L 9 SO 173/23 NZB und L 9 SO 172/23 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 62 SO 208/22 und S 62 SO 105/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 173/23 NZB und L 9 SO 172/23 ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Tenor:

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 14.03.2023 wird zurückgewiesen.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Kläger begehrt einen Zuschuss zu den Kosten für die Anschaffung einer Gleitsichtbrille iHv 261 €.

Der 0000 geborene Kläger bezieht laufend Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII von der Beklagten. Am 29.09.2021 beantragte er die Übernahme der nach Zahlung des Krankenkassenanteils verbliebenen Kosten für eine stärkere Gleitsichtbrille iHv von noch 261 €. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 04.10.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.05.2022 ab. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Dortmund mit Urteil vom 14.03.2023 abgewiesen und die Berufung nicht zugelassen. Am gleichen Tag hat der Kläger bei dem Sozialgericht Dortmund beantragt, die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zur Zahlung der 261 € zu verpflichten. Nach Zustellung des Urteils am 26.04.2023 hat der Kläger am 23.05.2023 Nichtzulassungsbeschwerde erhoben.

II.

1. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts bedarf gem. § 144 Abs. 1 SGG der Zulassung, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes der auf eine Geldleistung gerichteten Klage 750 € nicht übersteigt und keine Leistungen für mehr als ein Jahr betroffen sind. Die Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Berufung zu Recht nicht zugelassen.

Nach § 144 Abs. 2 SGG ist eine Berufung zuzulassen, wenn 1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, 2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder 3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Grundsätzliche Bedeutung iSd § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG hat eine Rechtssache, wenn sie eine bisher ungeklärte Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Ein Individualinteresse genügt nicht. Die Rechtsfrage darf sich nicht unmittelbar und ohne weiteres aus dem Gesetz beantworten lassen oder bereits von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entschieden sein (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 27.03.2020 – L 7 AS 356/20 NZB). Die Frage, ob ein Leistungsempfänger nach dem SGB XII Anspruch auf die Übernahme von Kosten einer Gleitsichtbrille hat, ist höchstrichterlich geklärt. Die Kosten für die Neuanschaffung einer solchen Brille als Zuschuss sind von der Regelleistung umfasst und begründen, anders als die Reparatur einer Brille (vgl. hierzu BSG Urteil vom 25.10.2017 – B 14 AS 4/17 R), keinen Anspruch nach den Vorschriften des Vierten Kapitels des SGB XII (so BSG Urteil vom 18.07.2019 – B 8 SO 4/18 R). Ansprüche auf Leistungen nach § 73 SGB XII bestehen ebenfalls nicht, weil eine vom Regelbedarf umfasste Leistung keine atypische Bedarfslage darstellt (vgl. BSG vom 29.5.2019 - B 8 SO 8/17 R).

Auch der Berufungszulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG (Divergenz) liegt nicht vor. Eine Divergenz liegt nur vor, wenn ein Sozialgericht in der angefochtenen Entscheidung einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem abstrakten Rechtssatz des (zuständigen) Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellt hat. Eine Abweichung ist nicht schon dann anzunehmen, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts nicht den Kriterien entspricht, die diese Gerichte aufgestellt haben, sondern erst dann, wenn es diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Eine evtl. Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall begründet keine Divergenz (BSG Beschluss vom 05.10.2010 - B 8 SO 61/10 B mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen zum gleichlautenden § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG; LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 27.03.2020 – L 7 AS 356/20 NZB und vom 11.07.2019 - L 7 AS 689/19 NZB). Das Sozialgericht hat keinen abweichenden Rechtssatz in diesem Sinne aufgestellt.

Ebenso wenig liegt der Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG vor. Ein Verfahrensmangel, auf dem der Gerichtsbescheid beruhen kann, liegt nicht vor. Dies macht der Kläger auch nicht geltend.

2. Für den Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung ist nach Erhebung der Nichtzulassungsbeschwerde das Landessozialgericht das sachlich zuständige Gericht der Hauptsache iSd § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 37). Der Antrag ist statthaft. Der Statthaftigkeit steht die Regelung des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG, wonach eine Beschwerde im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen ist, wenn – wie hier – in der Hauptsache die Berufung zulassungsbedürftig ist, nicht entgegen. Zwar lässt sich aus dem Zusammenspiel von § 144 Abs. 1 SGG und § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG entnehmen, dass der Gesetzgeber eine Befassung des Landessozialgerichts mit Streitsachen, deren Wert die Grenzen des § 144 Abs. 1 SGG nicht erreicht, nur nach Zulassung und im einstweiligen Rechtsschutz gar nicht ermöglichen wollte. Dies gilt indes nicht für Eilanträge, für die das Landessozialgericht nicht als Beschwerdegericht, sondern als Gericht der Hauptsache iSd § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG zuständig ist. Ein Ausschluss der Befassung des Landesozialgerichts mit in der zweiten Instanz erstmals gestellten Anträgen auf einstweiligen Rechtsschutz, deren Wert die Grenzen des § 144 Abs. 1 SGG nicht erreicht, wäre mit dem Gebot der Gewährleistung von effektivem Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), das auch effektiven Eilrechtsschutz umfasst (dazu nur Keller in meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 86b Rn. 2a), nicht zu vereinbaren. Das Landessozialgericht ist das zuständige Gericht der Hauptsache bis es die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen hat.

Der Antrag ist unbegründet. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass der Antragsteller sowohl das Bestehen eines materiell-rechtlichen Anspruchs auf die begehrte Leistung (Anordnungsanspruch) als auch die Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 ZPO). Die Prüfung des Anordnungsanspruchs in der vorliegenden Konstellation – originärer einstweiliger Rechtsschutz in der zweiten Instanz unterhalb der Wertgrenzen des § 144 Abs. 1 SGG – setzt neben den Erfolgsaussichten in der Sache voraus, dass der Antragsteller glaubhaft macht, dass die Berufung zugelassen werden muss. Denn nur dann steht die bei Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde eintretende Rechtskraft des klageabweisenden erstinstanzlichen Urteils einem Anordnungsanspruch nicht entgegen (so im Ergebnis auch Bayerisches LSG Beschluss vom 22.02.2010 – L 7 AS 74/10 ER). Nachdem vorliegend die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers zurückgewiesen wurde, ist allein deshalb ein Anordnungsanspruch zu verneinen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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