Tenor:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 20.03.2023 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird endgültig auf 3.125,45 Euro festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der beim Sozialgericht S. unter dem Az. S 32 U 539/22 erhobenen Klage der Antragstellerin gegen den Beitragshaftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 01.07.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.12.2022.
Die Antragstellerin beauftragte die W. (im Folgenden: Nachunternehmerin), für die die Antragsgegnerin als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung zuständig ist, mit Mauer-, Beton- und Stahlbetonarbeiten für die Errichtung des Rohbaus einer Wohnanlage in S.. Als Baubeginn wurde der 27.02.2017 vereinbart. Die vorläufige Netto-Auftragssumme betrug 1.330.584,37 Euro. Die Nachunternehmerin legte der Antragstellerin während der Ausführung des Auftrags zwei von der Antragsgegnerin ausgestellte Unbedenklichkeitsbescheinigungen vor. In der Bescheinigung vom 17.03.2017, die bis zum 15.07.2017 gültig sein sollte, bescheinigte die Antragsgegnerin, dass die Nachunternehmerin „bis zum heutigen Tag“ ihre Zahlungsverpflichtungen zur gesetzlichen Unfallversicherung bezogen auf Arbeitsentgelte i.H.v. 35.000,00 Euro erfüllt habe. In der Bescheinigung vom 27.09.2017, deren Gültigkeit bis zum 15.01.2018 reichte, bestätigte die Antragsgegnerin die Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen zur gesetzlichen Unfallversicherung bezogen auf Arbeitsentgelte i.H.v. 29.760,00 Euro. Nachdem die Nachunternehmerin der Aufforderung der Antragstellerin, eine Schlussrechnung zu erstellen, nicht nachgekommen war, erstellte die Antragstellerin selbst die entsprechende Schlussrechnung und kam auf eine Netto-Summe von 1.022.348,09 Euro und nach Abzug eines Nachlasses i.H.v. 32.291,82 Euro, einer vorläufigen Sicherheit i.H.v. 49.502,81 Euro und einem Abzug u.a für Baustrom und -wasser i.H.v. 9.900,56 Euro auf eine Summe von 930.652,89 Euro. Außerdem machte die Antragstellerin diverse Mängel geltend und stellte der Nachunternehmerin einen Schaden i.H.v. 36.250,00 Euro nebst 15 % Geschäftskosten i.H.v. 5.437,50 Euro in Rechnung.
Die Nachunternehmerin war im Mai 2016 gegründet worden. Gegenüber der Antragsgegnerin gab sie an, dass bei ihr durchschnittlich vier Arbeitnehmer beschäftigt seien und die geschätzten monatlichen Bruttoarbeitsentgelte einschließlich der Aushilfelöhne 4000-5000 Euro monatlich betrügen. In dem unter dem 06.03.2017 unterschriebenen „Lohnnachweis 2016“ meldete die Nachunternehmerin der Antragsgegnerin Arbeitsentgelte i.H.v. 19.846,84 Euro. Mit Bescheid vom 25.04.2017 („Beitragsvorschuss für 2017“) setzte die Antragsgegnerin für das Jahr 2017 einen Beitragsvorschuss in Höhe von insgesamt 1.930,38 Euro, zu zahlen in zwei Raten i.H.v. 672,84 Euro und drei Raten i.H.v. 194,90 Euro, fest. Diesen Beitragsvorschuss beglich die Nachunternehmerin bis auf 0,90 Euro vollständig; die letzte Rate leistete sie in Höhe von 194,00 Euro im Januar 2018. Außerdem leistete die Nachunternehmerin im Februar und im April 2018 Raten für den Beitragsvorschuss 2018 in Höhe von jeweils 321,73 Euro.
In dem unter dem 28.03.2018 unterschriebenen „Lohnnachweis 2017“ meldete die Nachunternehmerin der Antragsgegnerin für das Jahr 2017 Arbeitsentgelte i.H.v. 228.368,00 Euro. Mit dem „Beitragsbescheid für das Jahr 2017“ vom 25.04.2018 setzte die Antragsgegnerin gegenüber der Nachunternehmerin eine Gesamtumlage i.H.v. 14.843,60 Euro fest. Mit zwei weiteren Bescheiden vom gleichen Tage setzte sie außerdem den Beitrag für den Arbeitsmedizinisch-Sicherheitstechnischen Dienst (M.) für das Jahr 2017 i.H.v. 208,64 Euro und Säumniszuschläge für verspätet gezahlte Beitragsvorschüsse i.H.v. 22,50 Euro fest. Sämtliche Bescheide wurden bestandskräftig. Hierauf und auf Beitragsvorschüsse bzw. -abfindungen für das Jahr 2018 – etwaige Bescheide hat die Antragsgegnerin nicht vorgelegt und sind auch nicht aktenkundig – zahlte die Nachunternehmerin nicht mehr.
Auf Antrag der C. eröffnete das Amtsgericht X. mit Beschluss vom 27.09.2018 über das Vermögen der Nachunternehmerin das Insolvenzverfahren (60 IN 96/18). Die Antragsgegnerin meldete unter dem 14.02.2019 als Insolvenzforderung Beiträge für die Zeit vom 01.01.2017 bis zum 28.06.2018 i.H.v. 26.784,05 Euro an. Nach der Aufstellung der Antragsgegnerin setzte sich diese Summe aus Restbeiträgen für das Jahr 2017 i.H.v. 12.293,16 Euro, dem M.-Beitrag 2017 i.H.v. 208,64 Euro, der Beitragsabfindung 2018 i.H.v. 13.983,65 Euro und der M.-Beitragsabfindung 2018 i.H.v. 298,60 Euro zusammen.
Nach Anhörung der Antragstellerin (Schreiben vom 08.01.2021, 24.03.2021, 16.04.2021 und 17.05.2021), in deren Verlauf sich die Antragsgegnerin u.a. unter Berufung auf Datenschutz weigerte, weitere Unterlagen über die Nachunternehmerin und etwaige weitere Auftraggeber der Nachunternehmerin, namentlich auch Beitragsbescheide, der Antragstellerin zugänglich zu machen, nahm die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 01.07.2022 die Antragstellerin zur Beitragshaftung i.H.v. 12.501,80 Euro gemäß § 150 Abs. 3 S. 1 2. Alt. SGB VII i.V.m. § 28e Abs. 3a bis 3f SGB IV in Anspruch. Zur Begründung führte sie unter anderem aus, die Antragstellerin könne sich nicht nach § 28e Abs. 3b SGB IV exkulpieren, da die Unbedenklichkeitsbescheinigungen nicht lückenlos vorgelegt worden seien und auch inhaltlich nicht dazu geeignet gewesen seien, ein Vertrauen in die ordnungsgemäße Beitragserfüllung der Nachunternehmerin zu schaffen, da die in den Bescheinigungen aufgeführten gewerblichen Lohnsummen in keinem adäquaten Verhältnis zur Größe des Auftrags gestanden hätten. Da über die bei der Ausführung des Auftrages für die Antragstellerin angefallenen Arbeitsentgelte keine detaillierten Angaben gemacht worden seien, würden die Arbeitsentgelte entsprechend der Rechtsprechung i.H.v. 2/3 der Netto-Auftragssumme geschätzt. Ausgehend von einem Netto-Auftragsvolumen von 986.098,09 Euro (1.022.348,09 Euro Netto-Auftragssumme aus der Schlussrechnung abzüglich des geltend gemachten Schadens in Höhe von 36.250,00 Euro) ergäben sich mithin beitragspflichtige Arbeitsentgelte aus dem Auftrag der Antragstellerin i.H.v. 657.398,73 Euro. Die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung hieraus betrügen einschließlich des M.-Beitrags 44.217,09 Euro. Diese Summe werde auf den aktuellen Rückstand i.H.v. 12.501,80 Euro gekürzt.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch, in dem die Antragstellerin unter anderem eine nicht ordnungsgemäße Akteneinsicht rügte und die Schätzung der Arbeitsentgelte in Zweifel zog, wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 15.12.2022 unter Vertiefung ihrer Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid als unbegründet zurück. Hiergegen erhob die Antragstellerin am 21.12.2022 Klage beim Sozialgericht S., die dort unter dem Aktenzeichen S 32 U 539/22 geführt wird.
Nachdem die Antragsgegnerin zunächst mit Schreiben vom 27.07.2022 die Vollziehung des Bescheids vom 01.07.2022 bis zum 31.10.2022 ausgesetzt sowie das Sozialgericht S. mit Beschluss vom 11.10.2022 – S 6 U 320/22 ER – die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet hatte, hat die Antragstellerin am 29.12.2022 erneut beim Sozialgericht S. um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
Mit Beschluss vom 20.03.2023 hat das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung der Klage vom 21.12.2022 gegen den Bescheid vom 01.07.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.12.2022 angeordnet. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, es bestünden ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids vom 01.07.2022, und zwar im Hinblick auf die Nachvollziehbarkeit des Bescheides aufgrund einer etwaig nicht ausreichenden Begründung unter Verletzung des § 35 SGB X im Zusammenspiel mit § 25 SGB X, aufgrund dessen derzeit auch nicht beurteilt werden könne, ob der Bescheid der Antragsgegnerin materiell rechtmäßig sei. Die gegenüber der Antragstellerin festgesetzte Beitragshöhe von 12.501,80 Euro sei nicht aus sich heraus nachvollziehbar, was auch daran liege, dass die Antragsgegnerin vor allem unter Hinweis auf den Datenschutz nur sehr eingeschränkt Material zur Verfügung gestellt habe. Damit sei auch das Recht auf Akteneinsicht der Antragstellerin beeinträchtigt worden. Im Übrigen bestehe vorliegend die Konstellation, dass die bestehende Forderungssumme gegen die Nachunternehmerin vollständig durch die Haftung der Antragstellerin aufgezehrt werde, da die gegenüber der Nachunternehmerin tatsächlich insgesamt festgesetzten Beiträge bereits deutlich unter dem Schätzwert im Hinblick auf die allein seitens der Antragstellerin in Auftrag gegebenen Arbeiten lägen. Gäbe es nun andere Auftraggeber, die ebenfalls (aufgrund eines Auftragsvolumens von über 275.000,00 Euro) in Anspruch genommen werden könnten, wären die Auftraggeber – was mit den Ausführungen der Antragsgegnerin übereinstimme – wohl nur anteilig in Anspruch zu nehmen. Fraglich sei, wie dies in der vorliegenden Konstellation zu beurteilen sei, in der nach Angaben der Antragsgegnerin zwar keine weiteren Auftraggeber haftbar gemacht werden konnten, aber gegebenenfalls weitere Auftraggeber vorhanden gewesen seien. Auch insoweit sei eine Prüfung mangels Vorliegens von Unterlagen nicht möglich.
Gegen diesen ihr am 21.03.2023 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin am 19.04.2023 Beschwerde eingelegt. Sie meint, eine weitere Akteneinsicht sei weder für die Nachvollziehbarkeit des Haftungsbescheids erforderlich noch rechtlich möglich, denn es bestehe nur ein Recht auf Einsichtnahme in die Bestandteile des Verwaltungsverfahrens des eigenen Haftungsverfahrens. Die Antragstellerin sei nicht Beteiligte desjenigen Verwaltungsverfahrens, welches die mitglieds- und beitragsrechtlichen Beziehungen der Nachunternehmerin regele. Gleiches gelte auch im Hinblick auf andere potentiell Haftende. Die Bauleistungen anderer Auftraggeber seien bei der Schätzung des Haftungsbetrages nicht zu berücksichtigen. Der Haftungsschuldner hafte lediglich für den Betrag, welcher sich als Beitrag für die von ihm beauftragten Leistungen ergebe. Sie habe dementsprechend den Haftungsbetrag zutreffend ermittelt, indem sie eine Schätzung auf der Grundlage der Schlussrechnung erstellt habe und eine Kürzung auf die rückständigen Beiträge vorgenommen habe. Betrachte man das Ziel der Auftraggeberhaftung, Beitragsausfälle aufzufangen, würde es auch dem Gesetzessinn widersprechen, Rechnungssummen zu berücksichtigen, bei denen die Voraussetzungen für eine Auftraggeberhaftung nicht gegeben seien. Ein vollständiges Auffangen der Beitragsausfälle wäre nur in Ausnahmefällen möglich. Es dürfe daher nicht außer Acht bleiben, dass im hiesigen Verfahren die Antragstellerin schon gut gestellt worden sei, da alle geleisteten Zahlungen der Nachunternehmerin einschließlich der auf den Beitragsvorschuss für das Jahr 2018 geleisteten Zahlungen auf die Rückstände aus dem Jahr 2017 angerechnet worden seien.
Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts S. vom 20.03.2023 zu ändern und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 01.07.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.12.2022 abzulehnen.
Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend und meint, die Antragsgegnerin habe ihr Recht auf rechtliches Gehör verletzt.
Die Antragsgegnerin hat auf Anforderung des Senats die Bescheide vom 25.04.2018 vorgelegt und erneut zur Berechnung der Haftungssumme vorgetragen (Summe aus den drei Bescheiden vom 25.04.2018 = 15.074,74 Euro abzüglich der von der Nachunternehmerin geleisteten Beitragsvorschüsse für 2017 (1929,48 Euro) und für 2018 (2 mal 321,73 Euro)). Außerdem hat sie dargelegt, dass der Insolvenzverwalter der Nachunternehmerin mitgeteilt habe, dass die Nachunternehmerin in den Jahren 2017 und 2018 insgesamt fünf Auftraggeber einschließlich der Antragstellerin gehabt habe. Bei zwei Auftraggebern sei jedoch die Wertgrenze von 275.000 Euro nicht erreicht worden. Ein Auftraggeber sei bereits selbst zahlungsunfähig. Ein weiterer Auftraggeber sei lediglich im Jahre 2018 tätig geworden und dementsprechend auch nur für die rückständigen Beiträge aus 2018 in Haftung genommen worden.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat dem sinngemäß gestellten, wegen der gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG fehlenden aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Beitragshaftungsbescheid vom 01.07.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.12.2022 statthaften und auch im Übrigen zulässigen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG im Ergebnis zu Recht stattgegeben, weil dieser begründet ist. Das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiegt das Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Vollziehung des Bescheids vom 01.07.2022, denn es bestehen in entsprechender Anwendung von § 86a Abs. 3 Satz 2 1. Alt. SGG ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Bescheides. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren grundsätzlich gebotenen summarischen Prüfung des Sachverhalts erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Erfolg der beim Sozialgericht S. anhängigen Klage erheblich wahrscheinlicher als ihre Abweisung (vergleiche zum Prüfungsmaßstab z.B. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 13.07.2022 - L 8 BA 49/21 B ER -, juris Rn. 3 f.; Beschl. v. 28.08.2020 - L 11 KA 60/18 B ER -, juris Rn. 7; Keller , in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 12b ff. m.w.N.).
1. Entgegen der augenscheinlich vom Sozialgericht vertretenen Auffassung leidet der Bescheid vom 01.07.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.12.2022 zwar nicht an einem formellen Fehler, namentlich einem Begründungsmangel im Sinne von § 35 Abs. 1 SGB X oder an einer Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör, das sich für das Verwaltungsverfahren aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ergibt. Sowohl was den Inhalt der Begründung eines Verwaltungsaktes im Sinne von § 35 Abs. 1 SGB X als auch die Gewährung rechtlichen Gehörs betrifft, kommt es stets auf die Rechtsauffassung der Behörde an (vgl. z.B. Luthe, in: jurisPK-SGB X, § 35 Rn. 13; BSG, Urt. v. 29.11.2012 – B 14 AS 6/12 R -, juris Rn. 21; siehe auch BVerfG, Beschl. der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27.05.2016 - 1 BvR 1890/15 -, juris Rn. 14 m.w.N.). Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass sie die Haftungssumme der Antragstellerin unabhängig davon, wie sie die Beitragsschuld der Nachunternehmerin ermittelt hat, schätzen darf, indem sie zwei Drittel des Netto-Auftragsvolumens als auf den Auftrag der Antragstellerin entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelte zugrunde legt, und zugunsten der Antragstellerin die Beitragshaftung lediglich auf den von der Nachunternehmerin geschuldeten Beitrag kürzt. Nach der Auffassung der Antragsgegnerin kommt es auch nicht darauf an, ob und in welchem Umfang andere Auftraggeber die Nachunternehmerin im Jahre 2017 mit der Erbringung von Bauleistungen beauftragt haben, wenn diese, wie die Antragsgegnerin meint und dargelegt hat, selbst nicht als haftende Auftraggeber in Betracht kommen. Ausgehend von dieser Rechtsauffassung musste die Antragsgegnerin die Antragstellerin weder im Einzelnen darüber in Kenntnis setzen, welche anderen Unternehmen die Nachunternehmerin mit welchem Auftragsvolumen im Jahre 2017 beauftragt haben, noch darüber informieren, wie sich die von der Nachunternehmerin für das Jahr 2017 geschuldeten Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung zusammensetzten. Im Übrigen hat die Antragsgegnerin im Laufe des Beschwerdeverfahrens auf Nachfrage des Senats schlüssig dargelegt, wie sie auf den Betrag von 12.501,80 Euro als Haftungssumme gekommen ist. Darüber hinaus hat sie die gegenüber der Nachunternehmerin erlassenen Beitragsbescheide für das Jahr 2017 vorgelegt. Damit hat sie eine etwaige, auch nach ihrer Rechtsauffassung unzureichende Begründung im Sinne von § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X nachträglich gegeben sowie die Antragstellerin auch hinreichend über die nach ihrer Auffassung für den erlassenen Beitragshaftungsbescheid tragenden Umstände informiert und dadurch die Gewährung rechtlichen Gehörs nachgeholt.
2. Der Beitragshaftungsbescheid vom 01.07.2022 ist jedoch nach summarischer Prüfung offensichtlich materiell rechtswidrig. Es kann deshalb dahinstehen, ob die Antragsgegnerin das Recht der Antragstellerin auf Akteneinsicht gemäß § 25 SGB X, bei dem es sowohl hinsichtlich des Umfangs der relevanten Akten als auch hinsichtlich des berechtigten Interesses des Akteneinsicht begehrenden Beteiligten nicht auf die subjektive Sicht der Behörde, sondern auf die objektive Sach- und Rechtslage ankommt (vergleiche hierzu LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 28.05.2008 – L 11 KA 16/08 -, juris Rn. 37 m.w.N.), verletzt hat und welche Rechtsfolgen dies für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 01.07.2022 nach sich zöge.
a) Rechtsgrundlage des Bescheids vom 01.07.2022 ist § 150 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB VII (in der vom 01.10.2009 bis 22.11.2019 geltenden Fassung (a.F.)) i.V.m. § 28e Abs. 3a Satz 1 1. Alt. SGB IV (in der vom 01.04.2012 bis 31.03.2017 sowie vom 01.04.2017 bis 22.11.2019 unverändert geltenden Fassung (a.F.)). Danach haftet ein Unternehmer des Baugewerbes, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Bauleistungen im Sinne des § 101 Abs. 2 SGB III beauftragt, für die Erfüllung der Zahlungspflichten des Unternehmers oder eines von diesem Unternehmer beauftragten Verleihers wie ein selbstschuldnerischer Bürge. Eine Haftung nach § 28e Abs. 3a SGB IV in den genannten Fassungen kommt aber erst ab einem geschätzten Gesamtwert aller für ein Bauwerk in Auftrag gegebenen Bauleistungen von 275.000,- Euro in Betracht, § 28e Abs. 3d Satz 1 SGB IV a.F. Die Haftung entfällt, wenn der Unternehmer nachweist, dass er ohne eigenes Verschulden davon ausgehen konnte, dass der Nachunternehmer oder ein von ihm beauftragter Verleiher seine Zahlungspflicht erfüllt. Ein Verschulden des Unternehmers ist ausgeschlossen, soweit und solange er Fachkunde, Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit des Nachunternehmers oder des von diesem beauftragten Verleihers durch eine Präqualifikation nachweist, die die Eignungsvoraussetzungen nach § 8 der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen Teil A in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. März 2006 (BAnz. Nr. 94a vom 18. Mai 2006) erfüllt (§ 28e Abs. 3b SGB IV a.F.). Der Unternehmer kann den Nachweis nach § 28e Abs. 3b Satz 2 SGB IV anstelle der Präqualifikation auch durch Vorlage einer Unbedenklichkeitsbescheinigung der zuständigen Einzugsstelle für den Nachunternehmer oder den von diesem beauftragten Verleiher erbringen. Die Unbedenklichkeitsbescheinigung enthält Angaben über die ordnungsgemäße Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge und die Zahl der gemeldeten Beschäftigten. Für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung gilt insoweit, dass der Nachunternehmer oder der von diesem beauftragte Verleiher für den Nachweis nach § 28e Abs. 3f SGB IV eine qualifizierte Unbedenklichkeitsbescheinigung des zuständigen Unfallversicherungsträgers vorzulegen hat. Diese hat insbesondere Angaben über die bei dem Unfallversicherungsträger eingetragenen Unternehmensteile und diesen zugehörigen Lohnsummen des Nachunternehmers oder des von diesem beauftragten Verleihers sowie die ordnungsgemäße Zahlung der Beiträge zu enthalten (§ 150 Abs. 3 Satz 2 SGB VII a.F.).
b) Es ist bereits zweifelhaft, ob diese Voraussetzungen für eine Haftung der Antragstellerin dem Grunde nach überhaupt vorliegen. Die Antragstellerin hat zwar für die Erstellung des Bauwerks in S. an alle etwaigen Nachunternehmer (vgl. insoweit BSG, Urt. v. 26.10.2017 – B 2 U 1/15 R -, juris Leitsatz) Bauleistungen in Auftrag gegeben, die den Grenzwert für die Nachunternehmerhaftung nach § 28e Abs. 3d Satz 1 SGB IV a.F. deutlich überschreiten, denn allein der Auftrag an die Nachunternehmerin überstieg den Wert von 275.000,- Euro erheblich. Es erscheint aber ausgehend von der bisherigen Rechtsprechung des Senats durchaus wahrscheinlich, dass sich die Antragstellerin gemäß § 28e Abs. 3b Satz 1, Abs. 3f SGB IV a.F. i.V.m. § 150 Abs. 3 Satz 2 SGB VII a.F. exkulpieren kann, weil die Nachunternehmerin die von der Antragsgegnerin ausgestellten Unbedenklichkeitsbescheinigungen vom 17.03.2017 und 27.09.2017 vorgelegt hat.
Der Senat hat bereits entschieden, dass für den hier streitgegenständlichen Zeitraum des Jahres 2017 Unbedenklichkeitsbescheinigungen nicht lückenlos für den gesamten Zeitraum des Auftrags vorliegen müssen, denn bis zum 30.06.2020 enthielt das Gesetz in § 28e Abs. 3f SGB IV keine entsprechende Vorgabe (Urt. v 19.04.2016 – L 15 U 302/15 –, juris. Rn. 17; dem folgend LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 06.07.2016 – L 17 U 301/15 –, juris Rn. 32; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 18.04.2023 – L 9 U 619/22 –, juris Rn. 47, 50). Ebenso hat der Senat bereits entschieden, dass den Hauptunternehmer keine Pflicht trifft, die vorgelegte Unbedenklichkeitsbescheinigung auf Richtigkeit oder zumindest Schlüssigkeit zu prüfen (Urt. v 19.04.2016 – L 15 U 302/15 –, juris. Rn. 14; dem folgend LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 06.07.2016 – L 17 U 301/15 –, juris Rn. 28; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 18.04.2023 – L 9 U 619/22 –, juris Rn. 48 ff.). Schließlich hat es der Senat für ausreichend erachtet, dass eine Unbedenklichkeitsbescheinigung innerhalb des Zeitraums der Auftragserfüllung vorgelegt wird (Urt. v. 19.04.2016 – L 15 U 302/15 –, juris. Rn. 2, 15). Eine Vorlage bereits im Zeitpunkt der Auftragsvergabe (vgl. LSG Thüringen, Urt. v. 04.07.2019 - L 1 U 1334/18 -, juris Rn. 33) oder zumindest bis zum Beginn der Auftragsausführung (so LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 06.07.2016 – L 17 U 301/15 –, juris Rn. 29) hat der Senat bislang nicht verlangt.
Der Senat verkennt nicht, dass in Rechtsprechung und Literatur mit ausführlicher Argumentation auch andere Auffassungen vertreten werden (vgl. z.B. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 23.06.2022 – L 10 U 1400/20 - juris Rn. 33 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 26.06.2019 – L 3 U 194/16 –, juris Rn. 38 f. zur lediglich zeitabschnittsweisen Exkulpation für die bescheinigte Dauer der Unbedenklichkeitsbescheinigung; Kranig, in: Hauck/Noftz SGB VII, 3. Ergänzungslieferung 2022, § 150 Rn. 20d). Diese überzeugen den Senat aber nicht nachhaltig. Es ist Unbedenklichkeitsbescheinigungen immanent, dass sie stets nur darüber Auskunft geben, dass die betreffende Unternehmerin in der Vergangenheit ihren Beitragspflichten nachgekommen ist. Der Inhalt von Unbedenklichkeitsbescheinigungen ist damit stets auch auf einen Zeitraum vor ihrer Ausstellung gerichtet. Dies ist auch bei den hier von der Antragsgegnerin zugunsten der Nachunternehmerin ausgestellten Unbedenklichkeitsbescheinigungen der Fall. Wie die Antragsgegnerin selbst ausgeführt hat, bezog sich die Unbedenklichkeitsbescheinigung vom 17.03.2017 auf die mit dem „Lohnnachweis 2016“ gemeldeten und offensichtlich ordnungsgemäß verbeitragten Arbeitsentgelte. Die weitere Unbedenklichkeitsbescheinigung vom 27.09.2017 trug dem Umstand Rechnung, dass die Nachunternehmerin offensichtlich auch die im April 2017 festgesetzten Beitragsvorschüsse ordnungsgemäß entrichtet hatte. Vor diesem Hintergrund erklärten die Unbedenklichkeitsbescheinigungen nach objektivem Empfängerhorizont, dass die Nachunternehmerin ihre Beitragspflichten durchgehend ordnungsgemäß erfüllt hatte. Dass die Unbedenklichkeitsbescheinigungen augenscheinlich erst nach Auftragserteilung und auch nach Beginn der Arbeiten ausgestellt und vorgelegt wurden, erscheint deshalb nicht von entscheidender Bedeutung.
Da Unbedenklichkeitsbescheinigungen ihrer Natur nach stets auf der Grundlage der in der Vergangenheit erfolgten Pflichterfüllung ausgestellt werden, enthalten sie zudem darüber, dass eine Unternehmerin auch aktuell ihren rechtlichen Pflichten nachkommt, keine belastbare Aussage. Indem der Gesetzgeber aber eine Exkulpation des Hauptunternehmers bei Vorlage einer qualifizierten Unbedenklichkeitsbescheinigung angeordnet hat, hat er deutlich gemacht, dass er ungeachtet der begrenzten Aussagekraft von Unbedenklichkeitsbescheinigungen eine Haftung des Hauptunternehmers ausschließen möchte. Für die Annahme von Prüfpflichten des Hauptunternehmers bleibt daher kein Raum. Überdies zwingt auch ein erheblich über die bescheinigten Arbeitsentgelte hinausgehendes Auftragsvolumen nicht zu der Annahme, dass die Unbedenklichkeitsbescheinigungen inhaltlich falsch sind. Denkbar ist auch, dass der Nachunternehmer seinerseits Subunternehmer beauftragt oder Leiharbeitnehmer beschäftigt, sodass er für tätig werdende Arbeitnehmer nicht selbst Beiträge abzuführen hat. Für die von einem Verleiher geschuldeten Beiträge haftet der Generalunternehmer nach § 28e Abs. 3a Satz 1 2. Alt. SGB IV gesondert, sodass insoweit ein gesondertes Exkulpationserfordernis gilt, wohingegen für von dem Nachunternehmer eingeschaltete weitere Subunternehmen eine Haftung lediglich nach § 28e Abs. 3e SGB IV, für dessen Voraussetzungen hier nichts ersichtlich ist, in Betracht kommt. Zu berücksichtigen ist insoweit auch, dass die Antragsgegnerin den Umstand, dass die Nachunternehmerin für das Jahr 2017 erheblich höhere Arbeitsentgelte gemeldet hat, nicht zum Anlass genommen hat eine, etwaige Beitragsfestsetzung für das Jahr 2016 zu überprüfen.
Vor diesem Hintergrund hält der Senat einstweilen an seiner ständigen Rechtsprechung fest. Für die Entscheidung im Hauptsacheverfahren bleibt gegebenenfalls der Ausgang des beim BSG unter dem Aktenzeichen B 2 U 14/23 R anhängigen Revisionsverfahrens abzuwarten.
c) Unabhängig von den vorstehenden Erwägungen hat die Antragsgegnerin auch die Höhe des Haftungsbetrages zulasten der Antragstellerin offensichtlich rechtswidrig festgesetzt. Dies führt, da die Höhe des Haftungsbetrages, den die Antragstellerin im Falle fehlender Exkulpation zu zahlen hätte, im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht bestimmt werden kann, dazu, dass der Bescheid vom 01.07.2022 gegenwärtig insgesamt als rechtswidrig anzusehen ist.
aa) Allerdings durfte die Antragsgegnerin die der Beitragsberechnung nach § 153 Abs. 1 SGB VII zugrunde zu legenden Arbeitsentgelte, die die Nachunternehmerin ihren Beschäftigten für die auf der Baustelle in S., auf der die Nachunternehmerin im Auftrag der Antragstellerin Bauleistungen erbracht hat, geleisteten Arbeitsstunden schuldete, schätzen. Dies folgt aus § 165 Abs. 3 SGB VII, der, wie sich aus § 165 Abs. 4 S. 1 2. HS SGB VII ergibt, gerade auch zur Bestimmung des Umfangs der Beitragshaftung nach § 150 Abs. 3 2. Alt. SGB VII Anwendung findet (so auch schon der Beschl. des Senats v. 14.05.2020 – L 15 U 191/18 –, juris Rn. 38). Die Voraussetzungen von § 165 Abs. 3 SGB VII liegen vor, weil weder die Antragstellerin noch die Nachunternehmerin die nach § 165 Abs. 1 S. 1 SGB VII erforderlichen Angaben zu den gerade im Auftrag der Antragstellerin geleisteten Arbeitsstunden und den hierfür zu entrichtenden Arbeitsentgelten vollständig gemacht haben. Dass die Antragsgegnerin bei der Festsetzung der von der Nachunternehmerin für 2017 insgesamt zu zahlenden Beiträge keine Schätzung der zugrunde zu legenden Arbeitsentgelte vorgenommen, sondern auf der Basis des von der Nachunternehmerin gemäß § 165 Abs. 2 SGB VII eingereichten „Lohnnachweis 2017“ entschieden, diesen also augenscheinlich für zutreffend und vollständig erachtet hat (vgl. § 165 Abs. 3 SGB VII), steht der Schätzung des Haftungsbetrages zulasten der Antragstellerin nicht entgegen. Die Beitragshaftung nach § 150 Abs. 3 SGB VII i.V.m. § 28e Abs. 3a bis 3f SGB IV ist im Verhältnis zur Beitragsschuld der Nachunternehmerin beschränkt auf diejenigen Arbeitsentgelte, die die Nachunternehmerin ihren Arbeitnehmern wegen der im Auftrag des Generalunternehmers geleisteten Arbeitsstunden auf der konkreten Baustelle, auf der der Generalunternehmer das Bauwerk mit in Auftrag gegebenen Bauleistungen im Wert von mindestens 275.000 Euro errichtet, zu zahlen hat. Es handelt sich also um einen rein projekt- oder baustellenbezogene Haftung (Werner, in: jurisPK-SGB IV, § 28e Rn. 97). Eine Schätzung des Haftungsbetrages kommt dementsprechend immer dann in Betracht, wenn und soweit weder vom Generalunternehmer noch vom Nachunternehmer ausreichende baustellenspezifischen Lohnunterlagen vorgelegt werden.
bb) Die von der Antragsgegnerin vorgenommene Schätzung ist jedoch nicht schlüssig und deshalb unzureichend.
Die Schätzung im Sinne von § 165 Abs. 3 SGB VII stellt keine Ermessensentscheidung, sondern eine Tatsachenfeststellung durch Beweiswürdigung dar, die voll gerichtlich überprüfbar ist. Sie hat sich an den wahrscheinlichen tatsächlichen Verhältnissen auszurichten, d.h. sie muss realitätsgerecht sein. Ziel der Schätzung muss eine annähernde Übereinstimmung mit den tatsächlich gezahlten Arbeitsentgelten oder den sonstigen Bemessungsgrundlagen der Beiträge sein. Die Vorschrift dient nicht dazu, den säumigen Unternehmer zu bestrafen (vgl. zum Ganzen Kranig; in: Hauck/Noftz, SGB VII, 3. Ergänzungslieferung 2021, § 165 Rn. 8; Spellbrink, in: BeckOGK (vormals: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht), § 165 Rn. 9; Lindemann, in: jurisPK-SGB VII, § 165 Rn. 20).
Diesen Vorgaben genügt die Schätzung der Antragsgegnerin nicht.
Es ist zwar im Grundsatz nicht zu beanstanden, dass sich die Antragsgegnerin bei ihrer Schätzung auf den anerkannten allgemeinen Erfahrungssatz gestützt hat, dass im lohnintensiven Baugewerbe die für die Bestimmung des Arbeitsentgelts im Sinne von § 153 Abs. 1 SGB VII i.V.m. § 14 SGB IV maßgebliche Bruttolohnquote zwei Drittel des Nettoumsatzes beträgt (vgl. hierzu den Beschluss des Senats v. 14.05.2020 – L 15 U 191/18 –, juris Rn. 44 m.w.N.). Dennoch durfte es die Beklagte hier nicht dabei bewenden lassen, auf der Grundlage von zwei Dritteln der in der Schlussrechnung ermittelten Netto-Auftragssumme abzüglich des von der Antragstellerin der Nachunternehmerin in Rechnung gestellten Schadens Beiträge in Höhe von 44.217,09 Euro zu ermitteln und diese auf die aus ihrer Sicht für das Jahr 2017 noch offenen geschuldeten Beiträge der Nachunternehmerin i.H.v. 12.501,80 Euro zu kürzen.
Nicht entscheidend ist dabei, dass die Antragsgegnerin fehlerhaft die von der Nachunternehmerin auf den Beitragsvorschuss für das Jahr 2018 gezahlten Raten in Höhe von zweimal 321,73 Euro auf die Beitragsschuld der Nachunternehmerin für das Jahr 2017 (14.843,60 Euro + 208,64 Euro M.-Beitrag + 22,50 Euro Säumniszuschläge) angerechnet hat. In entsprechender Anwendung von § 42 Abs. 2 S. 1 SGB I wären diese Zahlungen vielmehr auf die Beitragsschuld für das Jahr 2018 anzurechnen gewesen (vergleiche hierzu das Urteil des Senats v. 10.09.2019 – L 15 U 339/16 –, juris Rn. 61 m.w.N.). Durch diesen Fehler ist die Antragstellerin aber nicht beschwert, da sich hierdurch die aus Sicht der Antragsgegnerin bestehende Haftungssumme reduziert hat. Ob die Antragsgegnerin die Haftungssumme des im Jahre 2018 als Auftraggeber der Nachunternehmerin tätig gewordenen Generalunternehmers ohne Anrechnung der Beitragsvorschusszahlungen für 2018 und damit schon deshalb zu hoch festgesetzt hat, ist hier nicht streitgegenständlich. Die Antragsgegnerin wird einen etwaigen Fehler von Amts wegen nach § 44 Abs. 1 SGB X zu korrigieren haben.
Hier ist demgegenüber wesentlich, dass die Antragsgegnerin außer Acht gelassen hat, dass sie in den Bescheiden vom 25.04.2018 die von der Nachunternehmerin für das Jahr 2017 zu zahlenden Beiträge nicht aufgrund einer Schätzung, sondern aufgrund des von der Nachunternehmerin gemäß § 165 Abs. 2 SGB VII eingereichten „Lohnnachweis 2017“ festgesetzt hat (anders beispielsweise in dem dem von der Antragsgegnerin zitierten Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 25.08.2020 – L 3 U 82/19 –, juris Rn. 2, Rn. 27, zugrunde liegenden Sachverhalt), die so festgesetzten Beiträge mit insgesamt 15.052,24 Euro (ohne Säumniszuschläge) für das gesamte Jahr 2017 erheblich geringer sind als die zulasten der Antragstellerin durch Schätzung nur für die von ihr in Auftrag gegebenen Bauleistungen ermittelten Beiträge (anders in dem dem Urteil des Senats vom 14.05.2020 – L 15 U 191/18 –, juris Rn. 4, 7, zugrunde liegenden Sachverhalt) und die Nachunternehmerin im Jahre 2017 neben der Antragstellerin noch für drei weitere Generalunternehmer Bauleistungen erbracht hat (anders in dem dem Urteil des Senats vom 14.05.2020 – L 15 U 191/18 –, juris Rn. 5, zugrunde liegenden Sachverhalt). Diese Umstände hätten weitere Ermittlungen der Antragsgegnerin nach sich ziehen und zu einer weitergehenden Modifikation der Schätzung führen müssen.
So hätte die Antragsgegnerin allein deshalb, weil die von ihr durch Schätzung ermittelten, baustellenbezogenen Beiträge, für die die Antragstellerin haften soll, fast dreimal so hoch ausfielen wie die von ihr durch Bescheide zulasten der Nachunternehmerin festgesetzten Beiträge, ihre Beitragsermittlung insgesamt hinterfragen müssen. Ausweislich ihres Vorbringens im vorliegenden Eilverfahren ist die Antragsgegnerin wohl davon ausgegangen, dass die Nachunternehmerin möglicherweise tatsächlich höhere Arbeitsentgelte im Jahre 2017 an ihre Arbeitnehmer bzw. an eine größere Anzahl von Arbeitnehmern gezahlt hat, als sie im „Lohnnachweis 2017“ angegeben hat. Zwingend ist dieser Schluss jedoch nicht, da, wie bereits ausgeführt, es durchaus möglich ist, dass die Nachunternehmerin für die Erfüllung des Auftrags der Antragstellerin weitere Subunternehmer beauftragt oder auf Leiharbeitnehmer zurückgegriffen hat. Die Antragsgegnerin verkennt, dass die Beitragsberechnung auf der Grundlage eingereichter Lohnnachweise nach der gesetzlichen Systematik von § 165 Abs. 2 und 3 SGB VII grundsätzlich vorrangig ist und schon deshalb eine Schätzung nicht per se als „richtiger“ angesehen werden kann als eine Beitragsberechnung auf der Grundlage von Lohnnachweisen. Dies gilt in besonderem Maße dann, wenn bei der Schätzung auf den oben genannten Erfahrungssatz zurückgegriffen wird. Dass die Lohnkosten im Baugewerbe in der Regel zwei Drittel der Nettoauftragssumme ausmachen, stellt eine grobe Richtschnur dar, auf die nicht vorschnell zurückgegriffen werden darf und die stets aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls auf ihre Richtigkeit zu überprüfen ist (vgl. auch BGH, Urt. v. 10.11.2009 - 1 StR 283/09 -, juris Rn. 27 ff.). Für die Feststellung, dass die Nachunternehmerin im „Lohnnachweis 2017“ falsche Angaben gemacht hat, wären deshalb noch weitere Ermittlungen notwendig gewesen. Darüber hinaus war die Antragsgegnerin davon, dass die Angaben der Nachunternehmerin im „Lohnnachweis 2017“ falsch waren, offensichtlich auch selbst nicht überzeugt. Andernfalls hätte es nahegelegen, die Beitragsbescheide vom 25.04.2018 nach § 45 SGB X zu ändern. Dies hat die Antragsgegnerin jedoch augenscheinlich weder getan noch vorbereitet.
Wenn es der zuständige Unfallversicherungsträger, wie hier die Antragsgegnerin, trotz offenkundiger Widersprüche zwischen einer durch Schätzung auf der Grundlage von zwei Dritteln der Netto-Auftragssumme ermittelten baustellenbezogenen Haftungssumme und den durch Bescheid gegenüber der Nachunternehmerin festgesetzten Beiträgen bei dem auf der Grundlage von eingereichten Lohnnachweisen gemäß § 165 Abs. 2 SGB VII erlassenen Beitragsbescheid gegenüber der Nachunternehmerin belässt, muss er sich hieran im Rahmen der Schätzung der Haftungssumme nach § 150 Abs. 3 i.V.m. § 165 Abs. 3 SGB VII festhalten lassen. Dies folgt aus der gesetzlichen Wertung des § 28e Abs. 3a Satz 1 SGB IV, wonach ein Generalunternehmer des Baugewerbes für die Erfüllung der Zahlungspflicht des Nachunternehmers „wie ein selbstschuldnerischer Bürge“ haftet. Die Haftung eines Bürgen ist akzessorisch, d. h. die Forderung gegen den Bürgen teilt die Rechtsnatur und das Schicksal der Hauptforderung (vgl. § 767 BGB). Dies hat nicht nur zur Folge, dass, wovon auch die Antragsgegnerin ausgeht, die bescheidmäßig zulasten des Nachunternehmers festgesetzte Beitragsschuld die Obergrenze für die Generalunternehmerhaftung bildet. Vielmehr führt der Bestand eines auf den Angaben nach § 165 Abs. 2 SGB VII beruhenden Beitragsbescheids gegen den Nachunternehmer auch dazu, dass der Unfallversicherungsträger im Rahmen der Schätzung einer Haftungssumme nach § 165 Abs. 3 SGB VII zulasten eines Generalunternehmers nicht darauf rekurrieren darf, dass die Beitragsschuld gegen den Nachunternehmer möglicherweise zu gering festgesetzt worden ist. Im Rahmen der akzessorischen Beitragshaftung nach § 150 Abs. 3 SGB VII i.V.m. § 28e Abs. 3a bis 3f SGB IV ist die bescheidmäßig gegenüber dem Nachunternehmer festgesetzte Beitragsforderung vielmehr als zutreffend anzusehen.
Daran anknüpfend ist weiterhin zu berücksichtigen, dass die projekt- bzw. baustellenbezogene Haftung nach § 150 Abs. 3 SGB VII i.V.m. § 28e Abs. 3a bis 3f SGB IV vom Prinzip her ihrer Natur nach lediglich einen Teil der gesamten Beitragsschulden des Nachunternehmers abdecken kann. Dies folgt auch aus § 28e Abs. 3d SGB IV, wonach Auftraggeber des Nachunternehmers, die lediglich Bauleistungen im Gesamtwert von weniger als 275.000 Euro an Nachunternehmer vergeben haben, als Haftungsschuldner ausscheiden. Die Haftung eines Generalunternehmers für die gesamten Beitragsschulden eines Nachunternehmers in einem Kalenderjahr kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn dieser der einzige Auftraggeber des Nachunternehmers in dem betreffenden Kalenderjahr war. Wird der Nachunternehmer aber, wie hier, im Laufe des betreffenden Beitragsjahres von mehreren Generalunternehmen mit der Erbringung von Bauleistungen beauftragt und damit auch auf mehreren Baustellen und/oder bei mehreren Projekten tätig, kann jeder einzelne Generalunternehmer logischerweise nur für einen Teil der gesamten Beitragsschuld des Nachunternehmers für das betreffende Kalenderjahr haften, nämlich nur für den Teil der Beiträge, die auf den konkret von ihm an den Nachunternehmer gerichteten Auftrag entfallen.
Vor diesem Hintergrund hätte die Antragsgegnerin bei der Schätzung der Haftungssumme zulasten der Antragstellerin zwingend berücksichtigen müssen, dass die Nachunternehmerin im Jahr 2017 noch von drei weiteren Generalunternehmen mit der Erbringung von Bauleistungen beauftragt worden ist. Allein dieser Umstand schließt es aus, die Antragstellerin im Ergebnis für die gesamten von der Nachunternehmerin für 2017 geschuldeten Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung haften zu lassen. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist es insoweit irrelevant, ob die anderen Auftraggeber der Nachunternehmerin unter Berücksichtigung von § 28e Abs. 3d SGB IV selbst haften oder ob ihre Haftung wirtschaftlich realisierbar ist. Wie bereits ausgeführt, handelt es sich bei der Generalunternehmerhaftung vom Grundsatz her immer um eine partielle Haftung bezogen auf die gesamten Beitragsschuld. Für die auf die Aufträge anderer Generalunternehmer entfallenden Beiträge haftet die Antragstellerin nach dem Gesetz nicht.
Die Antragsgegnerin hätte deshalb für eine schlüssige, realitätsgerechte Schätzung zum Umfang der Aufträge der drei anderen Generalunternehmen in weitergehende Ermittlungen einsteigen müssen. Sie hätte dann die von der Nachunternehmerin im „Lohnnachweis 2017“ gemeldeten beitragspflichtigen Arbeitsentgelte nachvollziehbar auf die insgesamt vier Aufträge der einzelnen Generalunternehmer einschließlich der Antragstellerin aufteilen müssen, um so den auf den jeweiligen Generalunternehmer entfallenden Haftungsanteil zu ermitteln. Die von ihr stattdessen vorgenommene implizite Unterstellung, der „Lohnnachweis 2017“ der Nachunternehmerin sei inhaltlich unzutreffend und in Wirklichkeit seien alleine auf den Auftrag der Antragstellerin beitragspflichtige Arbeitsentgelte i.H.v. 2/3 der Netto-Auftragssumme, d. h. 657.398,73 Euro, entfallen und ihr ausdrücklich erklärtes Ziel, für die bescheidmäßig festgesetzte Beitragsschuld der Nachunternehmerin insgesamt allein die Antragstellerin in Haftung zu nehmen, widersprechen demgegenüber, wie bereits dargelegt, der Systematik des Gesetzes.
Die dementsprechend rechtswidrige Schätzung der Haftungssumme zulasten der Antragstellerin führt dazu, dass im vorliegenden Eilverfahren der Beitragshaftungsbescheid vom 01.07.2022 als insgesamt offensichtlich rechtswidrig anzusehen ist. Insoweit kann dahinstehen, ob das Gericht im Hauptsacheverfahren verpflichtet wäre, zur Herstellung einer schlüssigen Schätzung im Sinne von § 165 Abs. 3 SGB VII den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln oder ob § 165 Abs. 3 SGB VII allein dem Unfallversicherungsträger die Befugnis zur Schätzung einräumt, mit der Folge, dass die Antragsgegnerin selbst gehalten wäre, eine geänderte Schätzung vorzunehmen. Ebenso kann offenbleiben, ob die Grenzen des Nachschiebens von Gründen (siehe hierzu vor allem BSG, Urt. v. 25.06.2015 – B 14 AS 30/14 R –, juris Rn. 23; Urt. v. 30.01.2019 – B 14 AS 11/18 R –, juris Rn. 34) weitergehenden Ermittlungen des Gerichts oder Ergänzungen durch die Antragsgegnerin entgegenstehen würden. Im Rahmen der im vorliegenden Eilverfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung sind jedenfalls keine weitergehenden Ermittlungen notwendig. Die Antragsgegnerin selbst verfügt augenscheinlich nicht über Erkenntnisse zu den nach den vorstehenden Ausführungen relevanten Umständen. Trotz ausdrücklicher Nachfrage des Senats hat sie zu etwaigen Lohnsummen, die sich aus den Aufträgen anderer Auftraggeber für 2017 gegebenenfalls durch Schätzung ergeben, nichts vorgetragen. Dem Senat fehlt damit jeglicher Ansatzpunkt zur Bestimmung des Umfangs der Haftung der Antragstellerin bei unterstellter fehlender Exkulpation. Er kann deshalb nur feststellen, dass die Antragstellerin in jedem Fall nicht das zahlen muss, was die Antragsgegnerin von ihr im Bescheid vom 01.07.2022 verlangt. Die fehlende Feststellbarkeit einer Haftungssumme zu Lasten der Antragstellerin geht zu Lasten der Antragsgegnerin, die die materielle Beweislast (Feststellungslast) für die Voraussetzungen und den Umfang der Beitragshaftung nach § 150 Abs. 3 SGB VII i.V.m. § 28e Abs. 3a bis 3f SGB IV zu tragen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 197a SGG i.V.m. §§ 52, 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 4 Gerichtskostengesetz und berücksichtigt, dass in Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes, die Beitragsangelegenheiten betreffen, regelmäßig nur ein Viertel des Wertes der Hauptsache einschließlich etwaiger Säumniszuschläge als Streitwert anzusetzen ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 20.03.2023 – B 8 BA 98/22 B ER -, juris Rn. 13).
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).