbarte keine Geltung haben soll“), scheidet aus diesem Grund aus.

Nach einer summarischen Prüfung sprechen auch überwiegende Gesichtspunkte dagegen, dass der Mietvertrag wegen der vom Vermieter erklärten Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 BGB) oder wegen eines Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft (§ 119 Abs. 2 BGB) ex- tunc nichtig ist. Der Antragsteller bestreitet, gegenüber seinem Vermieter falsche Angaben gemacht zu haben. Die Kausalität der fehlerhaften Angabe eines fortbestehenden Arbeitsverhältnisses wäre zudem fraglich, weil der Antragsteller aufgrund seines fortbestehenden Arbeitslosengeldbezuges zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ohne Weiteres in der Lage war, seine Mietverbindlichkeiten zu begleichen. Verbleibende Zweifel sind im Hauptsacheverfahren zu klären.

Gibt es – wie hier – keine durchgreifenden Anhaltspunkte für ein nichtiges Rechtsgeschäft, ist der Antragsgegner verpflichtet, die tatsächlichen Unterkunftskosten – hier monatlich 950 € – gem. § 22 Abs. 1 SGB II zu tragen und – gegebenenfalls unter Berücksichtigung der gesetzlichen Fristen – ein Kostensenkungsverfahren durchzuführen.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit glaubhaft gemacht. Die Erhebung einer Räumungsklage durch den Vermieter ist keine Voraussetzung für die Annahme eines Anordnungsgrundes (vgl. hierzu Beschlüsse des Senats vom 18.06.2018 – L 7 AS 563/18 B ER – und vom 06.12.2017 – L 7 AS 2132/17 B ER –). Zwar liegt Eilbedürftigkeit nicht vor, wenn zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keinerlei Anhaltspunkte für einen Verlust der Wohnung vorliegen (vgl. hierzu Beschlüsse des Senats vom 11.05.2023 – L 7 AS 382/23 B ER –, vom 12.07.2022 – L 7 AS 351/22 B ER –, vom 19.07.2021 – L 7 AS 950/21 B ER – und vom 06.12.2017 – L 7 AS 2132/17 B ER –). Hier hat der Vermieter den Antragsteller allerdings mehrfach zur Zahlung der ausstehenden Mieten aufgefordert, ihm fristlos und fristgerecht gekündigt sowie zur Räumung der Wohnung aufgefordert. All dies birgt die Gefahr des unwiederbringlichen Verlustes der Wohnung.

Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung kann die Wohnung des Antragstellers durch die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistungszahlung auch gesichert werden und dient nicht nur einer Befriedigung offener Ansprüche des Vermieters (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 12.07.2021 – L 7 AS 640/21 B ER –). Gemäß § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB wird die fristlose Kündigung eines Mietverhältnisses mit Begleichung der Schulden abgewendet, wenn der Vermieter spätestens bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Räumungsanspruchs hinsichtlich der fälligen Miete befriedigt wird oder sich eine öffentliche Stelle zur Befriedigung verpflichtet. Durch die nachträgliche Zahlung der ausstehenden Mieten würde die fristlose Kündigung aufgrund des Zahlungsverzugs wirkungslos und ein Verlust der Wohnung könnte abgewendet werden. Der Annahme eines fortbestehenden Mietverhältnisses im Fall einer Nachtzahlung der Mieten steht die zusammen mit der fristlosen Kündigung erklärte ordentliche Kündigung des Vermieters nicht entgegen. Bei der Prüfung der für die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung maßgeblichen schuldhaften, nicht unerheblichen Pflichtverletzung ist die unverschuldete wirtschaftliche Notlage des Mieters zu berücksichtigen. Ein Mieter kann sich hierbei auf unvorhersehbare wirtschaftliche Engpässe berufen. Bei einem Ausgleich der Mietrückstände ist auch zu prüfen, ob eine Berufung auf die ordentliche Kündigung treuwidrig ist (vgl. BGH, Urteil vom 13.10.2021 – VIII ZR 91/20 –, Rn. 82 f.; BGH, Beschluss vom 20.07.2016 – VIII ZR 238/15 –). Hier beruht die Nichtzahlung der Mieten hier nicht auf dem Verschulden des Antragstellers i.S.d. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB, sondern auf der rechtlich fehlerhaften Handhabung des Antragsgegners. Weiter wäre die nachträgliche Zahlung der Miete bei der Prüfung, ob der Mieter seine vertraglichen Pflichten schuldhaft nicht unerheblich verletzt hat, zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 16.02.2005 – VIII ZR 6/04 – juris).

Um die Hauptsache nicht vorwegzunehmen und nachteilige Folgen auf Seiten des Antragsgegners zu beschränken, ist die einstweilige Anordnung zeitlich zu begrenzen. Beginn der Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistungszahlung ist der Monat Juni 2023 (Eingang des Antrags bei Gericht), die vorläufige Verpflichtung endet mit dem Monat Dezember 2023. Die Dauer der Leistungen wurde in Anlehnung an § 41 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II auf sechs Monate befristet (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 16.03.2020 – L 7 AS 37/20 B ER –).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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