L 1 KR 335/23 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 28 KR 99/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 335/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 5. September 2023 wird geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin ab sofort bis zum 7. November 2024, längstens jedoch bis zum Ergehen einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache (Sozialgericht Potsdam, Az. 28 KR 97/23) bei vertragsärztlicher Verordnung mit Dronabinol-Tropfen in verordneter Menge zu versorgen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen zu tragen.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 5. September 2023 ist im Wesentlichen begründet. Das Sozialgericht (SG) hat den am 6. April 2023 gestellten Antrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, entsprechend ärztlicher Verordnung die Versorgung mit Dronabinol-Tropfen (=THC-Tropfen) bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu genehmigen und sie mit diesem Medikament zu versorgen, im Kern zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig, wenn andernfalls die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden.

Drohen dem Versicherten aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) von den Sozialgerichten grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG] BVerfGE 79, 69 <74>; 94, 166 <216>; NJW 2003, 1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. In diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236f.; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. Juli 2021 – L 1 KR 215/21 B ER –, juris-Rdnr. 12f, Beschluss vom 29. März 2018 - L 1 KR 26/18 B ER -, juris-Rdnr. 2 mit weiteren Nachweisen). Hierbei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen.

An diesen Grundsätzen gemessen ist die Antragsgegnerin überwiegend antragsgemäß zu verpflichten.

Ein Anordnungsanspruch im vorgenannten Sinne liegt vor.

Nach § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Es ist zunächst mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von einer schwerwiegenden Erkrankung der Antragstellerin im Sinne von § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V auszugehen. Cannabis kann bei Multimorbidität von Patienten auch zur Behandlung mehrerer Erkrankungen oder ihrer Symptome zum Einsatz kommen, die nicht für sich genommen, jedoch in ihrer Kombination schwerwiegend sind. Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (vgl. BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 19/22 R Rdnr. 13 mit Bezugnahme auf Urteile vom 19. März 2002 - B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184, 191 f und vom 25. März 2021 - B 1 KR 25/20 R - BSGE 132, 67 Rdnr. 40).

Für die Frage, ob die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt ist, sind die durch die Erkrankung hervorgerufenen Funktionsstörungen und -verluste, Schmerzen, Schwäche und Hilfebedarfe bei den Verrichtungen des täglichen Lebens maßgebend, die sich durch ihre Schwere vom Durchschnitt der Erkrankungen abheben müssen. Ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) bzw. ein GdB von 50 für die mit Cannabis zu behandelnde Erkrankung nach GdS-Tabelle aus Teil 2 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung kann dafür als Anhaltspunkt dienen, ist aber nicht als starrer Grenzwert zu verstehen. Entscheidend sind die in der GdS-Tabelle enthaltenen Kriterien zur Schwere der Beeinträchtigungen aufgrund der Auswirkungen einer Erkrankung (BSG, Urteil vom 10. November 2022 Rdnr. 14 mit Bezugnahme auf Urteil vom 10. November 2022 - B 1 KR 28/21 R – Rdnr 13 ff).

Ausweislich der eingereichten ärztlichen Einschätzung und der weiteren Bescheinigungen des die Antragstellerin behandelnden Facharztes für Anästhesiologie, Schmerz- und Psychotherapie W leidet diese unter anderem an einem chronischen Schmerzsyndrom, einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Fibromyalgie, Morbus Scheuermann der BWS und Arthrose verschiedener Gelenke. Beschrieben sind vor allem drückende Schmerzen der rechten Hand mit Ausstrahlung in den Arm und extremen Schmerzspitzen bei Berührung. Die rechte Hand ist funktionsunfähig. Die Antragstellerin leidet unter erheblichen bis unerträglichen Schmerzen. Sie ist in den Pflegegrad 1 eingestuft, schwerbehindert mit einem GdB von 50 und erhält seit dem 1. Oktober 2022 aufgrund ihrer Erkrankung eine Erwerbsminderungsrente.

Da die Leiden der Antragstellerin auch nach Auffassung ihres Behandlers nicht lebensbedrohlicher Natur sind und es für die Behandlung Standardtherapien gibt, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen können (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V). Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt insoweit eine Einschätzungsprärogative zu.

An die begründete Einschätzung sind hohe Anforderungen zu stellen. Dies ergibt sich aus der Geltung des Betäubungsmittelgesetzes, die durch § 31 Abs. 6 SGB V nicht aufgehoben ist, und daraus, dass die Behandlung mit Cannabis im zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht eine Neulandmethode darstellt, sowie aus Gründen des Patientenschutzes (BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R- Rdnr. 24) Die begründete Einschätzung muss folgendes beinhalten:

-Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf. Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte,

-Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankung(en), ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels,

-bereits angewendete Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen,

-noch verfügbare Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen,

-Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis. In die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.

Krankenkassen und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative schließt eine weitergehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit aus (vgl. BSG, a. a. O. Rdnr. 37, Beschluss vom 4. August 2023 – B 1 KR 88/22 B –, Rdnr. 7).

Die Versicherte hat die begründete Einschätzung beizubringen. Es ist ihr aber nicht verwehrt, auch im gerichtlichen Verfahren in Reaktion auf die bisherigen Erkenntnisse eine Ergänzung der bisher abgegebenen Einschätzung durch den Vertragsarzt noch vorzulegen. Eine solche Ergänzung kann aber erst ab diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Genehmigung für die Zukunft begründen (BSG, Urt. vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R- Rdnr. 39).

Die Antragstellerin hat das Vorliegen dieser skizzierten Voraussetzungen an eine entsprechend fundierte Einschätzung des Behandlers hinreichend glaubhaft gemacht. Die Ausführungen sind zwar teils eher knapp gehalten und werfen vereinzelt noch Detailfragen auf, gehen aber auf alle relevanten Sachverhalte ein und sind nachvollziehbar:

Der „Arztfragebogen zu Cannabioniden nach § 31 Abs. 6 SGB V“ des Behandlers W vom 11. Oktober 2022 und sein vom SG angeforderter ergänzender Befundbericht vom 18. Juli 2023 enthalten eine Dokumentation der Leiden einschließlich der resultierenden Einschränkungen. Er hat die Antragstellerin wiederholt selbst untersucht. Die Behandlung mit Cannabis soll die chronischen Schmerzen lindern (Befundbericht unter 8.) und die mittelbaren Folgen der Schmerzspitzen wie Tagesmüdigkeit, psychophysische Erschöpfung, Konzentrations- und Merkstörungen und herabgesetzte Grundstimmung bekämpfen (Fragebogen unter 4.).

Hinreichend deutlich stellt der Behandler weiter dar, dass die bereits durchgeführte medikamentöse Standardbehandlung ausgeschöpft wurde (Fragenbogen unter 7: Opioide, Nichtopioide, Konalgetika, auch in Kombination, stationär wie ambulant; Befundbericht Nr. 6: Tramadol, Tilidin, Neuroleptika, Paracetamol, NSAR, Novamin). Knapp aufgeführt sind die unzureichende Wirkung und die Nebenwirkungen. Entscheidend ist dabei die ungenügende Schmerzmilderung, so dass die Auffassung des SG und der Antragsgegnerin – unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 22. November 2022 (B 1 KR 19/22 R, Rdnr. 23) -, die einzelnen Nebenwirkungen seien nur unzureichend dargestellt, an der ärztlichen Aussage vorbeigeht. Aufgeführt sind ferner die erfolglos durchgeführten nichtmedikamentösen Therapien (Fragebogen unter 7: TENS, Physiotherapie, multimodale Schmerztherapie im Krankenhaus ohne Besserung). Soweit Dipl. Med.W auf die Frage im Befundbericht, ob die Behandlungsmethoden erschöpft seien, ausführt, eine stationäre Schmerzbehandlung als verändertes Setting sei (theoretisch) noch denkbar, allerdings sei nur ein „outcome idem“ zur ambulanten Behandlung zu erwarten, hat er die Frage nach einer noch zur Verfügung stehenden Standardtherapie im Folgenden zweifelsfrei verneint. Soweit der Medizinische Dienst die Durchführung einer Verhaltens- und/oder Gesprächstherapie vermisst, ist nicht ersichtlich, dass diese als Standardtherapie die gebotene akute Schmerzbehandlung nicht nur flankieren, sondern ersetzen könnte.

Die Einschätzung verhält sich auch knapp aber eindeutig zu den möglichen Nebenwirkungen der Behandlung mit THC, die zur Schmerzlinderung bei „meist gut tolerablen/nicht vorhandenen Nebenwirkungsprofil“ führe (Befundbericht zu Nr. 13). Eine Suchtproblematik oder ähnliches steht nach Aktenlage nicht im Raum.

Die Vorlage einer vertragsärztlichen (Betäubungsmittel-)Verordnung stellt keine Voraussetzung für die Genehmigung nach § 31 Abs. 6 S. 2 SGB V dar. Die präventive Kontrolle der Krankenkasse, ob die in Satz 1 benannten Voraussetzungen für einen Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit Cannabis erfüllt sind, kann diese auch ohne Vorlage einer Verordnung allein in Kenntnis der geplanten Verordnung mit den Angaben im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung ausüben (BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R –, Rdnr. 48). Der Fragebogen enthält unter Nr. 2 die Angaben zum Arzneimittel und zu Menge und zur (Anfangs-)Dosierung.

Der Anordnungsanspruch auf Sachleistung setzt allerdings eine vertragsärztliche Verordnung voraus. Auch der Leistungsanspruch auf Versorgung mit Cannabis bedarf zu seiner Realisierung gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V, § 11 Abs. 1 Arzneimittel-Richtlinie einer vertragsärztlichen Verordnung (BSG, a. a. O. Rdnr. 47).

Es liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Angesichts der schweren Erkrankung und dem erheblichen Leidensdruck ist es der Antragstellerin jedenfalls angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit des Bestehens eines Anspruchs unzumutbar, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.

Aus denselben Erwägungen gelangte auch ein reine Folgenabwägung zum gleichen Ergebnis.

Der Anspruch war zeitlich auf maximal ein Jahr zu beschränken. Die Dringlichkeit einer zeitlich darüber noch hinausgehenden vorläufigen Regelung ist nicht ersichtlich. Entsprechendes gilt für den begehrten Ausspruch der Verpflichtung der Antragsgegnerin zu einer (vorläufigen) Genehmigung. Diese ist zur Realisierung des Anspruches auf Versorgung mit dem begehrten Rezepturarzneimittel durch einstweilige Anordnung nicht erforderlich. Die Beschwerde war deshalb im Übrigen zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog. Es ist von einem überwiegenden Obsiegen der Antragstellerin auszugehen.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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