Ein Lungenkarzinol ist als bösartiger Tumor im Sinne von Teil B Nr. 8.4 VMG (Versorgungsmedizinische Grundsätze in der Anlage § 2 VersMedV) zu bewerten. Eine Bewertung analog 10.2.2 VMG ist nicht statthaft.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 20. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Vorliegend streiten die Beteiligten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).
Bei der 1963 geborenen Klägerin wurde ein typisches Karzinoid in der Lunge (Tumorformel: pT1c pN0 M0) festgestellt, das am 10. August 2020 operativ entfernt wurde. Karzinoide sind niedrigmaligne Tumore, die von dem neuroendokrinen System ausgehen. Ihr Tumorverhalten wird nicht durch den Ort ihrer Entstehung beeinflusst. Sie können sich im gesamten Körper aus endokrinen Zellen entwickeln. Überwiegend manifestieren sich Karzinoide im gastrointestinalen Trakt, die zweithäufigste Lokalisation ist mit 10 % die Lunge. Von Lungenkarzinomen unterscheiden sich Karzinoide durch ihre geringere Wachstumsgeschwindigkeit, ihr Wachstumsverhalten, ihr Metastasierungsverhalten, ihre Möglichkeit, Hormone zu produzieren und ihre Behandelbarkeit: In der Regel bedarf es bei bronchopulmonalen Karzinoiden keiner über die Operation hinausgehenden Behandlung wie einer Strahlen- oder Chemotherapie.
Auf den Feststellungsantrag der Klägerin vom 22. November 2020 setzte der Beklagte mit Bescheid vom 14. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. März 2021 bei ihr im Hinblick auf die Beeinträchtigung
Gewebeneubildung der Lunge in Heilungsbewährung
einen GdB von 50 mit einer Heilungsbewährung von zwei Jahren fest. Er bewertete das Lungenkarzinoid der Klägerin analog den Vorgaben für lokalisierte Darmkarzinoide in B 10.2.2 der in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) in der Fassung der Ersten Änderungsverordnung vom 1. März 2010 (BGBl. I S. 249). Hierbei bezog er sich auf die Äußerung der Arbeitsgemeinschaft der versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärztinnen und Ärzte der Länder und der Bundeswehr vom März 2011, die lautete:
Die Bewertung der hochdifferenzierten neuroendokrinen Tumoren G1 (Karzinoide) richtet sich auch bei anderen Lokalisationen nach den verbindlichen Vorgaben in der VersMedV Punkt 10.2.2.
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat die Klägerin einen GdB von 80 begehrt. Das Sozialgericht hat das Gutachten des Arztes für Innere Medizin Prof. Dr. H vom 10. Dezember 2021 eingeholt. Der Sachverständige hat sich für einen GdB von 80 ausgesprochen und hierzu ausgeführt: Ein Karzinoid sei grundsätzlich ein bösartiger Tumor, der sich durch mögliche Bildung von Tochtergeschwülsten und Rezidiven krebsähnlich verhalten könne.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 20. Mai 2022 den Beklagten verpflichtet, bei der Klägerin einen GdB von 80 ab Antragstellung am 22. November 2020 festzustellen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, die Bewertung des in der Lunge aufgetretenen Karzinoids richte sich nach B 8.4 VMG, da es sich um einen malignen Lungentumor handele. Für die Bewertung nach B 10.2.2 VMG sei kein Raum.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beklagte mit seiner Berufung. Angesichts der Unterschiede zwischen Lungentumoren im eigentlichen Sinne und Karzinoiden in der Lunge wäre eine gleichsetzende Bewertung medizinisch falsch. Er weist darauf hin, dass das Karzinoid der Klägerin – exakt so wie es war – an jeder anderen Körperstelle hätte liegen können und sich überall gleich verhalten hätte.
Der Beklagte hat ferner das an die Arbeitsgemeinschaft der versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärztinnen und Ärzte der Länder und der Bundeswehr gerichtete Schreiben der Geschäftsführung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 12. Januar 2023 vorgelegt, die in Abstimmung mit der Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Kardiologie/Pneumologie des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin ausgeführt hat, da lokalisierte bronchopulmonale Karzinoide sehr viel seltener als lokalisierte Darmkarzinoide vorkämen, seien sie wie andere seltene Gesundheitsstörungen in den VMG nicht ausdrücklich aufgeführt. In diesen Fällen sei der GdB nach B 1b VMG in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu beurteilen. Diesbezüglich liege eine Vergleichbarkeit von lokalisierten bronchopulmonalen Karzinoiden mit lokalisierten Darmkarzinoiden im Sinne von B 10.2.2 VMG vor.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 20. Mai 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.
Das Urteil des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden. Denn die Klägerin hat Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB von 80.
Die Bewertung des Lungenkarzinoids, das bei der Klägerin entfernt wurde, richtet sich nach B 8.4 VMG. Danach beträgt nach Entfernung eines malignen Lungentumors während der fünfjährigen Heilungsbewährung der GdB wenigstens 80. Der Senat hat auf der Grundlage der Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. H die Überzeugung gewonnen, dass das Lungenkarzinoid als maligner Lungentumor im Sinne von B 8.4 VMG zu verstehen ist. Nach den Darlegungen des Gutachters ist ein Karzinoid ein bösartiger Tumor, der sich durch mögliche Bildung von Tochtergeschwülsten und Rezidiven krebsähnlich verhalten kann. Der Umstand, dass sich – wie der Beklagte vorbringt – Lungenkarzinoide in medizinischer Hinsicht von Lungentumoren im eigentlichen Sinne unterscheiden, indem sie sich aus endokrinen Zellen entwickeln und deshalb potentiell im gesamten Körper auftreten können, während Lungentumore im eigentlichen Sinne sich aus Zellen entwickeln, die in der Lunge vorkommen, bildet keinen tauglichen Maßstab für die Bemessung des GdB. Entscheidend ist vielmehr das Maß für die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (vgl. Vorbemerkung vor A 1 VMG). Es ist dem Wortlaut von B 8.4 VMG nicht ansatzweise zu entnehmen, dass der Verordnunggeber die Teilhabebeeinträchtigungen des Betroffenen danach differenzierend bewerten wollte, ob ein Lungenkarzinoid oder ein Lungentumor im eigentlichen Sinne vorliegt (so auch Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 18. Juni 2021 – L 8 SB 2649/20 –, juris Rn. 41). Vielmehr spricht die Entstehungsgeschichte dieser Norm gegen eine Differenzierung. Noch unter der Geltung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) hat die Sektion „Versorgungsmedizin“ des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung auf den Tagungen vom 24. April 1985 und vom 29. bis 30. März 2000 die Auffassung vertreten, dass der GdB für Karzinoide außerhalb des Magen-Darm-Traktes analog zu den Vorgaben der AHP (Nr. 26.10, S. 76) für Darmkarzinoide zu bemessen seien. Diese Bewertung des GdB von Karzinoiden hat jedoch im Zuge der Verrechtlichung der AHP keinen Eingang in die VMG gefunden, die mit der Qualität einer Rechtsverordnung als Anlage zur VersMedV am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist.
Eine analoge Heranziehung der Bewertungsmaßstäbe für Darmkarzinoide in B 10.2.2 VMG auf Lungenkarzinoide ist rechtlich nicht zulässig. Übereinstimmend mit dem rechtsmethodischen Grundsatz, dass eine Analogie eine planwidrige Regelungslücke voraussetzt, bestimmt B 1b VMG, dass bei Gesundheitsstörungen, die in der Tabelle nicht aufgeführt sind, der GdB in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu beurteilen ist. Die Bewertung der Lungenkarzinoide ergibt sich jedoch – wie dargelegt – eindeutig aus B 8.4 VMG, so dass für eine derartige Analogie kein Platz ist (so auch Landessozialgericht Baden-Württemberg a.a.O.).
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Arbeitsgemeinschaft der versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärztinnen und Ärzte der Länder und der Bundeswehr im März 2011 die Auffassung vertreten hat, die Bewertung von Karzinoiden richte sich auch bei anderen Lokalisationen als im Darm nach den Vorgaben in B 10.2.2 VMG. Derartige Äußerungen entfalten keine verbindliche Wirkung. Die Interpretation der VMG ist vielmehr den Fachgerichten vorbehalten. Gleiches gilt für das von dem Beklagten vorgelegte Schreiben der Geschäftsführung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 12. Januar 2023. Zwar statuiert das Bundessozialgericht den Grundsatz, dass Zweifel an dem Inhalt der VMG vorzugsweise durch Nachfrage bei dem verantwortlichen Urheber, dem "Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin" bzw. dem für diesen geschäftsführend tätigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales, zu klären sind (siehe Urteile vom 2. Dezember 2010 – B 9 SB 3/09 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 12, juris Rn. 14, – B 9 SB 4/10 R –, juris Rn. 20, und – B 9 VH 2/10 B –, juris Rn. 21, sowie vom 25. Oktober 2012 – B 9 SB 2/12 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 16, juris Rn. 27, und vom 17. April 2013 – B 9 SB 3/12 R –, juris Rn. 41). Jedoch bestehen hinsichtlich der Auslegung der VMG vorliegend keine Zweifel. Im Übrigen ist die Geschäftsführung nicht kraft gesetzlicher Delegation zu einer verbindlichen Interpretation der VMG ermächtigt.
Die Bewertung des GdB mit 80 ist, da sie sich innerhalb des von B 8.4 VMG eröffneten GdB-Rahmens von 80 bis 100 hält, nicht zu beanstanden. Einen höheren GdB als 80 macht die Klägerin nicht geltend.
Nach B 8.4 VMG ist nach der Operation der Klägerin am 10. August 2020 in den ersten fünf Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht