S 21 AS 1124/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 21 AS 1124/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 376/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil


1.    Die Klage wird abgewiesen. 

2.    Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. 

3.    Die Berufung wird zugelassen. 


T a t b e s t a n d 

Die Beteiligten streiten um die Minderung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts um jeweils 10% des Regelbedarfs wegen zweier Meldeversäumnisse des Klägers. 

Der im Jahr 1986 geborene Kläger stand – nach vorherigem Bezug von Arbeitslosengeld I - seit 09/2015 im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II) bei der Beklagten. 
 
Am 18.09.2015 fand sein sog. Erstgespräch bei der Beklagten hinsichtlich seiner Eingliederung in den Arbeitsmarkt statt. Am 06.10.2015 sollte ein weiterer Termin stattfinden, bei dem eine Eingliederungsvereinbarung unterzeichnet werden sollte. 
Hierzu erschien der Kläger nicht. 
 
Er wurde daraufhin per Schreiben v. 08.10.2015 förmlich zu einem „Beratungs- und Vermittlungsgespräch“ am 19.10. eingeladen. Diesem war eine Rechtsfolgenbelehrung angefügt, in der es u.a. hieß, die Absenkung der Leistungen beginne mit dem Monat nach „Zustellung“ des Sanktionsbescheides. 
Auch am 19.10. erschein der Kläger jedoch nicht bei der Beklagten. 
 
Auch auf die gleichlautende Folgeeinladung mit Schreiben v. 20.10.2015 zu einem Termin am 05.11. erschien er nicht. 
 
Nach entsprechender Anhörung des Klägers, auf welche dieser sich nicht äußerte, erließ die Beklagte daraufhin am 17.02.2016 zwei Bescheide, mit denen sie die Leistungen des Klägers im Zeitraum 03-05/16 jeweils um 10% des Regelbedarfs minderte. Dies begründete sie damit, der Kläger sei zu den Terminen am 19.10. und 05.11.2015 nicht erschienen, ohne hierfür einen wichtigen Grund angegeben und nachgewiesen zu haben.  
 
Durch weiteren Bescheid selben Datums gewährte die Beklagte dem Kläger Leistungen für den Monat 03/2016, wobei sie die beiden festgestellten Minderungen berücksichtigte. 
 
Gegen alle drei Bescheide legte der Kläger mit Schreiben v. 24.02.2016 Widerspruch ein. Er begründete dies damit, es sei für ihn nicht nachvollziehbar, weshalb sein Erscheinen zu den Terminen erforderlich gewesen sein solle. Er habe bereits am 18.09. an einem Beratungsgespräch teilgenommen, anlässlich dessen verschiedene Absprachen getroffen worden seien. 
 
Die Beklagte holte daraufhin intern eine Stellungnahme des zuständigen persönlichen Ansprechpartners Herrn C. v. 16.03.2016 ein. Dieser gab an. es habe am 18.09. lediglich ein Erstgespräch stattgefunden. In den Folgegesprächen hätten weitere Maßnahmen erörtert werden sollen wie Wohnraumhilfe, Schuldnerberatung, Ermittlung des Qualifizierungsbedarfs, Erstellung von Bewerbungsunterlagen, Vermittlung auf eine Arbeitsstelle in Verkauf/Einzelhandel etc. Hierzu sei eine Kontaktdichte von mindestens einmal monatlich nötig gewesen. 
 
Durch drei Bescheide v. 22.03.2016 wurden die Widersprüche jeweils zurückgewiesen und dies im Kern mit den Ausführungen des persönlichen Ansprechpartners begründet. 
 
Der Kläger hat am 25.04.2016 Klage beim Sozialgericht Darmstadt erhoben. 
 
Er trägt vor, die vom persönlichen Ansprechpartner angegebenen geplanten Gesprächsinhalte seien nicht sinnvoll gewesen. Für eine Vermittlung in den Einzelhandel sei die Übersendung entsprechender Stellenangebote durch die Beklagte an ihn ausreichend gewesen. Der Arbeitsvermittler selbst habe seine Arbeitsmarktnähe festgestellt. Eine beabsichtigte Eingliederungsvereinbarung habe auch auf postalischem Weg abgeschlossen werden können. Zudem genüge die Rechtsfolgenbelehrung in den Einladungsschreiben den Anforderungen der Rechtsprechung nicht. Hierin heiße es, der Sanktionszeitraum beginne mit dem Kalendermonat „nach Zustellung“ des Sanktionsbescheides. Hier aber sei eben keine Zustellung, sondern nur eine formlose Bekanntgabe des Bescheides erfolgt. Er berufe sich insoweit auf das Urteil des Hessischen LSG v. 26.08.2013 - L 9 AS 614/13 B ER -. Auch sei es unzulässig, dass in dem Bescheid die Darlegung eines wichtigen Grundes innerhalb von einer Woche verlangt werde. 

Er beantragt, 
die Sanktionsbescheide vom 17.02.2016 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 22.03.2016 (W XXX1 und W XXX2) aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Änderung des Bescheides vom 17.02.2016 Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren. 
 
Die Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen. 
 
Sie beruft sich auf die in den Bescheiden gegebene Begründung. 
 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die Leistungsakte ergänzend verwiesen. 
 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e 

Die zulässige Klage ist unbegründet. 

Die Bescheide v. 17.02.2016 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 22.03.2016 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Minderungen der Leistungen für den Zeitraum 03-05/16 wurden zu Recht festgestellt. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen ohne Berücksichtigung der Minderungen. 

Kommen Leistungsberechtigte trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihm zu melden oder bei einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin zu erscheinen, nicht nach, mindert sich nach § 32 Abs. 1 S. 1 SGB II das Arbeitslosengeld II oder das Sozialgeld jeweils um 10 Prozent des für sie nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Dies gilt nicht, wenn Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen (Satz 2). 

Vorliegend erschien der Kläger zu den Meldeterminen bei der Beklagten am 19.10. und 05.11.2015 nicht, obwohl er hierzu jeweils ordnungsgemäß schriftlich eingeladen worden war.  

Die in den Einladungsschreiben angegebenen Meldezwecke genügten insbesondere den Anforderungen, die die höchstrichterliche Rechtsprechung an deren Konkretisierung stellt. 

Dass eine rechtmäßige Meldeaufforderung einen Meldezweck voraussetzt, folgt aus § 59 SGB II, der u.a. die Vorschrift über die allgemeine Meldepflicht in § 309 SGB III für entsprechend anwendbar erklärt. Nach dessen Absatz 2 kann die Aufforderung zur Meldung "zum Zwecke der 1. Berufsberatung, 2. Vermittlung in Ausbildung oder Arbeit, 3. Vorbereitung aktiver Arbeitsförderungsleistungen, 4. Vorbereitung von Entscheidungen im Leistungsverfahren und 5. Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für den Leistungsanspruch erfolgen". Diese Aufzählung der Meldezwecke ist abschließend und orientiert sich an den Leistungen der Bundesagentur für Arbeit zur aktiven Arbeitsförderung in §§ 29 ff SGB III. Mit jedem der Zwecke verbinden sich zahlreiche Beratungsgegenstände. Wie konkret der Meldezweck benannt werden muss, kann nicht für alle Einzelfälle generell festgelegt werden, weil dafür die jeweilige Beratungssituation maßgebend ist; eine stichwortartige Konkretisierung ist aber im Regelfall ausreichend. Dementsprechend ist die Angabe "Gespräch über das Bewerberangebot/die berufliche Situation" eine grundsätzlich zulässige und ausreichende Konkretisierung des Meldezwecks (BSG, Urteil vom 9.11.2010 - B 4 AS 27/10 R - SozR 4-4200 § 31 Nr 6 Rn. 25). 

Die vorliegend gewählte Konkretisierung des Meldezwecks mit „Beratungs- und Vermittlungsgespräch“ muss vor dem Hintergrund dieser BSG-Entscheidung aus Sicht der Kammer ebenfalls genügen. Es ist nicht erkennbar, dass die dort gewählte Bezeichnung des Meldezweckes konkreter gewesen wäre. Im vorliegenden Einzelfall kommt hinzu, dass der Kläger erst unmittelbar zuvor dem Zuständigkeitsbereich der Beklagten zugewachsen war und es dementsprechend eine Vielzahl möglicher Beratungsgegenstände gab, wie auch aus der späteren Aufzählung des persönlichen Ansprechpartners folgte. All diese potentiellen Themen bereits im Einladungsschreiben angeben zu müssen, stellte eine offensichtliche Überforderung der Leistungsträger dar. Auch ist davon auszugehen, dass dem Kläger die beabsichtigten Gesprächsthemen in groben Zügen aus dem vorangegangenen Erstgespräch bereits bekannt waren oder ihm sich bei gewissenhafter Überlegung zumindest hätten aufdrängen müssen. 

Auch ist die Beratung und Vermittlung hinsichtlich der Eingliederung in Arbeit ein gesetzlich zugelassener Meldezweck. 

Das Gericht kann hier auch bei der Entscheidung über die Meldeaufforderungen keine Ermessensfehler der Beklagten erkennen. 

Soweit ein Leistungsträger ermächtigt ist, nach seinem Ermessen zu handeln, ist sein Handeln nur rechtswidrig, wenn die gesetzlichen Grundlagen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck des Ermessens nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG sowie § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I zu Ermessensleistungen). Umgekehrt hat der Versicherte Anspruch auf eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I), nicht hingegen einen Rechtsanspruch auf einen bestimmten Betrag z.B. bei einem Leistungsbegehren, sofern nicht eine Ermessensreduzierung auf Null eingetreten ist. Abgesehen von einer solchen Ermessensreduzierung auf Null hat der Gesetzgeber dem Leistungsträger mit der Einräumung von Ermessen eine Auswahlbefugnis hinsichtlich mehrerer gleichermaßen rechtmäßiger Entscheidungsmöglichkeiten auf der Rechtsfolgenseite eröffnet. Zur Sicherung der Funktionentrennung (Art 20 Abs. 2 Satz 2 GG) und der Entscheidungsfreiheit des Leistungsträgers über die Zweckmäßigkeit seines Handelns ist die Überprüfung seiner Ermessensentscheidung durch die Gerichte auf die Rechtmäßigkeitsprüfung begrenzt ("Rechtmäßigkeits-, aber keine Zweckmäßigkeitskontrolle"). Das Gericht hat nur zu prüfen, ob der Träger sein Ermessen überhaupt ausgeübt, er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG; BSG, Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 19/14 R –, BSGE 119, 17-33, SozR 4-4200 § 31a Nr 1, SozR 4-1100 Art 1 Nr 15, SozR 4-4200 § 32 Nr 1, Rn. 35). 

Die Voraussetzungen für eine Ermessensunterschreitung oder einen Ermessensmangel, bei denen zwar Ermessenserwägungen angestellt werden, diese indes unzureichend sind, weil sie z.B. nur aus formelhaften Wendungen bestehen oder relevante Ermessensgesichtspunkte nicht berücksichtigt werden, oder für einen Ermessensfehlgebrauch oder Ermessensmissbrauch, bei denen sachfremde Erwägungen angestellt werden, sind für die hier gegenständlichen Meldeaufforderungen ebenfalls nicht erfüllt. Denn ein Gespräch zwischen dem Kläger und der Beklagten über seine Eingliederung in Arbeit war angesichts seiner Arbeitslosigkeit praktisch geboten. Zudem waren nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben des persönlichen Ansprechpartners vermittlungsrelevante Themen wie Wohnraumhilfe, Schuldnerberatung, Ermittlung eines Qualifizierungsbedarfs, die Erstellung von Bewerbungsunterlagen und die Vermittlung auf eine Stelle im Verkauf/Einzelhandel zu besprechen. Insbesondere zu Beginn des Leistungsbezugs erscheint eine ständige Beratung regelmäßig nötig, um die schnelle Wiedereingliederung zu erreichen. Zudem hatte gerade im Falle des Klägers die Bundesagentur für Arbeit schon länger erfolglos eine Vermittlung versucht. Vor diesem Hintergrund erschien es wenig zweckmäßig, die weitere Arbeitsuche allein der Eigeninitiative des Kläger zu überlassen. Vielmehr drängte es sich auf, etwaige Vermittlungshemmnisse weiter aufzuklären und ihn in jeglicher Hinsicht bei der Arbeitssuche zu unterstützen. Zudem stellte sich im Falle des Klägers als weiteres Problem der damals drohende Wohnungsverlust. Dass der Beklagte sich von sachfremden Erwägungen hätte leiten lassen, ist schließlich ebensowenig festzustellen. Insbesondere erscheint es unbedenklich, wenn die Beklagte neben den o.g. Gegenständen zusätzlich auch den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung im Termin anstrebte. 

Die Einladungsschreiben waren weiter auch mit einer ordnungsgemäßen Rechtsfolgenbelehrung versehen. 

Für die Rechtsfolgenbelehrung ist inhaltlich vonnöten, dass sie konkret, verständlich, richtig und vollständig sein muss. Nur eine derartige Belehrung vermag dem Zweck der Rechtsfolgenbelehrung - nämlich der Warn- und Steuerungsfunktion - zu genügen. Zu betonen ist vor diesem Hintergrund insbesondere, dass eine konkrete Umsetzung auf den jeweiligen Einzelfall erforderlich ist und es mithin nicht genügt, dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ein Merkblatt an die Hand zu geben, aus dem er die für seinen Fall maßgebenden Voraussetzungen und Rechtsfolgen selbständig ermitteln muss (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008 – B 4 AS 60/07 R –, BSGE 102, 201-211, SozR 4-4200 § 16 Nr 4, SozR 4-4200 § 31 Nr 1, Rn. 36). 
Die vorliegend von der Beklagten verwendeten Rechtsfolgenbelehrungen entsprechen diesen Anforderungen. Sie sind insbesondere hinreichend konkret im letztgenannten Sinne. Auch sind sie nach Auffassung der Kammer „richtig“ im o.g. Sinne. Dieses Erfordernis kann nicht zum Inhalt haben, dass bereits jeder kleine formale Fehler zur Unwirksamkeit der Belehrung führt. Maßstab muss insofern sein, ob die Warn- und Steuerungsfunktion der Belehrung durch den Fehler beeinträchtigt wird. Dies trifft aber gerade auf den von der Klägerseite geltend gemachten Fehler, dass nur eine Minderung der Leistungen beginnend mit dem Folgemonat der „Zustellung“ des Sanktionsbescheides (statt richtig: des Zugangs) angedroht wurde, nicht zu. Denn auch durch die gewählte Formulierung wird dem Leistungsberechtigten klar vor Augen geführt, dass bei einer Pflichtverletzung die genannte Sanktion ab dem Folgemonat nach deren Feststellung droht. Es ist daher nicht ersichtlich, dass die Warnfunktion der Belehrung dadurch beeinträchtigt wird. Dies trifft ebenso auf die Steuerungsfunktion der Belehrung zu. Denn der Leistungsberechtigte weiß zum Zeitpunkt des Erhalts der Belehrung gerade noch nicht, ob ihm ein späterer Sanktionsbescheid formlos übersandt oder förmlich zugestellt werden wird. Daher ist dieser Formulierungsfehler nicht geeignet, sein Verhalten beeinflussen. Das Gericht kann sich aus diesen Gründen der von der Klägerseite zitierten Entscheidung des Hessischen LSG nicht anschließen. 

Der Kläger hat auch keinen wichtigen Grund für sein Nichterscheinen vorgetragen. Insbesondere war es keine ausreichend erfolgversprechende Option, ihn mit seiner Arbeitssuche allein zu lassen (siehe dazu bereits oben). 

Die nach § 32 Abs. 2 i.V.m. § 31 b SGB II vorgeschriebenen Rechtsfolgen hat die Beklagte schließlich zutreffend festgestellt. 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und ergibt sich aus dem Verfahrensausgang. 

Das Gericht hat die Berufung zugelassen, weil das Urteil in einem entscheidungserheblichen Punkt (Anforderungen an die Rechtsfolgenbelehrung im Einladungsschreiben: Beginn des Minderungszeitraums ab dem Monat nach „Zustellung“ des Sanktionsbescheides) von einer Entscheidung des Hessischen LSG (Urteil v. 26.08.2013 - L 9 AS 614/13 B ER –  abweicht, § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG
 

Rechtskraft
Aus
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