Lebt eine unverheiratete EU-Bürgerin mit ihrem drittstaatsangehörigen, über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG verfügenden Partner und dem gemeinsamen, wenige Monate alten Kind zusammen, verfügt diese mit einer für die Bejahung eines Anordnungsanspruchs hinreichenden Wahrscheinlichkeit über ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen, wenn eine gemeinsame Sorgeerklärung gegenüber dem Jugendamt abgegeben wurde, eine echte Lebens- und Erziehungsgemeinschaft vorliegt und eine Ausreise der gesamten Familie nicht möglich ist. Ihr sind unter diesen Voraussetzungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 25. Juli 2023 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch für die Zeit vom 12. Juni 2023 bis zum 30. November 2023 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskosten-hilfe bewilligt und Rechtsanwalt T W, K-E-Straße, B, beigeordnet.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 12. Juni 2023 bis zum 30. November 2023.
Die 1995 geborene Antragstellerin ist rumänische Staatsangehörige. Sie bewohnt seit dem Jahr 2022 gemeinsam mit ihrem 1994 geborenen Partner, der syrischer Staatsangehöriger ist und über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verfügt, eine Wohnung in der B Straße in B.
Am 21. März 2023 erklärte die Antragstellerin gegenüber dem Jugendamt, dass sie schwanger sei. Sie und ihr Partner gaben eine Erklärung der gemeinsamen Sorge nach § 1626a BGB gegenüber dem Jugendamt ab.
Am 19. April 2023 stellten die Antragstellerin und ihr Partner einen Antrag auf Bewilligung von Grundsicherungsleistungen beim Antragsgegner. Mit Bescheid vom 4. Mai 2023 bewilligte der Antragsgegner dem Partner der Antragstellerin Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum Juni 2023 bis Mai 2024. Hinsichtlich der Antragstellerin lehnte der Antragsgegner die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen mit der Begründung ab, dass sie sich lediglich zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhalte.
Am . Mai 2023 wurde das gemeinsame Kind der Antragstellerin und ihres Partners geboren.
Am 12. Juni 2023 beantragten die Antragstellerin und das gemeinsame Kind beim Sozialgericht, den Antragsgegner vorläufig zu verpflichten, ihnen Grundsicherungsleistungen ab Antragseingang bis zum 30. November 2023 zu gewähren. Das Sozialgericht lehnte diesen Antrag mit Beschluss vom 25. Juli 2023 mit der Begründung ab, dass weder die Antragstellerin noch das gemeinsame Kind über ein anspruchsbegründendes Aufenthaltsrecht verfügten. Sie seien deshalb von Leistungen ausgeschlossen.
Mit Änderungsbescheid ebenfalls vom 25. Juli 2023 bewilligte der Antragsgegner dem Partner der Antragstellerin und dem gemeinsamen Kind Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum Juni 2023 bis Mai 2024. Der Antragstellerin wurden weiterhin keine Leistungen bewilligt.
Gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 25. Juli 2023 hat die Antragstellerin am 1. August 2023 Beschwerde eingelegt. Sie hat mit Schriftsatz vom 29. August 2023 klargestellt, dass nur sie Beschwerdeführerin ist.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2023 hat der Antragsgegner den Widerspruch gegen den Bescheid vom 4. Mai 2023 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 25. Juli 2023 zurückgewiesen. Dagegen wurde nach den Angaben der anwaltlich vertretenen Antragstellerin fristgerecht Klage erhoben.
II.
Die fristgerecht erhobene und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Grundsicherungsleistungen an die Antragstellerin abgelehnt.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Antragsteller müssen glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO), dass ihnen ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für sie mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund). Die Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs dürfen, gemessen an der drohenden Rechtsverletzung, nicht überspannt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2020, 1 BvR 932/20, zitiert nach juris, Rn. 10, m.w.N.).
Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Beschwerde Erfolg.
Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II glaubhaft gemacht. Sie erfüllt die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Die 28jährige Antragstellerin hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht (Nr. 1) sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Berlin und damit in der Bundesrepublik Deutschland (Nr. 4). Es liegen keine Anhaltspunkte vor, die gegen ihre Erwerbsfähigkeit i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II sprechen. Sie ist auch hilfebedürftig i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 SGB II, weil sie weder über Einkommen noch über einzusetzendes Vermögen verfügt. Ihr Partner verfügt ebenfalls nicht über bedarfsdeckendes Einkommen oder Vermögen. Ihm wurden deshalb vom Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II gewährt.
Die Antragstellerin ist nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Nach Auffassung des Senats verfügt die Antragstellerin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit über ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen gemäß §§ 11 Abs. 14 Freizügigkeitsgesetz/EU i.V.m. §§ 27 ff. und § 25 Abs. 4 AufenthG i.V.m. Art. 6 Grundgesetz (GG) und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).
Bei der Prüfung des Aufenthaltsrechts sorgeberechtigter Angehöriger eines minderjährigen Kindes sind Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu berücksichtigen, wonach jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2020, 1 BvR 932/20, zitiert nach juris, Rn. 15). Dies gilt besonders, wenn die Gefahr besteht, dass ein Kind in dem ersten Jahr nach seiner Geburt von der Erziehungsleistung eines seiner Elternteile ausgeschlossen wird (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013, B 4 AS 54/12 R, zitiert nach juris, Rn. 36). Die Grundsatznorm, wonach der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die vollziehende Gewalt dazu, die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zur Geltung zu bringen. Es müssen die Konsequenzen der Versagung eines Aufenthaltsrechts mitbedacht und im Lichte der Grundrechte auf ihre Zumutbarkeit geprüft werden. Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfalten Art. 6 GG und Art. 8 EMRK dabei nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist (vgl. für Fall einer unverheirateten EU-Bürgerin, die mit einem geduldeten tunesischen Staatsangehörigen und dem gemeinsamen Kind zusammenlebt, Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 6. Dezember 2022, L 4 AS 939/20, zitiert nach juris, Rn. 122 ff.).
Ausgehend davon ist ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin aus familiären Gründen im streitigen Zeitraum 12. Juni 2023 bis zum 30. November 2023 hinreichend wahrscheinlich.
Das gemeinsame Kind ist erst wenige Monate alt. Sein Vater verfügt über eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 AufenthG. Er und die Antragstellerin haben bereits am 21. März 2023 eine Erklärung über die gemeinsame Sorge nach § 1626a BGB gegenüber dem Jugendamt abgegeben. Auch hat die Antragstellerin eine echte Lebens- und Erziehungsgemeinschaft glaubhaft gemacht. Sie hat im Beschwerdeverfahren eine eidesstattliche Versicherung mit dem Inhalt eingereicht, dass sie und der Vater sich gemeinsam um das Kind kümmern. Der Vater kaufe ein, gehe mit ihm spazieren, füttere es und wechsele die Windeln. Die Antragstellerin stille ihr Kind und es schlafe mit ihr und dem Vater im gemeinsamen Bett. Sie und der Vater seien seit über zwei Jahren ein festes Paar.
Es erscheint vor diesem Hintergrund unzumutbar, der Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen zu versagen. Dies hätte zur Folge, dass die Antragstellerin entweder unterhalb des Existenzminimums in Deutschland leben oder allein oder gemeinsam mit dem Kind Deutschland verlassen müsste, wodurch der gelebte Familienbund zerrissen würde. Dass die gesamte Familie die Möglichkeit hat, sich in einem anderen Land niederzulassen, ist nicht ersichtlich. Insbesondere eine Ausreise nach Syrien dürfte gegenwärtig nicht in Betracht kommen.
Dass der Antragstellerin bisher kein Aufenthaltstitel erteilt worden ist, führt nicht zu einem Leistungsausschluss. Es genügt, dass die – im Eilverfahren glaubhaft zu machenden – materiellen Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts nach dem AufenthG vorliegen, um nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen zu sein (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16. Mai 2023, L 1 AS 35/21, zitiert nach juris, Rn. 46; LSG Sachsen, Urteil vom 6. Dezember 2022, L 4 AS 939/20, zitiert nach juris, Rn. 131). Ebenso unschädlich ist es, wenn die Ausländerbehörde bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis über Ermessen verfügt (vgl. § 25 Abs. 4 AufenthG). In Verfahren wie dem vorliegenden ist ein Verweis auf die alleinige Zuständigkeit der Ausländerbehörde für die Ermessensprüfung unzulässig, wenn die Umstände des Einzelfalls – wie im vorliegenden Fall – darauf schließen lassen, dass eine Aufenthaltserlaubnis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erteilen wäre (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. April 2022, L 12 AS 1323/19, zitiert nach juris, Rn. 54).
Gegen einen Leistungsausschluss spricht überdies, dass auch ein Aufenthaltsrecht des gemeinsamen Kindes hinreichend wahrscheinlich ist. Nach § 33 AufenthG kann einem Kind, das im Bundesgebiet geboren wird, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Elternteil – hier der Vater nach § 25 Abs. 2 AufenthG – eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Zwar liegt die Erteilung des Aufenthaltsrechts im Ermessen der Behörde. Der Gesetzgeber hat jedoch im Zuge der Neufassung des § 33 AufenthG ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der Ausübung des Ermessens der besonderen Beziehung zwischen den Eltern und dem Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 GG besonders geschützten familiären Betreuungsgemeinschaft Rechnung getragen werden soll. Hinsichtlich des Vaters eines nichtehelichen Kindes sei dabei insbesondere zu berücksichtigen, ob ihm ein Sorgerecht zusteht oder er in familiärer Lebensgemeinschaft mit seinem Kind lebt (BT-Drs. 16/5065, S. 176). Dementsprechend ist im Rahmen des vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahrens auch für das Kind davon auszugehen, dass eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen wäre und die Zuständigkeit der Ausländerbehörde für die Ermessenprüfung unschädlich ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. April 2022, L 12 AS 1323/19, zitiert nach juris, Rn. 54).
Für die Gewährung der begehrten existenzsichernden Leistungen liegt ein Anordnungsgrund vor. Die Leistungen sind – auch im Hinblick darauf, dass Kosten der Unterkunft in Streit stehen – wie beantragt ab Eingang des Antrags beim Sozialgericht am 12. Juni 2023 zu gewähren (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. März 2017, L 21 AS 229/17 B ER, zitiert nach juris, Rn. 42). Sie sind wie beantragt bis zum 30. November 2023 zu begrenzen.
Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, den Antragsgegner entsprechend § 130 Abs. 1 SGG dem Grunde nach zu verpflichten (vgl. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 25. Mai 2021, L 2 AS 225/21 B ER, zitiert nach juris, Rn. 50; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 12. September 2019, L 8 AY 12/19 B ER, zitiert nach juris, Rn. 27; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 86b SGG, Stand: 4. September 2023, Rn. 518). Zwischen den Beteiligten besteht Streit allein darüber, ob die Antragstellerin dem Grunde nach einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen hat. Zudem ist möglich, dass sich in Kürze Änderungen hinsichtlich der Höhe der zu gewährenden Leistungen dadurch ergeben, dass die Familie – wofür der Vater bereits mehrfach eine Genehmigung beantragt hat – in eine größere Wohnung umzieht oder für das gemeinsame Kind wie beantragt Kindergeld gezahlt wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG.
Der Antragstellerin war gem. § 73a SGG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO für das Verfahren vor dem Landessozialgericht Prozesskostenhilfe zu gewähren.
Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG)