Auf die Erinnerung der Beklagten wird der Kostenfestsetzungsbeschluss der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle vom 11.10.2022 geändert. Die von der Beklagten an den Kläger zu erstattenden Kosten werden auf 571,20 Euro festgesetzt.
Kosten sind im Erinnerungsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
Die Antragsgegnerin wendet sich mit ihrer Erinnerung gegen die Höhe der Verfahrensgebühr im Ausgangsverfahren.
Die Erinnerung ist zulässig und im Wesentlichen begründet.
Dem Antragsteller steht nur eine Verfahrensgebühr der Nr. 3102 VV RVG in Höhe von 460,- Euro (statt der von der Urkundsbeamtin angesetzten Höchstgebühr von 660,00 Euro) zu. Die Antragsgegnerin hat nur eine Gebührenhöhe von 440,- Euro für angemessen gehalten.
Die Höhe der bei Durchführung eines sozialgerichtlichen Verfahrens anfallenden Gebühr bestimmt sich grundsätzlich nach dem für die anwaltliche Tätigkeit im Verfahren vor den Sozialgerichten vorgesehenen Gebührenrahmen (§ 3 Abs. 1 RVG). Gemäß Nr. 3102 VV RVG (i.d.F. ab dem 01.01.2021) umfasst die Verfahrensgebühr einen Betragsrahmen von 60,00 Euro bis 6600,00 Euro; die Mittelgebühr beträgt 360,00 Euro. Innerhalb dieses Gebührenrahmens bestimmt der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen; ferner ist nach § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG bei Verfahren, auf die Betragsrahmengebühren anzuwenden sind, ein etwaiges besonderes Haftungsrisiko zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber hat dem Rechtsanwalt hiermit ein Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht eingeräumt, das mit der Pflicht zur Berücksichtigung jedenfalls der in § 14 RVG genannten Kriterien verbunden ist.
Gemessen an diesen Maßstäben des § 14 RVG hält das Gericht im vorliegenden Falle nur eine Verfahrensgebühr in Höhe von 460,00 Euro für angemessen. Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens war ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Antragsgegnerin als gesetzliche Krankenkasse mit dem Ziel, für den Antragsteller mit sofortiger Wirkung im Wege der einstweiligen Anordnung die Kosten der regelmäßigen extrakorporalen Lipid-Apherese-Therapie zu übernehmen. Die Antragsgegnerin hatte dies nach einem Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD) mit Bescheid vom 02.06.2022 abgelehnt, obwohl die Apherese-Kommission der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachen einen entsprechenden Antrag der den Antragsteller behandelnden Nephrologen im Mai 2022 befürwortet hatte. Der Antragsteller hatte hiergegen Widerspruch erhoben und machte geltend, bei ihm liege ein Fall der einschlägigen Richtlinie MVV-RL Anlage I vor. Er befinde sich ohne die streitgegenständliche Therapie in lebensbedrohtem Zustand und sei nicht in der Lage, die Kosten der Behandlung selbst zu tragen. Die 46. Kammer hat die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 19.08.2022 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller unter dem Vorbehalt der Bestandskraft des Bescheides vom 02.06.2022, längstens jedoch bis zum 28.06.2023, mit einer extrakorporalen Lipid-Apherese zu versorgen.
Ausgehend hiervon ist in Anwendung der Maßstäbe des § 14 RVG festzustellen, dass die Angelegenheit für den Antragsteller von herausragender Bedeutung war. Seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse hat er im Ausgangsverfahren mit einer Rente in Höhe von ca. 960,- Euro, einer Betriebsrente in Höhe von ca. 150,- Euro und einem Gehalt (in der Firma seiner Ehefrau) ihn Höhe von ca. 1.851,- Euro angegeben, wobei unklar geblieben ist, ob es sich um Netto- oder Bruttobeträge handelt. Zudem existiert eine selbstgenutzte Immobilie, in der sich auch der Installateur- und Heizungsbaubetrieb der Ehefrau des Antragstellers befindet, der nach seinen damaligen Angaben aufgrund der aktuellen politischen Situation und der Corona-Pandemie wenig abwerfe; Sparvermögen sei nicht vorhanden. Die Kammer geht bei diesen Angaben davon aus, dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers zumindest durchschnittlich, eher leicht überdurchschnittlich sind. Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit im Ausgangsverfahren bewertet die Kammer als allenfalls leicht überdurchschnittlich. Den Umfang der anwaltlichen Tätigkeit hält die Kammer für eher unterdurchschnittlich: Es handelte sich beim Ausgangsverfahren um ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, das nur ca. sieben Wochen gedauert hat und damit mit der Dauer eines durchschnittlichen sozialgerichtlichen Klageverfahrens nicht zu vergleichen ist. Die wesentliche anwaltliche Tätigkeit bestand in der Abfassung der zweiseitigen Antragsbegründung plus Vorblatt (28.06.2022), zwei weiteren max. zweiseitigen Stellungnahmen vom 11.07.2022 und 22.07.2022 zu Stellungnahmen der Gegenseite und einer halbseitigen Sachstandsanfrage vom 18.08.2022.
Unter Berücksichtigung aller Kriterien des § 14 RVG wird daher eine etwas überdurchschnittliche Verfahrensgebühr in Höhe von 460,- Euro für das Ausgangsverfahren für angemessen erachtet.
Soweit die Urkundsbeamtin im angegriffenen Kostenfestsetzungsbeschluss unter Hinweis auf die sogenannte „Kompensationstheorie“ die Höchstgebühr in Höhe von 660,- Euro angesetzt hat, vermag die Kammer sich dieser Bewertung dagegen nicht anzuschließen. Die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers hat zur Begründung ihres Gebührenansatzes darauf verwiesen, dass es im Ausgangsverfahren um eine existentielle Notlage im Sinne einer Lebensbedrohung des Antragstellers gehe, und hat zum Ansatz der Höchstgebühr auf die Kommentierung von Gerold/Schmidt/Mayer zum RVG, 24. Aufl. 2019, § 14 Rn. 11 verwiesen. Diese Kommentierung beschreibt allerdings als „Kompensationstheorie“ zunächst nur, wenn ein einziger Umstand im Sinne des § 14 RVG ein Abweichen von der Mittelgebühr rechtfertigen könne, dann könne das geringere Gewicht eines Bemessungsmerkmals das überragende Gewicht eines anderen Merkmals kompensieren. Das entspricht den Vorgaben des § 14 Abs. 1 RVG und der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung. So können z.B. die erheblich unterdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse eines Klägers in Grundsicherungsangelegenheiten (SGB II / SGB XII) in der Regel durch die hohe Bedeutung der Angelegenheit für den Grundsicherungsempfänger kompensiert werden. Dies bedeutet jedoch aus Sicht der Kammer gerade nicht, dass das sehr hohe Gewicht eines Bemessungskriteriums des § 14 Abs. 1 RVG alle anderen Bemessungskriterien derart in den Schatten stellt, dass diese von vornherein nicht mehr zu prüfen wären. Soweit die o. g. Kommentierung daher ausführt, umgekehrt könne ein im Einzelfall besonders ins Gewicht fallendes Kriterium die Relevanz der anderen Umstände „kompensierend zurückdrängen“, erschließt sich der Kammer nicht, welche rechtliche Grundlage eine solche „Kompensation“, die einer Nichtberücksichtigung gleichkommt, haben sollte. Die Kommentierung verweist hierzu ausschließlich auf eine Entscheidung des OLG Köln (NStZ-RR 2011, 360). Jedoch hält es auch das OLG Köln in diesem Beschluss vom 13.07.2011 (Az. III-2 Ws 281/11, 2 Ws 281/11, juris) grundsätzlich für erforderlich, im Rahmen des § 14 RVG alle Kriterien miteinander abzuwägen. Zwar könne, so das OLG Köln (a.a.O., Rn. 12), ein Bestimmungsmerkmal des § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG ein solches Übergewicht erhalten, dass es bereits für sich genommen den Ansatz der Höchstgebühr zu rechtfertigen vermöge; auch nach Auffassung des OLG Köln muss eine solche Betrachtungsweise jedoch Extremfällen vorbehalten bleiben, die es im konkret entschiedenen Falle (Vertretung des Sohnes der Getöteten als Nebenkläger in einem Verfahren wegen Mord und Totschlag) selbst verneint hat.
Aus Sicht der Kammer kann offen bleiben, ob überhaupt Fälle denkbar sind, in denen das überragende Gewicht eines Bemessungskriteriums des § 14 RVG alle anderen Kriterien derart überragt, dass es allein schon den Ansatz der Höchstgebühr rechtfertigt. Jedenfalls bietet das Ausgangsverfahren nach Auffassung der Kammer keinen hinreichenden Anlass, von einem solchen überragenden Gewicht eines einzigen Bemessungskriteriums auszugehen und insbesondere die Schwierigkeit und den Umfang der anwaltlichen Tätigkeit im Ausgangsverfahren von vornherein unberücksichtigt zu lassen. Es erscheint weder sachgerecht noch angesichts des Wortlauts des § 14 RVG vom Gesetzgeber gewollt, nur auf die Bedeutung der Angelegenheit für den Auftraggeber abzustellen und bei einer besonders hohen Bedeutung alle anderen Umstände, die für eine niedrigere Vergütung sprechen könnten, auszublenden. Bei Rahmengebühren sollen vielmehr auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Auftraggebers sowie Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit durchaus berücksichtigt werden.
Nach Vorstehendem ergibt sich folgende Vergütung im Ausgangsverfahren:
Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV RVG: 460,00 €
Post- und Telekomm.pauschale Nr. 7002 VV RVG 20,00 €
Zwischensumme: 480,00 €
19 % Umsatzsteuer: 91,20 €
Summe: 571,20 €
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 197 Abs. 2 SGG).