L 13 SB 102/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 132 SB 1497/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 102/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. April 2019 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahrens nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Klägerin wendet sich gegen die Herabsetzung des bei ihr festgestellten Grades der Behinderung (GdB).

 

Im Juni 2007 wurden bei der 1951 geborenen Klägerin nach einem Adenokarzinom der Uterusschleimhaut eine Hysterektomie und eine Darmresektion durchgeführt. Auf ihren Antrag stellte der Beklagte mit Bescheid vom 3. September 2007 bei ihr für die Erkrankung der Gebärmutter in Heilungsbewährung, Verlust der Gebärmutter und beider Eierstöcke sowie Teilverlust des Dickdarms einen Gesamt-GdB von 100 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G fest.

 

Die Herabsetzung des Gesamt-GdB auf 60 und die Entziehung des Merkzeichens G durch Bescheid vom 10. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2012 hob der Beklagte mit Ausführungsbescheid vom 20. Mai 2015 auf.

 

Nach Anhörung der Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 15. Oktober 2015, der am folgenden Tag zur Post aufgegeben wurde, jeweils mit Wirkung ab dem 19. Oktober 2015, fest, dass der Gesamt-GdB nur noch 50 beträgt und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht mehr vorliegen. Den Widerspruch der Klägerin wies er mit Widerspruchsbescheid vom 9. August 2016 zurück, wobei er die Bescheide vom 3. September 2007, vom 10. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2012 und vom 20. Mai 2016 (gemeint ist offensichtlich der Ausführungsbescheid vom 20. Mai 2015) aufhob. Der Beklagte ging zuletzt von folgenden Gesundheitsbeeinträchtigungen aus:

 

  1. Teilverlust des Dickdarmes (Einzel-GdB von 30),
  2. Depression, psychosomatische Störungen, außergewöhnliche Schmerzreaktion, psychische Störung (Einzel-GdB von 30),
  3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderung der Wirbelsäule, muskuläre Verspannungen, Muskelreizerscheinungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen, Wirbelsäulenverformung (Einzel-GdB von 30),
  4. Kunstgelenkersatz der Hüfte rechts (Einzel-GdB von 10).

 

Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat sich die Klägerin gegen die Entscheidung des Beklagten gewandt. Neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte hat das Sozialgericht das Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Chirurgie Dr. T vom 5. Oktober 2018 mit ergänzender Stellungnahme vom 12. Dezember 2018 eingeholt, der den Gesamt-GdB bei der Klägerin mit 50 eingeschätzt und die Voraussetzungen für das Merkzeichen G verneint hat. Hierbei hat der Sachverständige die von ihm ermittelten Gesundheitsstörungen bei der Klägerin wie folgt bewertet:

 

  1. Lendenwirbelsäulensyndrom, Bandscheibenextrusionen und -protrusionen, Brustwirbelsäulensyndrom (Einzel-GdB von 20),
  2. chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren, Anpassungsstörung, depressive Erkrankung (Einzel-GdB von 30),
  3. Zustand nach Entfernung der Gebärmutter bei Karzinom 2006; insuffiziente Bauchdecke (Einzel-GdB von 30),
  4. Zustand nach Implantation einer Hüfttotalendoprothese rechts, beginnender Hüftgelenkverschleiß links (Einzel-GdB von 10 bis 20).

 

Mit Gerichtsbescheid vom 26. April 2019 hat das Sozialgericht Berlin die Klage gegen die mit Wirkung ab 19. Oktober 2015 verfügte Herabsetzung des Gesamt-GdB und Entziehung des Merkzeichens G abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Gesamt-GdB sei mit 50 angemessen bewertet. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen G lägen nicht mehr vor. Den Widerspruchsbescheid vom 9. August 2016 hat das Sozialgericht insoweit aufgehoben, als darin die Aufhebung der vorausgehenden Bescheide hinsichtlich des Zeitraumes vor dem 19. Oktober 2015 verfügt wurde.

 

Mit der Berufung gegen diese Entscheidung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

 

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Sachverständigengutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Sch vom 9. Juli 2021, der nach Untersuchung der Klägerin für den Zeitraum von Oktober 2015 bis August 2016 den Gesamt-GdB mit 50 bewertet und die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens G verneint hat. Hierbei ist der Sachverständige von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen ausgegangen:

 

  1. bösartige Gewebeneubildung der Gebärmutter mit operativer Versorgung 2006, Teilverlust des Dickdarms, Verwachsungsbeschwerden, Narbenbruch der Bauchwand mit operativer Versorgung, Nahrungsmittelunverträglichkeit / Allergie (Einzel-GdB von 30),
  2. Depression, chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren (Einzel-GdB von 30),
  3. Verschleiß der Wirbelsäule, Bandscheibenleiden, Nervenreizungen, Verengung des Rückenmarkkanals in Höhe der Lendenwirbelsäule (Einzel-GdB von 30),
  4. Hüftgelenkersatz rechts, Hüftgelenkverschleiß links (Einzel-GdB von 10).

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. April 2019 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 15. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. August 2016 in Gänze aufzuheben.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

 

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 
Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

 

1. Die Herabsetzung des GdB auf 50 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

 

Rechtsgrundlage für einen Absenkungsbescheid ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dem Erlass dieses Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im hier zu entscheidenden Fall handelt es sich bei dem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung um den Bescheid vom 3. September 2007, mit dem bei der Klägerin ein Gesamt-GdB von 100 festgesetzt worden war. In den tatsächlichen Verhältnissen, die bei dem Erlass dieses Verwaltungsakts vorgelegen hatten, trat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten eine wesentliche Änderung ein, die eine Herabsetzung des Gesamt-GdB auf 50 rechtfertigte.

 

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX) sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) heranzuziehen.

 

Im Funktionssystem der weiblichen Geschlechtsorgane betrug während des maßgeblichen Zeitraumes von Oktober 2015 bis August 2016 der Einzel-GdB 0, da die Heilungsbewährung nach Entfernung des malignen Gebärmuttertumors abgelaufen war. Für den Verlust der Gebärmutter ist nach B 14.2 VMG ein GdB von 0 vorgesehen.

 

Die Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin im Funktionssystem der Verdauung waren mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Nach den gutachterlichen Feststellungen litt die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum unter einem Teilverlust des Dickdarms, Verwachsungsbeschwerden und einer Nahrungsmittelunverträglichkeit. Für die Darmteilresektion war ein GdB von 20 anzusetzen, da es sich um chronische Darmstörungen mit stärkeren und häufig rezidivierenden bzw. anhalten Symptomen im Sinne von B 10.2.2 VMG handelte. Vorliegend kommt ein höherer GdB als 20 nicht in Betracht, da keine erhebliche Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes vorlag. Vielmehr hat die Klägerin ihren Angaben zufolge an Gewicht zugenommen. Im Hinblick darauf, dass die Klägerin sich wegen der Bauchfellverwachsungen mehreren Operationen unterziehen musste, ist nach Überzeugung des Senats unter Heranziehung des Bewertungsmaßstabs in B 10.2.3 VMG hierfür ein GdB von 30 angemessen. Die Nahrungsmittelunverträglichkeit bedingte unter Berücksichtigung der Vermeidbarkeit der Allergene (vgl. B 10.2. VMG) einen GdB von 10. Der Senat ist, den überzeugenden Darlegungen beider Sachverständigen folgend, zu der Überzeugung gelangt, dass für die genannten Gesundheitsstörungen im Funktionssystem der Verdauung ein Einzel-GdB von 30 zu vergeben war. Die bei der Klägerin festgestellten Leberzysten heben diesen Einzel-GdB nicht an. Nach B 10.3 VMG wird der GdB für Krankheiten der Leber durch die Art und Schwere der Organveränderungen sowie der Funktionseinbußen, durch das Ausmaß der Beschwerden, die Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes und die Notwendigkeit einer besonderen Kostform bestimmt. Funktionseinschränkungen infolge der Leberzysten wurden in den vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht beschrieben. Ein metastasensuspekter Befund wurde nicht erhoben.

 

Der Bauchnabelbruch bei der Klägerin bedingte nach B 11.2 VMG mangels Passagestörungen und häufig rezidivierenden Ileuserscheinungen einen Einzel-GdB von 20.

 

Die Wirbelsäulenschäden bei der KIägerin mit Bandscheibenextrusionen und -protrusionen, Nervenreizungen, Verengung des Rückenmarkkanals in Höhe der Lendenwirbelsäule waren mit einem Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen. Der Senat folgt hierbei nicht dem Gutachter Dr. T, der einen Einzel-GdB von lediglich 20 vorgeschlagen hat. Unter Berücksichtigung der in B 18.9 VMG aufgestellten Bewertungsmaßstäbe hält es der Senat insbesondere im Hinblick auf die von dem Sachverständigen Dr. Sch beschriebenen therapieresistenten Beschwerden und Schmerzen für gerechtfertigt, einen Einzel-GdB von 30 anzusetzen.

 

Im Funktionssystem der unteren Extremitäten betrug der Einzel-GdB 10. Hierbei war die einseitige Endoprothese des rechten Hüftgelenks nach B 18.12 VMG mit einem GdB von 10 zu berücksichtigen. Im maßgeblichen Zeitraum war der beginnende Verschleiß des linken Hüftgelenks mit Bewegungseinschränkung geringen Grades nach B 18.14 VMG mit einem GdB von 10 zu bewerten.

 

Die psychischen Störungen der Klägerin waren mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Sie litt ausweislich der medizinischen Unterlagen an einer Depression und einem chronischen Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren. Hierbei handelte es sich um stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen), für die in B 3.7 VMG ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 vorgesehen ist. Ein höherer GdB als 30 ist für den maßgeblichen Zeitraum nicht zu rechtfertigen: Die Klägerin versorgte sich selbst, kaufte selbständig ein, führte ihren Haushalt und kochte. Sie war in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Auch konnte sie mit dem PC umgehen und Online-Banking realisieren. Zu ihrer Kindern bestand guter Kontakt. So besuchte die Klägerin 2017 ihre Tochter in Österreich. Einmal jährlich machte sie Urlaub auf Fuerteventura, wo sie unter Freunden untergebracht war.

 

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach A 3c VMG ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.

 

Der im maßgeblichen Zeitraum bestehende Einzel-GdB von 30 für die Funktionsbeeinträchtigungen der Verdauungsorgane war im Hinblick auf das Wirbelsäulenleiden und die psychischen Störungen, die jeweils einen Einzel-GdB von 30 bedingen, unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen um zwei Zehnergrade auf 50 heraufzusetzen. Der Bauchnabelbruch, der einen Einzel-GdB von 20 bedingte, wirkte sich nach A 3a ee VMG nicht erhöhend aus. Ebensowenig war eine Erhöhung im Hinblick auf die Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Extremitäten geboten. Denn von – hier nicht vorliegenden – Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung (vgl. A 3a ee VMG).

 

2. Auch die Entziehung des Merkzeichens G ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Während des maßgeblichen Zeitraumes von Oktober 2015 bis August 2016 lagen bei der Klägerin die Voraussetzungen dieses Merkzeichens nicht mehr vor.

 

Gemäß § 145 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach § 228 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX a.F. bzw. § 152 Abs. 1 und 4 SGB IX n.F.).

 

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F. bzw. § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX n.F. ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

 

Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. „doppelte Kausalität“, siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96 , SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).

 

Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 13 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen „G“ unverändert aus den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) Rechnung getragen, indem er in § 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).

 

Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat – über die genannten Regelbeispiele hinausgehend – vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

 

Gemessen an diesen Maßstäben war die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum nicht erheblich gehbehindert. Nach Überzeugung des Senats war sie in der Lage, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr von 2 km in einer halben Stunde zurückzulegen. Hierbei stützt sich der Senat auf die medizinischen Feststellungen des Sachverständigen Dr. T, der auf der Grundlage der gutachterlichen Untersuchung nachvollziehbar dargelegt hat, dass der Kläger dies noch möglich war. Aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Sch ergeben sich keine Anhaltspunkte, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.

 
Rechtsmittelbelehrung und Erläuterungen zur Prozesskostenhilfe

 

 

I. Rechtsmittelbelehrung

 

Diese Entscheidung kann nur dann mit der Revision angefochten werden, wenn sie nachträglich vom Bundessozialgericht zugelassen wird. Zu diesem Zweck kann die Nichtzulassung der Revision durch das Landessozialgericht mit der Beschwerde angefochten werden.

 

Die Beschwerde ist von einem bei dem Bundessozialgericht zugelassenen Prozessbevollmächtigten innerhalb eines Monats nach Zustellung der Entscheidung schriftlich oder in elektronischer Form beim Bundessozialgericht einzulegen. Rechtsanwälte, Behörden oder juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse müssen die Beschwerde als elektronisches Dokument übermitteln (§ 65d Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Beschwerde muss bis zum Ablauf dieser Frist beim Bundessozialgericht eingegangen sein und die angefochtene Entscheidung bezeichnen.

 

Anschriften des Bundessozialgerichts:

 

bei Brief und Postkarte

34114 Kassel

 

Telefax-Nummer:

(0561) 3107475

 

bei Eilbrief, Telegramm, Paket und Päckchen

Bundessozialgericht
Graf-Bernadotte-Platz 5
34119 Kassel
 

 

Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und

 

-   von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist oder

 

-   von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 65a Abs. 4 SGG eingereicht wird.

 

Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) in der jeweils gültigen Fassung. Informationen hierzu können über das Internetportal des Bundessozialgerichts (www.bsg.bund.de) abgerufen werden.

 

Als Prozessbevollmächtigte sind nur zugelassen:

 

1.           Rechtsanwälte,

2.           Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen,

3.           selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung für ihre Mitglieder,

4.           berufsständische Vereinigungen der Landwirtschaft für ihre Mitglieder,

5.           Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,

6.           Vereinigungen, deren satzungsgemäße Aufgaben die gemeinschaftliche Interessenvertretung, die Beratung und Vertretung der Leistungsempfänger nach dem sozialen Entschädigungsrecht oder der behinderten Menschen wesentlich umfassen und die unter Berücksichtigung von Art und Umfang ihrer Tätigkeit sowie ihres Mitgliederkreises die Gewähr für eine sachkundige Prozessvertretung bieten, für ihre Mitglieder,

7.           juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in den Nrn. 3 bis 6 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.

 

Die Organisationen zu Nrn. 3 bis 7 müssen durch Personen mit Befähigung zum Richteramt handeln.

 

Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse sowie private Pflegeversicherungsunternehmen können sich durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Ein Beteiligter, der nach Maßgabe der Nrn. 1 bis 7 zur Vertretung berechtigt ist, kann sich selbst vertreten.

 

Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung von einem zugelassenen Prozessbevollmächtigten schriftlich oder in elektronischer Form zu begründen. Rechtsanwälte, Behörden oder juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse müssen die Begründung als elektronisches Dokument übermitteln (§ 65d Satz 1 SGG).

 

In der Begründung muss dargelegt werden, dass

 

-   die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder

-   die Entscheidung von einer zu bezeichnenden Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

-   ein zu bezeichnender Verfahrensmangel vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann.

 

Als Verfahrensmangel kann eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht und eine Verletzung des § 103 SGG nur gerügt werden, soweit das Landessozialgericht einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

 

 

 

 

 

II. Erläuterungen zur Prozesskostenhilfe

 

Für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision kann ein Beteiligter Prozesskostenhilfe zum Zwecke der Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragen.

 

Der Antrag kann von dem Beteiligten persönlich gestellt werden; er ist beim Bundessozialgericht schriftlich oder in elektronischer Form einzureichen oder mündlich vor dessen Geschäftsstelle zu Protokoll zu erklären. Rechtsanwälte, Behörden oder juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse müssen den Antrag als elektronisches Dokument übermitteln (§ 65d Satz 1 SGG).

 

Dem Antrag sind eine Erklärung des Beteiligten über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und Lasten) sowie entsprechende Belege beizufügen; hierzu ist der für die Abgabe der Erklärung vorgeschriebene Vordruck zu benutzen. Der Vordruck ist kostenfrei bei allen Gerichten erhältlich. Er kann auch über das Internetportal des Bundessozialgerichts (www.bsg.bund.de) heruntergeladen und ausgedruckt werden.

 

Falls die Beschwerde nicht schon durch einen zugelassenen Prozessbevollmächtigten eingelegt ist, müssen der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst den Belegen innerhalb der Frist für die Einlegung der Beschwerde beim Bundessozialgericht eingegangen sein.

 

Ist dem Beteiligten Prozesskostenhilfe bewilligt worden und macht er von seinem Recht, einen Rechtsanwalt zu wählen, keinen Gebrauch, wird auf seinen Antrag der beizuordnende Rechtsanwalt vom Bundessozialgericht ausgewählt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

III. Ergänzende Hinweise

 

Der Beschwerdeschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden. Das Bundessozialgericht bittet darüber hinaus um zwei weitere Abschriften. Dies gilt nicht im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs.

 

 

Rechtskraft
Aus
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