L 13 R 1062/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 2 R 2857/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 1062/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11. März 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Die Klägerin begehrt im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die im Jahr 1965 geborene Klägerin beantragte am 19. April 2013 bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte veranlasste deren Begutachtung durch ihren sozialmedizinischen Dienst, für den L1, in seinem Gutachten vom 19. Juni 2013 bei der Klägerin vorbefundlich eine Reaktion auf schwere Belastung, angegebene Panikzustände, Diabetes mellitus Typ 2 mit befriedigender Einstellung unter einer geringen Insulindosis, eine Eisenmangelanämie bei (vorbefundlich) Eisenresorptionsstörung und Verdacht auf Thalassämia minor, eine vorbefundliche Fernvisus- Minderung, ohne ersichtliche Ursache (diabetische Retinopathie verneint) sowie angegebene Schulterschmerzen rechts bei aktuell freier Funktion diagnostizierte. Die Klägerin sei, so L1, in der Lage, eine leichte Tätigkeit in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich und mehr verrichten zu können.

Mit Bescheid vom 21. Juni 2013 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Begründend führte sie aus, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien nicht erfüllt, das Versicherungskonto weise für den Zeitraum vom 19. April 2008 – 18. April 2013 nur 19 Monate mit Pflichtbeiträgen auf. Auch sei die Klägerin nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen nicht erwerbsgemindert.

Mit Schreiben vom 11. April 2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Überprüfung des Bescheides vom 21. Juni 2013 nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Nachdem die Beklagte der Klägerin auf deren Anfrage mitgeteilt hatte, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der begehrten Rente zuletzt bei einem Leistungsfall vor August 2010 erfüllt seien, lehnte sie den Überprüfungsantrag mit Bescheid vom 20. Mai 2020 ab. Sie führte hierzu aus, im Bescheid vom 21. Juni 2013 sei weder das Recht unrichtig angewandt, noch von einem Sachverhalt ausgegangen worden, der sich im Nachhinein als unrichtig erwiesen habe. Nach dem Ergebnis der durchgeführten ärztlichen Feststellungen sei keine quantitative Minderung des Leistungsvermögens feststellbar.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass die bei ihr vorliegenden Erkrankungen im Jahr 2013 bereits langjährig bestanden hätten. Es sei von einem Leistungsfall spätestens am 15. Juli 2010 auszugehen. Wegen bestehender psychischer Erkrankungen sei sie langjährig in fachärztlicher Behandlung, bereits im Jahr 2003 sei sie stationär behandelt worden.

Nach einer sozialmedizinischen Überprüfung wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 10. September 2020 unter der Begründung, bei Erlass des Bescheides vom 21. Juni 2013 sei weder das Recht unrichtig angewandt worden, noch sei von einem Sachverhalt ausgegangen worden, der sich als unrichtig erwiesen habe, zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 24. September 2020 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat sie vorgetragen, der von der Beklagten angenommene Versicherungsfall am 19. April 2013 sei fehlerhaft. Ihr Krankheitsbild habe sich bereits zuvor manifestiert. Es sei von einem Leistungsfall spätestens am 15. Juli 2010 auszugehen. Schon im Jahre 2003 sei bei ihr eine Anpassungsstörung bei Vorliegen einer reaktiven Depression diagnostiziert worden. Der H1, bei dem sie seit Anfang 2011 in Behandlung stehe, habe bei einer bestehenden Familienanamnese für schizophrene Psychosen von wiederkehrenden depressiven Symptomen mit Suizidalität und mehrfachen stationären Aufenthalten in der Zeit vor 2011 berichtet. Auch weiteren ärztlichen Berichten seien neurologisch-psychiatrische Krankheitsbilder zu entnehmen. Unter Berücksichtigung der weiteren Erkrankungen, insb. auch der Diabetes mellitus-Erkrankung werde deutlich, dass bereits am 15. Juli 2010 von einem zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögen ausgegangen werden müsse.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen einvernommen. H1, hat unter dem 2. Februar 2021 einen Behandlungsbeginn im Jahr 2011 bekundet und ausgeführt, dass wegen der nicht durchgängigen Behandlung ein Leistungsvermögen von weniger als sechs Stunden täglich nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei. Der H2 hat ausgeführt, die Klägerin von 2011 bis 2016 in unterschiedlicher Häufigkeit behandelt zu haben. Nach seinen dokumentierten Befunden sei von einer im Durchschnitt geringen Leistungsbeeinträchtigung auszugehen. Nach Aktenlage sei das Leistungsvermögen jedoch nicht präzise zu bestimmen (Stellungnahme vom 3. Februar 2021). Der B1 hat in seiner Stellungnahme vom 28. Januar 2021 mitgeteilt, die Klägerin seit 1992 zu behandeln. Die bestehenden Erkrankungen (chronische somatische Depressionen, Asthma bronchiale, chronische Eisenmangelanämie) seien im Wesentlichen unverändert geblieben. Ab 2004 sei jedoch eine Diabetes mellitus Erkrankung hinzugetreten.

Das SG hat ferner den Entlassungsbericht der vom 26. April – 17. Mai 2011 in der Z1- Klinik, B2 durchgeführten stationären Rehabiliationsmaßnahme vom 26. Mai 2011 beigezogen, aus der die Klägerin unter den Diagnosen einer Reaktion auf schwere Belastungen, eines HWS- und LWS Syndroms, Diabetes mellitus Typ II b, Hypothyreoidismus nach Operation, mit einem zeitlich uneingeschränkten Leistungsvermögen entlassen worden ist.

Das SG hat sodann auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG). W1, zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens zur Leistungsfähigkeit der Klägerin beauftragt. In seinem nervenärztlichen Gutachten vom 16. Dezember 2021 hat. W1 bei der Klägerin einen langjährigen Ehekonflikt mit geklagtem hohen Ruhebedürfnis und Schmerzen sowie einem deutlichen "sogenannten sekundären Krankheitsgewinn" sowie fremdbefundlich eine Schilddrüsenstoffwechselstörung, Diabetes mellitus II, eine arterielle Hypertonie, Asthma bronchiale, Myopie und Astigmatismus diagnostiziert. Er hat u.a. ausgeführt, bei der Untersuchung der Klägerin habe sich kein Anhalt für eine depressive Störung von Krankheitswert, eine Psychose und oder ein hirnorganisches Psychosyndrom gefunden, indes hätte sich ein Anhalt für eine deutliche Überzeichnung und Ausgestaltung und sogenannten sekundären Krankheitsgewinn gezeigt. Eine rentenrelevante Erkrankung sei nicht zu begründen. Bei der Klägerin lägen, so. W1, keine Befunde vor, die es ihr seit dem 30. Juli 2010 unmöglich gemacht hätten, einer leichten (körperlich und geistig nicht anspruchsvollen) Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für mindestens sechs Stunden arbeitstäglich nachzukommen.

Die Klägerin ist der gutachterlichen Einschätzung entgegengetreten und hat hierzu auf ein ärztliches Attest des. H1 vom 13. September 2021 verwiesen, in dem dieser die Einschätzung vertreten hat, dass die Klägerin nicht in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens noch drei Stunden täglich erwerbstätig sein zu können.

Mit Gerichtsbescheid vom 11. März 2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die klägerseits begehrte Verpflichtung der Beklagten, den Bescheid vom 21. Juni 2013 zurückzunehmen, gründe in § 44 SGB X. Nach dessen Abs. 1 sei ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden sei, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergebe, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden sei. Im Übrigen sei ein rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar geworden ist nach § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Für die Vergangenheit könne er nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X zurückgenommen werden. Maßgebend für die Beurteilung der Fehlerhaftigkeit sei hierbei der Zeitpunkt der Überprüfung des Bescheides. Indes sei hierbei im Wege einer rückschauenden Betrachtungsweise die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der zur Überprüfung gestellten Verwaltungsentscheidung maßgeblich. Dies zugrunde gelegt erweise sich der Bescheid vom 21. Juni 2013 als rechtmäßig. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung gehabt und habe einen solchen unverändert nicht. Die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen hätten bis zum 21. Juni 2013 lediglich zu qualitativen Leistungseinschränkungen, nicht jedoch einer zeitlichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit geführt. Dies gründe im Gesamtergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahmen. So habe das ZfP C1 im Bericht vom 16. Februar 2004 lediglich eine affektive Episode bei langjährigem Ehekonflikt diagnostiziert.. H2 habe für die Zeit vom 21. September 2011 - 21. Juni 2013 lediglich eine Anpassungsstörung, eine Angst- und depressive Störung gemischt und eine nicht näher zu bezeichnende depressive Störung mitgeteilt. Erst ab dem 22. Juni 2013 habe er das Leiden als mittelgradige depressive Episode eingeschätzt. Vor 2011 habe er die Klägerin nicht behandelt. Die von ihm erhobenen Befunde belegten nur eine geringe Leistungsbeeinträchtigung. Auch. H1 habe bestätigt, dass zum 22. Februar 2011 das Ausmaß einer Depression nicht erreicht worden sei. Die Dokumentation des Hausarztes der Klägerin enthalte keine weiteren psychischen Befunde. Im Rehabilitationsentlassungsbericht vom 26. Mai 2011 werde unter Berücksichtigung des erhobenen Befundes nachvollziehbar ein zeitliches Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr angenommen. Noch im Jahr 2013 sei durch. L1 ein im Wesentlichen unauffälliger psychischer Befund dokumentiert worden. Hieraus ergebe sich, dass die Klägerin in der Zeit von 16. Februar 2004 – 21. Juni 2013 durchgehend in der Lage gewesen sei, einer leichten Tätigkeit in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich und mehr nachgehen zu können. Dieses Ergebnis werde durch das Gutachten von W1 bestätigt.

Gegen den ihr am 14. März 2022 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 8. April 2022 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Zu deren Begründung bringt sie vor, anders als W1 habe der sie behandelnde H1 bescheinigt, dass sie infolge der bestehenden Erkrankungen in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei. Dieser könne das Krankheitsbild aus der seit Januar 2011 resultierenden Behandlung besser einschätzen als der Sachverständige. Auch sei der Leistungsfall nicht erst im Jahr 2013, sondern zu einem früheren Zeitpunkt eingetreten.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11. März 2022 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20. Mai 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. September 2020 zu verurteilen, den Bescheid vom 21. Juni 2013 zurückzunehmen und der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrages verweist die Beklagte auf ihr erstinstanzliches Vorbringen und die aus ihrer Sicht zutreffenden Ausführungen des SG im angefochtenen Gerichtsbescheid. Sie hat einen aktuellen Versicherungsverlauf der Klägerin vorgelegt und (wiederholend) mitgeteilt, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen von 36 Pflichtbeiträgen in den letzten 60 Monaten letztmalig am 1. Juli 2010 erfüllt gewesen seien.

Mit Schriftsatz vom 15. Dezember 2022 hat die Beklagte, mit solchem vom 2. Januar 2023 die Klägerin das Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insb. des Vorbringens der Beteiligten wird auf die (elektronisch geführten) Prozessakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden sind, verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die statthafte (vgl. § 143 SGG), form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 SGG) und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat nach dem erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), führt für diese inhaltlich nicht zum Erfolg.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Streitgegenständlich ist der Bescheid der Beklagten vom 20. Mai 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. September 2020, mit dem es die Beklagte abgelehnt hat, ihren Bescheid vom 21. Juni 2013 nach § 44 SGB X zurückzunehmen und der Klägerin eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

§ 44 SGB X dient der Korrektur rechtswidrigen Verwaltungshandelns im Wege eines sog. Überprüfungsverfahrens mit dem Ziel, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten letzterer aufzulösen (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 29. September 2009 - B 8 SO 16/08 R -, in juris). Er stellt eine Anspruchsgrundlage für die von einem rechtswidrigen Verwaltungsakt Betroffenen dar und vermittelt hiermit einen Anspruch auf Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes.

Die Anwendung des § 44 SGB X ist auf rechtswidrige Verwaltungsakte beschränkt. Dies ist anhand einer „rückschauenden Betrachtungsweise der Sach- und Rechtslage bei Erlass des zu überprüfenden Verwaltungsakts, bewertet aus heutiger Sicht“ zu beurteilen (vgl. BSG, Urteil vom 26. Oktober 2017 - B 2 U 6/16 R -, in juris, dort Rn. 17). Von einem unrichtigen Sachverhalt ist ausgegangen worden, wenn sich der Sachverhalt, auf den die Behörde ihre Entscheidung gestützt hat, zu einem späteren Zeitpunkt als unrichtig erweist. Von der Alternative der unrichtigen Rechtsanwendung werden sämtliche Rechtsverstöße beim Erlass des Verwaltungsakts erfasst.

Die Beklagte ist bei Erlass des Bescheides vom 21. Juni 2013 jedoch weder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen, noch hat sie das Recht unrichtig angewandt. Sie hat zu Recht den geltend gemachten Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt.

Nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der ab dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20.04.2007 (BGBl. I, 554) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI) oder Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI), wenn sie voll- bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3).

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind hierbei bezogen auf den Leistungsfall, den Eintritt der Erwerbsminderung zu bestimmen. Mit dem Erfordernis, dass binnen der letzten fünf Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre mit Pflichtbeiträgen belegt sein müssen (§§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI), wird gewährleistet, dass eine Berechtigung zum Bezug einer Erwerbsminderungsrente nur bei einem (fort-) bestehenden Bezug zum Erwerbsleben beansprucht werden kann. Dieser Bezug wird durch das Erfordernis der Drei-Fünftel- Belegung dem Grunde nach für zwei Jahre aufrechterhalten. Hierdurch wird sichergestellt, dass nur solche Versicherte in den Genuss einer Rente wegen Erwerbsminderung kommen, bei denen wesentlich aufgrund der krankheits- oder behinderungsbedingten Einschränkungen tatsächlich die Möglichkeit beschränkt wird, Erwerbseinkommen zu erzielen. Entscheidend ist, ob die Drei-Fünftel-Belegung zu dem Zeitpunkt vorgelegen hat, zu dem die betreffenden Erkrankungen das zur Erwerbsminderung führende Ausmaß an funktionellen Beeinträchtigungen hervorgerufen haben (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003 - B 5 RJ 64/02 R -, in juris, dort Rn. 30).

Die Klägerin hat zwar die allgemeine Wartezeit für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung von fünf Jahren (vgl. § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI) erfüllt, indes ist das Erfordernis, dass in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre mit Pflichtbeiträgen belegt sein müssen, bezogen auf die Antragstellung im April 2013 nicht erfüllt. Im insofern maßgeblichen Fünf-Jahres- Zeitraum vom 19. April 2008 – 18. April 2013 weist der Versicherungsverlauf der Klägerin lediglich 21 Monate mit Pflichtbeiträgen auf (September – Dezember 2009, Januar 2010 und September – Dezember 2010, Januar – Mai 2011, Oktober – Dezember 2012 und Januar – April 2013). Nur bei einem Eintritt der Erwerbsminderung bis spätestens am 1. Juli 2010 sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der begehrten Erwerbsminderungsrente erfüllt.

Davon, dass die Beklagte in ihrem Bescheid vom 21. Juni 2013 das Bestehen einer Erwerbsminderung zu diesem Zeitpunkt, dem 1. Juli 2010, zu Unrecht verneint hat, weil sie, die Beklagte, von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist bzw. das Recht unrichtig angewandt hat, ist der Senat jedoch nicht überzeugt.

Die Beklagte hatte aufgrund des Rentenantrags der Klägerin das Gutachten des L1 erstellen lassen. Dieser ist unter dem 19. Juni 2013 zu der Einschätzung gelangt, dass die Klägerin in der Lage sei, eine leichte Tätigkeit in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich und mehr verrichten zu können. Die von L1 erhobenen psychopathologischen Befunde tragen diese Einschätzung, weil dieser keine gravierende Einschränkung einer psychischen Dimension beschrieben hat. So hat L1 ausgeführt, dass die Klägerin in allen Qualitäten voll orientiert gewesen sei, keine Störungen des formalen und inhaltlichen Denkens, der Konzentration oder der Merkfähigkeit zu verzeichnen gewesen seien und keine Zeichen einer depressiven Verstimmung oder einer Antriebsstörung zu Tage getreten seien. L1 hat mithin bereits keine befundgestützten funktionellen Auswirkungen der psychischen Erkrankung auf das Fähigkeitsprofil der Klägerin, insb. im Hinblick auf Struktur, Teilhabe und Aktivität beschrieben, weswegen seine Leistungseinschätzung auch für den Senat nachvollziehbar und schlüssig ist. Die Leistungseinschätzung beansprucht auch unter Berücksichtigung der oben beschriebenen rückschauenden Betrachtungsweise weiterhin Gültigkeit. Weder in den schriftlichen Aussagen der behandelnden Ärzte der Klägerin noch in dem Sachverständigengutachten des W1 sind psychopathologische Befunde niedergelegt, die eine Erwerbsminderung spätestens zum 1. Juli 2010 zu begründen vermögen. Sowohl H1, als auch H2 haben bekundet, die Klägerin erst seit 2011 zu behandeln. Befunde, die eine bereits zum 1. Juli 2010 bestehende quantitative Leistungseinschränkung belegen könnten, haben sie auch im Übrigen nicht mitgeteilt. H1 hat vielmehr ausdrücklich ausgeführt, dass wegen der nicht durchgängigen Behandlung ein Leistungsvermögen von weniger als sechs Stunden täglich nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei. Nachdem auch im Rehabilitationsentlassungsbericht der Z1-Klinik vom 26. Mai 2011, aus der die Klägerin mit einem zeitlich uneingeschränkten Leistungsvermögen entlassen worden ist, keine gravierenden psychopathologischen Befunde wiedergegeben sind, liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beklagte bei Erlass des Bescheides vom 21. Juni 2013 von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, als sie die Frage der Erwerbsminderung der Klägerin verneint hat. Da auch nicht ersichtlich ist, dass die Beklagte das Recht unrichtig angewandt hat, hat es die Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 20. Mai 2020 (Widerspruchsbescheid vom 10. September 2020) zu Recht abgelehnt, den Bescheid vom 21. Juni 2013 nach § 44 SGB X zurückzunehmen.

Das SG hat die Klage daher zu Recht abgelehnt, weswegen die Berufung zurückzuweisen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt im Rahmen der anzustellenden gerichtlichen Ermessensentscheidung (vgl. BSG, Beschluss vom 25. Mai 1957 - 6 RKa 16/54 -, in juris, dort Rn. 8), dass die Klägerin auch in der Rechtsmittelinstanz mit ihrem Begehren nicht durchgedrungen ist und die Beklagte (bspw. durch eine unrichtige Begründung des angefochtenen Verwaltungsakts) keine Veranlassung für die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens gegeben hat.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.


 

Rechtskraft
Aus
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