Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 1. Juni 2022 geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, den Widerspruch der Klägerin gegen die Bescheide vom 28. April 2020 zu bescheiden.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Klägerin im gesamten Verfahren.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Beklagte lehnte gegenüber der 1975 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 28. April 2020 nach vorläufiger Bewilligung (Bescheid vom 4. Dezember 2018) die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für die Zeit vom 1. Dezember 2018 bis 31. Mai 2019 endgültig ab, weil die Klägerin, die seinerzeit als Inhaberin einer Gaststätte selbständig tätig war, trotz mehrfacher Aufforderungen keine Angaben zu den Betriebseinnahmen bzw –ausgaben im Bewilligungszeitraum gemacht habe. Mit weiterem Bescheid vom 28. April 2020 verlangte der Beklagte von der Klägerin Erstattung der ihr vorläufig gewährten Leistungen in einer Gesamthöhe von 2.800,05 €. Beide Bescheide wurden der Klägerin am 2. Mai 2020 zugestellt.
Am 19. Mai 2020 reichte die Klägerin einen Weiterbewilligungsantrag für die Zeit ab Juni 2020 und eine „Abschließende EKS für 11.2018 – 05.2019 mit Quittungen zum Kopieren“ bei dem Beklagten ein. Mit E-Mail vom 18. August 2020 erkundigte sich die Klägerin nach dem Bearbeitungsstand „des Widerspruches vom Mai 2020“ hinsichtlich der EKS Dezember 2018 bis Mai 2019. Nach Hinweis des Beklagten, dass ein Widerspruch gegen den Bescheid vom 28. April 2020 nicht vorliege, teilte die Klägerin mit E-Mail vom 24. August 2020 mit, sie habe den Widerspruch mit den EKS-Unterlagen am 19. Mai 2020 im Service-Center des Beklagten abgegeben. Nachdem der Beklagte daraufhin nochmals darauf verwies, dass ein Widerspruch gegen den Bescheid vom 28. April 2020 auch nach Prüfung des Vorgangs nicht zu ermitteln sei, die Klägerin jedoch einen Überprüfungsantrag nach § 44 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) stellen könne (Schreiben vom 3. September 2020), kam dem die Klägerin mit E-Mail vom 14. September 2020 nach. Den Überprüfungsantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28. Oktober 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2021 ab; Klage hiergegen hat die Klägerin nicht erhoben.
Mit ihrer am 23. November 2020 erhobenen Klage begehrt die Klägerin eine Bescheidung ihres Widerspruchs gegen die endgültige Berechnung für die Zeit von Dezember 2018 bis Mai 2019 und wendet sich auch gegen die geltend gemachte Erstattungsforderung. Das Sozialgericht (SG) Neuruppin hat die Klage als unzulässig abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 1. Juni 2022). Als Untätigkeitsklage nach § 88 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei die Klage unzulässig, weil ein Widerspruch gegen die Bescheide vom 28. April 2020 nicht erhoben worden sei. Soweit die Klage auch als Klage gegen die Bescheide vom 28. April 2020 auszulegen sei, fehle es am erforderlichen Vorverfahren nach § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Es sei für sie nicht nachvollziehbar, dass der in Rede stehende Widerspruch nicht auffindbar sei.
Sie beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 1. Juni 2022 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihren Widerspruch gegen die Bescheide vom 28. April 2020 zu bescheiden sowie den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 28. April 2020 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. Dezember 2018 bis 31. Mai 2019 Leistungen in der vorläufig bewilligten Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend .
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Absatz 2 SGG erklärt.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten der Beklagten, auf die wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten Bezug genommen wird, sind Gegenstand der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist begründet, soweit sie in Gestalt einer statthaften Untätigkeitsklage iSv § 88 Abs. 2 SGG die Bescheidung ihres Widerspruchs gegen die Bescheide der Beklagten vom 28. April 2020 begehrt. Im Übrigen, dh soweit sich die Klägerin bei verständiger Auslegung ihres Begehrens (vgl § 103 SGG) im Wege einer kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage auch gegen den endgültigen Ablehnungsbescheid des Beklagten für den Bewilligungszeitraum vom 1. Dezember 2018 bis 31. Mai 2019 und den hierzu ergangenen Erstattungsbescheid, beide vom 28. April 2020, wendet und die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung endgültiger Leistungen in der vorläufig bewilligten Höhe begehrt, hat die Berufung indes keinen Erfolg. Diese Klage ist unzulässig.
Ist ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden, so ist die Klage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts zulässig. Liegt ein zureichender Grund dafür vor, dass der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus, die verlängert werden kann. Wird innerhalb dieser Frist dem Antrag stattgegeben, so ist die Hauptsache für erledigt zu erklären (§ 88 Abs. 1 SGG). Das gleiche gilt, wenn über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist, mit der Maßgabe, dass als angemessene Frist eine solche von drei Monaten gilt (§ 88 Abs. 2 SGG).
Der Beklagte hat den Widerspruch der Klägerin gegen die Bescheide vom 28. April 2020 nicht innerhalb der Frist des § 88 Abs. 2 SGG beschieden, ohne dass dafür ein zureichender Grund vorläge. Entgegen der Auffassung des Beklagten und des SG ist in der Einreichung der Unterlagen zur abschließenden EKS seitens der Klägerin am 19. Mai 2020 ein Widerspruch gegen die Bescheide vom 28. April 2020 zu sehen, die der Klägerin zuvor am 2. Mai 2020 (vgl vorliegende Postzustellungsurkunde) zugestellt worden waren. Sie nimmt dabei aus der Sicht eines verständigen Empfängers explizit auf den Grund für die endgültige Leistungsablehnung Bezug, was nur das Begehren implizieren kann, der Beklagte möge eine erneute endgültige Berechnung unter Berücksichtigung der vorgelegten Belege und Aufstellungen vornehmen. Dass die Klägerin nicht ausdrücklich das Wort „Widerspruch“ benutzt hat, ist dabei unerheblich. Es genügt, wenn zum Ausdruck kommt, dass sich der oder die Betreffende durch den Verwaltungsakt beeinträchtigt fühlt und eine Überprüfung durch die Verwaltung anstrebt (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl § 84 Rn 2). Dies war hier zweifelsohne der Fall, wie auch aus der nachfolgenden E-Mail der Klägerin vom 18. August 2020 erhellt, in der sie explizit auf den Widerspruch „vom Mai 2020“ gegen die endgültige Entscheidung Bezug nimmt.
Da kein zureichender Grund für die nicht erfolgte Bescheidung des Widerspruchs ersichtlich ist und der Beklagte nicht innerhalb der Drei-Monats-Frist des § 88 Abs. 2 SGG eine entsprechende Entscheidung getroffen hat, ist die Klage insoweit begründet und der Beklagte entsprechend zu verurteilen. Hieran ändert auch nichts, dass der Beklagte zwischenzeitlich über den von der Klägerin gestellten Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X eine bindende (vgl § 77 SGG) – da von der Klägerin nicht angefochtene – Verwaltungsentscheidung verlautbart hat (Bescheid vom 28. Oktober 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2021). Das Rechtsschutzbedürfnis für den Bescheidungsanspruch der Klägerin ist damit nicht entfallen.
Zwar steht der Anwendung des § 44 Abs. 1 SGB X nicht entgegen, dass die Bescheide vom 28. April 2020 bei Klageerhebung – wegen des erhobenen Widerspruchs - noch nicht bestandskräftig waren; denn § 44 SGB X ist, wie bereits die Formulierung ("auch" nachdem er unanfechtbar geworden ist) belegt, eine neben der Anfechtung zulässige verwaltungsverfahrensrechtliche Korrekturmöglichkeit (vgl BVerwGE 118, 84 ff). Dabei mag richtig sein, dass die allgemeinen Vorschriften über das Widerspruchs- und Klageverfahren im untechnischen Sinn speziellere Korrekturnormen darstellen (so Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 44 Rn 3); jedoch kann hieraus allenfalls abgeleitet werden, dass für eine Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage, die bei Anwendung des § 44 SGB X erforderlich ist, ein Rechtsschutzbedürfnis zu verneinen ist, soweit und solange das Ziel der Klage mit der einfacheren Anfechtungs- und Leistungsklage zu erreichen ist (vgl Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 7 AY 7/12 R = SozR 4-3520 § 1a Nr 1 – Rn 19). Den Überprüfungsbescheid vom 28. Oktober 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2021 hat die Klägerin aber gerade nicht mit einer Klage angefochten.
Soweit die Klägerin sich bei Auslegung ihres Vorbringens inhaltlich gegen die Bescheide vom 28. April 2020 wendet, ist eine hierauf bezogene kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (vgl zur statthaften Klageart BSG, Urteil vom 11. November 2021 – B 14 AS 41/20 R = SozR 4-4200 § 11b Nr 14 – Rn 11) indes unzulässig, da es – wie dargelegt – derzeit an der Bescheidung des Widerspruchs der Klägerin gegen diese Bescheide (die als „Bescheideinheit“ anzusehen sind; vgl BSG aaO Rn 14 mwN aus der Rspr) und damit an dem nach § 78 Abs. 1 Satz 1 bzw Abs. 3 SGG erforderlichen Vorverfahren fehlt. Eine entsprechende – sachdienliche (vgl § 99 Abs. 1 SGG) - Klageänderung wäre erst nach Erteilung des Widerspruchsbescheides möglich gewesen (vgl BSG, Urteil vom 28. September 2006 – B 3 KR 28/05 R = SozR 4-2500 § 139 Nr 2 – Rn 19,20). Der Klägerin bleibt es aber unbenommen, nach Erteilung des Widerspruchsbescheides eine (neue) Klage zu erheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.