L 11 VH 39/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 161 VH 144/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 VH 39/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Da der klare und unmissverständliche Wortlaut einer Norm eine Auslegungsgrenze bildet (vgl. BSG, Urteil vom 3. November 2021 - B 11 AL 2/21 R – juris), verbietet        sich eine Auslegung, die bezogen auf § 30 Abs. 7 BVG id bis zum 19.12.2019 geltenden Fassung statt auf die Vollendung des 65. Lebensjahres auf die Regelaltersgrenzen des SGB VI Bezug nimmt.

2. Es ist nicht die Aufgabe der Gerichte, als eine Art „Ersatzgesetzgeber“ in Normen Gesetzesänderungen „hinzulesen“, die tatsächlich unterlassen worden sind.

3. Voraussetzung für eine immanente Rechtsfortbildung ist stets eine Regelungslücke, also eine „planwidrige Unvollständigkeit“ des Gesetzes, die hier aber nicht vorliegt. Denn § 30 Abs. 7 BVG id bis zum 19.12.2019 geltenden Fassung regelt das, was er soll, eine Absenkung des BSA mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Dass diese Regelung im gesetzgeberischen Gesamtzusammenhang möglicherweise nicht (mehr) stimmig ist, begründet nicht das Vorliegen einer Lücke.

4. Auch § 7 BSchAV steht der Kürzung des BSA mit Vollendung des 65. Lebensjahres nicht entgegen.

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. September 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für den gesamten Rechtsstreit nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Die Klägerin wendet sich gegen die Kürzung des ihr gewährten Berufsschadensausgleichs (BSA) zum 1. April 2017.

 

Der Beklagte hatte der im März 1952 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 17. September 2004 Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) unter anderem einen BSA bewilligt. Mit Bescheid vom 25. Juli 2016 stellte der Beklagte den BSA mit Wirkung ab dem 1. Juli 2016 in Höhe von monatlich 1.068,- Euro fest. Grundlage hierfür war ein Vergleichseinkommen in Höhe von brutto 3521,- Euro und netto 2.021,- Euro. Der BSA wurde nach der Netto-Methode berechnet (§ 30 Abs. 3 letzter Teilsatz in Verbindung mit § 30 Abs. 6 BVG).

 

Mit Bescheid vom 27. Februar 2017 stellte der Beklagte den BSA mit Wirkung ab dem 1. April 2017 nur noch in Höhe von monatlich 808,- Euro fest. Das Netto-Vergleichseinkommen bezifferte er bei einem unveränderten Brutto-Vergleichseinkommen nunmehr nur noch mit 1.761,- Euro. Diese Neufeststellung stützte der Beklagte auf die Vollendung des 65. Lebensjahres der Klägerin. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

 

Am 5. Juli 2017 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Überprüfung des Bescheides vom 27. Februar 2017 nach § 44 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Der Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 27. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2017 ab.

 

Hiergegen hat die Klägerin am 30. August 2017 Klage erhoben. Sie meint, die Versorgungsbezüge seien erst zum 1. Oktober 2017 herabzusetzen. Denn es sei bei ihr nicht auf die Vollendung des 65. Lebensjahres abzustellen, sondern auf die Regelaltersgrenze, die sie vorliegend erst im September 2007 erreicht habe.

 

Mit Urteil vom 29. September 2020 hat das Sozialgericht den Bescheid des Beklagten vom 27. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2017 sowie den Bescheid des Beklagten vom 27. Februar 2017 aufgehoben, soweit schon ab dem 1. April 2017 bis zum 30. September 2017 eine Kürzung des BSA vorgenommen worden ist. Bei Erlass des Bescheides vom 27. Februar 2017 habe der Beklagte das Recht zumindest teilweise unrichtig angewandt. Grundlage für den Bescheid sei § 48 SGB X. Nach § 60 Abs. 4 Satz 1 BVG trete eine Minderung oder Entziehung von Leistungen mit Ablauf des Monats ein, in dem die Voraussetzungen dafür weggefallen seien. Dies sei hier mit der Vollendung des 65. Lebensjahres durch die Klägerin nicht der Fall gewesen. Aus § 7 der Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) ergebe sich, dass eine Kürzung des BSA mit Erreichen der Regelaltersgrenze nach § 235 Abs. 2 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) eintrete. Maßgeblich sei demnach nicht das Erreichen des 65. Lebensjahres. Der Gesetzgeber habe die BSchAV schon zum 1. Januar 2008 geändert und auf die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze reagiert. Dass in § 30 Abs. 7 BVG in der vorliegend maßgeblichen Fassung noch das 65. Lebensjahr erwähnt sei, ändere daran nichts. Dafür spreche auch, dass § 30 Abs. 7 BVG mittlerweile geändert worden sei und statt auf das 65. Lebensjahr auf die Regelaltersgrenze abgestellt werde.

 

Gegen das ihm am 15. Oktober 2020 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 19. Oktober 2020 Berufung eingelegt. § 30 Abs. 7 Satz 1 BVG in der zum Zeitpunkt der Entscheidung vom 27. Februar 2017 maßgeblichen Fassung habe eine ungekürzte Gewährung des BSA nur bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres zugelassen. Der Wortlaut sei eindeutig. Soweit das Sozialgericht auf § 7 BSchAV abgestellt habe, sei dieser gegenüber dem Gesetz nachrangig. Die von dem Sozialgericht erwähnte Änderung des § 30 Abs. 7 BVG sei hier unmaßgeblich, da die Änderung nicht rückwirkend erfolgt sei.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. September 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie meint, bei der Gesetzesänderung des § 30 Abs. 7 BVG handele es sich lediglich um eine Klarstellung des Gesetzgebers. Eine – etwa vom 13. Senat des Landessozialgerichts in seinem Urteil vom 24. August 2023 (L 13 VH 43/19) – vorgenommene reine Wortlautauslegung des § 30 Abs. 7 BVG in seiner bis zum 19. Dezember 2019 geltenden Fassung (aF) scheide vorliegend aus, weil der Gesetzgeber die Anhebung der Altersgrenzen in der Gesetzlichen Rentenversicherung auf das BVG habe übertragen wollen. Außerdem sei § 30 Abs. 7 BVG aF so auszulegen, dass ab dem 1. Januar 2008 die Regelaltersgrenze gemeint sei, was sich auch aus Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ergebe. Jedenfalls wäre eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung erforderlich gewesen, um dem Willen des Gesetzgebers Geltung zu verschaffen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten nebst sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheiden kann, ist auch begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist unzutreffend. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 27. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Zu Recht hat es der Beklagte abgelehnt, den Bescheid vom 27. Februar 2017 im Überprüfungsverfahren zurückzunehmen, soweit er mit ihm den BSA mit Wirkung ab dem 1. April 2017 gekürzt hat.

 

Grundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist danach der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

 

Ob der zur Überprüfung gestellte Bescheid vom 27. Februar 2017 formell rechtmäßig ist, woran Bedenken dann bestünden, wenn man annähme, die Klägerin hätte vor seinem Erlass gemäß § 24 SGB X angehört werden müssen, kann dahinstehen, weil ein unterstellter Anhörungsmangel jedenfalls nicht zur Rücknahme des Bescheides vom 27. Februar 2017 führen würde (vgl. nur Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 3. Mai 2018 - B 11 AL 3/17 R – juris).

 

Der Bescheid vom 27. Februar 2017 ist materiell rechtmäßig. Er hat seine Grundlage in § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist danach der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine Minderung oder Entziehung der Leistungen tritt gemäß § 60 Abs. 4 Satz 1 BVG mit Ablauf des Monats ein, in dem die Voraussetzungen für ihre Gewährung weggefallen sind. Eine die Minderung des BSA rechtfertigende wesentliche Änderung ist hier in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, indem die Klägerin im März 2017 das 65. Lebensjahr vollendet hat, was die teilweise Aufhebung der Gewährung des BSA für die Zukunft – hier ab dem 1. April 2017 – rechtfertigte.

 

Ausgangspunkt ist § 30 Abs. 6 Satz 1 BVG. Danach ist der BSA nach Absatz 3 letzter Satzteil – also der so genannte Netto-BSA - der Nettobetrag des Vergleichseinkommens (Absatz 7) abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit (Absatz 8), der Ausgleichsrente (§§ 32, 33) und des Ehegattenzuschlages (§ 33a). Der Nettobetrag des Vergleichseinkommens wird gemäß § 30 Abs. 7 Satz 1 BVG aF bei Beschädigten, die nach dem 30. Juni 1927 geboren sind, für die Zeit bis zum Ablauf des Monats, in dem sie auch ohne die Schädigung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wären, längstens jedoch bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte das 65. Lebensjahr vollendet, pauschal ermittelt, indem das Vergleichseinkommen

1. bei verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 716 Euro übersteigende Teil um 36 vom Hundert und der 1.790 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert,

2. bei nicht verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 460 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert und der 1.380 Euro übersteigende Teil um 49 vom Hundert gemindert wird. Gemäß § 30 Abs. 7 Satz 2 BVG gelten im Übrigen 50 vom Hundert des Vergleichseinkommens als dessen Nettobetrag. § 30 Abs. 7 BVG unterscheidet demnach die Ermittlung des Netto-BSA zwischen Rentnern (Satz 2) und Nicht-Rentnern (Satz 1). Der Absenkung des Vergleichseinkommens liegt die Überlegung zugrunde, dass der Beschädigte auch als Gesunder das volle Vergleichseinkommen aus Erwerbstätigkeit nur bis zu seinem Ausscheiden aus dem Berufsleben erzielt und anschließend einen „Einkommensknick“ durch niedrigeres Folgeeinkommen hätte hinnehmen müssen (vgl. Dau   in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 30 BVG, Rn. 41).

 

Der Wortlaut des § 30 Abs. 7 BVG aF regelt, dass die Berechnung nach Satz 1 „längstens […] bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte das 65. Lebensjahr vollendet“, vorgenommen wird. Nach Vollendung des 65. Lebensjahres gilt Satz 2.

 

Der Wortlaut von § 30 Abs. 7 aF BVG ist eindeutig. Zwar mag der skizzierte Gesetzeszweck es nahelegen, dass eine Kürzung des BSA nicht schon mit der Vollendung des 65. Lebensjahres, sondern erst mit Erreichen der späteren Regelaltersgrenze nach dem SGB VI – hier gemäß § 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI mit 65 Jahren und 6 Monaten – eintritt. Diese gesetzgeberische Vorstellung hat im Wortlaut der Norm aber keinen Niederschlag gefunden. Da der klare und unmissverständliche Wortlaut einer Norm eine Auslegungsgrenze bildet (vgl. BSG, Urteil vom 3. November 2021 - B 11 AL 2/21 R – juris), verbietet sich vorliegend eine Auslegung, die statt auf die Vollendung des 65. Lebensjahres auf die Regelaltersgrenzen des SGB VI Bezug nimmt. Soweit die Klägerin Urteile des BAG vom 15. Mai 2012 (3 AZR 11/10) und vom 9. Dezember 2015 (7 AZR 68/14) anführt, in denen das BAG Regelungen, die auf die Vollendung des 65. Lebensjahres abstellen, so ausgelegt hat, dass jeweils die Regelaltersgrenze gemeint sei, übersieht sie, dass es dort um die Auslegung von Betriebsvereinbarungen und eines Arbeitsvertrages, nicht von Gesetzen gegangen ist. Fehl geht die Klägerin auch, soweit sie meint, es liege hier ein Redaktionsversehen vor, sollte der Gesetzgeber irrtümlich gemeint haben, dass § 30 Abs. 7 BVG aF nicht geändert werden müsse, oder er dies schlicht übersehen haben sollte. Denn ein Redaktionsversehen würde eine vom gesetzgeberischen Willen abweichende Gesetzesformulierung voraussetzen. Es liegt nur dann vor, wenn die Gesetzesredaktoren lediglich versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt, im Text belassen oder gestrichen haben, als sie beabsichtigten (Becker, SGb 2009, 338, 340). Darum geht es hier aber nicht, weil der Gesetzgeber bei Fassung der Norm die auf die Vollendung des 65. Lebensjahres abstellende Formulierung gerade gewollt hat. Das Versehen würde sich also nicht auf ein Tun, sondern auf ein Unterlassen – hier einer Gesetzesänderung - beziehen. In einem solchen Fall ist aber kein Raum für eine Rechtsfortbildung, weil die Gerichte nicht bloß eine Norm dem gesetzgeberischen Willen entsprechend auslegen, sondern anstelle des Gesetzgebers tätig werden, gleichsam dem Gesetzgeber also die Gesetzesänderung abnehmen würden. Es ist aber nicht die Aufgabe der Gerichte, als eine Art „Ersatzgesetzgeber“ in Normen Gesetzesänderungen „hinzulesen“, die tatsächlich unterlassen worden sind. Für die Richtigkeit der hier vorgenommenen Auslegung sprechen im Übrigen auch die gesetzgeberischen Erwägungen im Rahmen der Änderung des § 30 Abs. 7 Satz 1 BVG. Dieser ist durch Artikel 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2652) mit Wirkung zum 20. Dezember 2019 dahingehend geändert worden, dass nicht mehr auf die Vollendung des 65. Lebensjahres, sondern auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abgestellt wird. Anders als die Klägerin meint, ist der Gesetzgeber insoweit nicht von einer Klarstellung, sondern einer echten Gesetzesänderung ausgegangen (BT-Drs. 19/14870, S. 36).

 

Die von der Klägerin erwogene immanente Rechtsfortbildung kommt hier nicht in Betracht. Zwar hat das BSG in einem anderen Zusammenhang eine Lücke im Wege der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung durch eine entsprechende Anwendung einer Norm geschlossen und dafür vorausgesetzt, dass die für den normierten Tatbestand im Gesetz gegebene Regel auf den vom Gesetz nicht geregelten Tatbestand übertragen werden kann, weil beide Tatbestände infolge ihrer Ähnlichkeit in den für die gesetzliche Bewertung maßgeblichen Hinsichten gleich zu bewerten sind (Urteil vom 7. Oktober 2009 - B 11 AL 31/08 R – juris). Voraussetzung ist stets eine Regelungslücke, also eine „planwidrige Unvollständigkeit“ des Gesetzes (Becker, SGb 2009, 338, 341), die hier aber nicht vorliegt. Denn § 30 Abs. 7 BVG aF regelt das, was er soll, eine Absenkung des BSA mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Dass diese Regelung im gesetzgeberischen Gesamtzusammenhang möglicherweise nicht (mehr) stimmig ist, begründet nicht das Vorliegen einer Lücke. Generell ist das, was die Klägerin begehrt, nicht eigentlich eine Analogie. Denn eine Analogie ist die Übertragung der für einen Tatbestand im Gesetz gegebenen Regel auf einen vom Gesetz nicht geregelten, ihm ähnlichen Tatbestand (Becker, SGb 2009, 338, 341). Die im Gesetz gegebene Regel ist vorliegend indes die Absenkung des BSA mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Diese soll aber nach der Vorstellung der Klägerin nicht etwa auf einen vom Gesetz nicht geregelten, ihm ähnlichen Tatbestand übertragen werden, sondern gestrichen und durch eine andere Regelung, die auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abstellt, ersetzt werden.

 

§ 7 BSchAV steht der Kürzung des BSA mit Vollendung des 65. Lebensjahres nicht entgegen. Allerdings regelt § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSchAV, dass als Vergleichseinkommen im Sinne des § 30 Abs. 5 BVG sowie als Durchschnittseinkommen im Sinne des § 30 Abs. 11 sowie des § 64c Abs. 2 Satz 2 und 3 BVG 75 vom Hundert des nach § 30 Abs. 5 Satz 6 BVG bekannt gemachten oder des nach § 87 Abs. 1 BVG festgestellten und angepassten Betrags gelten, mit Ablauf des Monats, in dem die Beschädigten die Regelaltersgrenze nach dem SGB VI erreicht haben. § 7 Abs. 2 BSchAV regelt für den Netto-BSA, dass bei der Feststellung des BSA nach § 30 Abs. 6 BVG von dem sich aus Absatz 1 ergebenden Zeitpunkt an der Betrag nach § 30 Abs. 7 Satz 2 BVG das Vergleichs- oder das Durchschnittseinkommen ist. § 7 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSchAV würde § 30 Abs. 7 Satz 2 BVG allerdings vorliegend nur dann widersprechen, wenn er auch anwendbar wäre. Dies ist aber, ungeachtet der Frage, ob die Regelung der BSchAV im Hinblick auf § 30 Abs. 14 BVG überhaupt ermächtigungskonform ist, nicht der Fall. Denn wie die Klägerin in ihrer Klageschrift vom 30. August 2017 richtig ausgeführt hat, ist der Verordnungsgeber davon ausgegangen, § 7 Abs. 2 BSchAV gelte nur für Personen, die vor dem 30. Juni 1927 geboren wurden (BR-Drs. 261/11, S. 12). Dass eine solche Vorstellung sinnlos sein dürfte, hat die Klägerin ebenfalls zutreffend ausgeführt. Im vorliegenden Zusammenhang ist aber nur maßgeblich, dass in der Vorstellung des Verordnungsgebers kein Widerspruch zwischen BSchAV und gesetzlicher Regelung bestanden hat und auch nicht bestehen sollte. Bestünde ein solcher Widerspruch, müsste er nach der allgemeinen Normenhierarchie zu Lasten der BSchAV und also zu Gunsten der gesetzlichen Regelung aufgelöst werden.

 

Artikel 3 des Grundgesetzes (GG) gebietet hier keine Absenkung des BSA erst mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze. Artikel 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Hieraus folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung untersagt. Ebenso wenig ist er gehalten, Ungleiches unter allen Umständen ungleich zu behandeln. Ihm kommt im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit für die Abgrenzung der begünstigten Personenkreise ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Führt eine Regelung zu einer Ungleichheit, bedarf dies jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel der Regelung und dem Ausmaß der damit verbundenen Ungleichheit angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 28. April 2022 - 1 BvL 12/20 - juris). Gemessen an diesen Vorgaben begegnet die hier gefundene Auslegung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Berechnung des Brutto-BSA unterscheidet sich von der des Netto-BSA grundlegend, so dass hier schon keine vergleichbaren Personengruppen vorliegen. Zudem ist der Klägerin der Netto-BSA nur deshalb gewährt worden, weil er gegenüber dem Brutto-BSA für die Klägerin günstiger gewesen ist (vgl. § 30 Abs. 3 letzter Teilsatz BVG). Der langjährige höhere Bezug von BSA würde eine gegenüber dem Brutto-BSA möglicherweise geringfügige frühere Kürzung aufwiegen. Weitere Personengruppen, denen gegenüber die Klägerin ungleich behandelt wird, sind nicht erkennbar.

 

Auch sonst gebietet die Verfassung keine Kürzung des Vergleichseinkommens und damit auch des BSA erst mit Erreichen der Regelaltersgrenze und nicht schon mit Erreichen des 65. Lebensjahres. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass die Heranziehung von 50 Prozent des Brutto-Vergleichseinkommens als Netto-Vergleichseinkommen einer schwer erreichbaren Versicherungszeit von 47 Jahren in der gesetzlichen Rentenversicherung entspricht und die Betroffenen damit ohnehin ausgesprochen günstig gestellt sind (vgl. Dau in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 30 BVG, Rn. 43).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache scheidet hier auch deshalb aus, weil das Problem eines möglicherweise unterschiedlichen Regelungsgehaltes von § 30 Abs. 7 BVG einerseits und § 7 BSchAV andererseits spätestens seit der genannten Gesetzesänderung zum 20. Dezember 2019 nicht mehr besteht.

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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