Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 10. Dezember 2019 wird als unzulässig verworfen.
Der Kläger hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten steht die Erstattung von Kosten der dem Hilfeempfänger K1 (genannt J1) W1 (zukünftig nur J.W.) gewährten Eingliederungshilfe für die Zeit ab dem 1. August 2018 im Streit.
J.W. erlitt im Säuglingsalter durch ein Schüttel-Trauma eine schwere Hirnverletzung und leidet an einer geistigen und seelischen Behinderung mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Bei ihm wurde ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen G, B und H festgestellt. J.W. erhält Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung in Pflegegrad 2.
2001 wurde J.W. durch das Jugendamt des Klägers in Obhut genommen und in eine Pflegefamilie im Zuständigkeitsbezirk der Beklagten vermittelt. Die entsprechende Hilfe nach § 33 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) wurde zum 1. August 2018 (Eintritt der Volljährigkeit) beendet. Zugleich lehnte das Jugendamt der Beklagten eine anschließende Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) ab und leitete den entsprechenden Antrag zuständigkeitshalber an das Jugendamt des Klägers weiter (Schreiben vom 3. August 2018, Bl. 87 d. Verwaltungsakte d. Kl.). Bis zum Eintritt der Volljährigkeit leistete das Jugendamt des Klägers wegen des Herkunftsortes der leiblichen Mutter von J.W. an das Jugendamt der Beklagten Kostenerstattung. Zusätzlich erhielt J.W. – im Hinblick auf seinen Herkunftsort – von dem Kläger im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) Hilfe zur angemessenen Schulbildung (Besuch eines sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrums).
Mit Schreiben vom 4. Juni 2018 (Eingang beim Kläger am 13. Juni 2018, Bl. 1 d. Verwaltungsakte d. Kl.) teilte J.W. dem Sozialamt des Klägers mit, dass seine Unterbringung in der bisherigen Pflegefamilie fortgesetzt werden solle. Deshalb beantrage er im Rahmen der Sozialhilfe bei dem Kläger Eingliederungshilfe und Grundsicherung.
Mit Schreiben vom 14. August 2018 (Bl. 111 d. Verwaltungsakte d. Kl.) leitete das Sozialamt des Klägers den Antrag an das Sozialamt der Beklagten weiter und teilte ergänzend mit, die Pflegeeltern bzw. Betreuer von J.W. hätten im Rahmen eines persönlichen Gesprächs am 27. Juli 2018 mitgeteilt, sie wünschten im Rahmen der Eingliederungshilfe ein Persönliches Budget, welches die Bereiche „Freizeit und allgemeine Betreuungsleistungen“ umfassen solle. Die „Vereinbarung zum Herkunftsprinzip“ sei aus Sicht des Klägers nicht anwendbar, da es sich „ohne einen Träger“ nicht um eine „Ersatzleistung“ für ein „Betreutes Wohnen in Familien“ handele. Vor diesem Hintergrund scheide eine Zuständigkeit des Klägers auf Basis von § 98 Abs. 5 SGB XII aus. Auch § 98 Abs. 2 SGB XII sei im Hinblick auf § 107 SGB XII nach Auffassung des Klägers nicht anwendbar, da J.W. mit Eintritt der Volljährigkeit im Zuständigkeitsbereich der Beklagten einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet habe. Vor diesem Hintergrund sehe der Kläger nunmehr die Beklagte als den zuständigen Sozialhilfeträger an (§ 98 Abs. 1 SGB XII) und bitte um Mitteilung, ob diese bereit sei, den Hilfefall übernehmen. Vorsorglich werde Kostenersatz angemeldet, falls der Kläger bis zur Entscheidung der Beklagten in Vorleistung treten sollte.
Mit Schreiben vom 19. September 2018 (Bl. 129 d. Verwaltungsakte d. Kl.) trat das Sozialamt der Beklagten dem Schreiben des Klägers vom 14. August 2018 entgegen: Die Beklagte gehe davon aus, dass ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit mit Eintritt der Volljährigkeit nicht eingetreten sei, denn J.W. lebe weiterhin in einer „betreuten Wohnform“. Dies habe zur Konsequenz, dass die örtliche Zuständigkeit unverändert an den gewöhnlichen Aufenthalt (der Mutter) vor dem erstmaligen Eintritt in diese „Wohnform“ anknüpfe. Im Übrigen habe der Kläger den Antrag vom 4. Juni 2018, welcher bei ihm am 13. Juni 2018 eingegangen sei, nicht zeitnah – innerhalb der Frist von 14 Tagen gem. § 14 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) – weitergeleitet, so dass der Kläger als erstangegangener Träger zur Bearbeitung und Entscheidung verpflichtet sei. Deshalb würden die entsprechenden Unterlagen an den Kläger zurückgegeben.
Mit Bescheid vom 22. November 2018 (Bl. 157 d. Verwaltungsakte d. Kl.) bewilligte der Kläger J.W. im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen für den Zeitraum von August 2018 bis längstens Dezember 2019 ein Persönliches Budget von 500,00 EUR monatlich. Insoweit beanspruchte der Kläger bei der Beklagten mit Schreiben vom 13. Dezember 2018 (Bl. 163 d. Verwaltungsakte d. Kl.) Kostenerstattung.
Mit Schreiben vom 12. Februar 2019 (Bl. 193 d. Verwaltungsakte d. Kl.) trat die Beklagte einer Kostenerstattung entgegen: Die Gewährung einer reinen Geldleistung in der Form eines Persönlichen Budgets ändere nichts daran, dass es sich letztlich um eine „betreute Wohnform“ handele, so dass die örtliche Zuständigkeit auf Basis von § 98 Abs. 5 SGB XII bei dem Kläger verbleibe, zumal der Kläger bei der Bescheiderteilung vom 22. November 2018 nicht kenntlich gemacht habe, dass die Leistungsbewilligung nur vorläufig ausgesprochen worden sei.
Am 8. März 2019 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben, mit welcher er die Erstattung der ab dem 1. August 2018 entstandenen Kosten der Eingliederungshilfe in Form eines Persönlichen Budgets zu Gunsten des J.W. in Höhe von monatlich 500,00 EUR und die Feststellung begehrt hat, dass die Beklagte für den Hilfefall örtlich zuständig sei.
Mit Urteil vom 10. Dezember 2019 (Bl. 31 d. SG-Akte) hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, hinsichtlich des Feststellungsbegehrens sei die Klage unzulässig. Hinsichtlich des Leistungsantrags sei die allgemeine Leistungsklage zwar zulässig, aber unbegründet. Zwar sei der Kläger nach den sozialhilferechtlichen Zuständigkeitsvorschriften des SGB XII seit dem 1. August 2018 für die von J.W. beanspruchte Eingliederungshilfe nicht (mehr) zuständig, es sei vielmehr eine Zuständigkeit der Beklagten anzunehmen. Allerdings stehe dem Kläger kein Erstattungsanspruch nach den §§ 102 ff. SGB X zu. Auch ein Erstattungsanspruch nach § 16 SGB IX komme nicht in Betracht. Dieses Prozessergebnis sei nur vordergründig befremdlich (Leistungserbringung durch einen unzuständigen Leistungsträger ohne Erstattungsanspruch), denn letztlich fielen die maßgeblichen Gründe allein wegen der unterlassenen bzw. verspäteten Zuständigkeitsprüfung und Antragsweiterleitung allein in seine Sphäre. Im Hinblick auf § 144 Abs.1 Nr. 2 SGG gehe das Gericht davon aus, dass für das Erstattungsbegehren (16 Monate, richtig: 17 Monate) eine Beschwer von 8.500,00 EUR und für das Feststellungsbegehren in Anlehnung an den gesetzlichen Regelstreitwert (§ 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz - GKG) eine Beschwer von 5.000,00 EUR gegeben sei, so dass diese in der Summe die Grenze von 10.000,00 EUR weit überschreite. Eine entsprechende Rechtsmittelbelehrung (Zulässigkeit der Berufung) war dem Urteil beigefügt.
Gegen das ihm am 18. Dezember 2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 17. Januar 2020 Berufung bei dem Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und zur Begründung sein Vorbringen aus dem Klageverfahren wiederholt und vertieft.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 10. Dezember 2019 aufzuheben, soweit es die Ablehnung der Kostenerstattung nach § 104 SGB X ab 1. August 2018 bis laufend betreffe und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die ab 1. August 2018 bis laufend entstandenen Kosten der Eingliederungshilfe in Form eines Persönlichen Budgets in Höhe von monatlich 500,00 Euro sowie die Kosten des monatlichen Schulbesuchs im SPBZ H1 Schule zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 9. März 2023 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf die Verwaltungsakten des Klägers Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist bereits unzulässig.
Nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind Urteile des Sozialgerichts grundsätzlich mit der Berufung anfechtbar. Dies gilt jedoch gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG bei einer Erstattungsstreitigkeit wie der hier vorliegenden dann nicht, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 10.000,00 EUR nicht übersteigt. Der Wert des Beschwerdegegenstandes bemisst sich dabei danach, was das Sozialgericht dem Rechtsmittelkläger versagt hat und was er davon mit seinen Berufungsanträgen weiterverfolgt (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Aufl. 2020, § 144 Rdnr. 14 m.w.N.). Dabei ist nur der Wert des Beschwerdegegenstandes maßgebend, unerheblich ist, ob der Streit wiederkehrende oder laufenden Leistungen betrifft, § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG ist nicht anwendbar (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17. Dezember 2002 - B 4 RA 39/02 R - juris; Keller, a.a.O., § 144 Rdnr. 21; Littmann in Berchtold, SGG, 5. Aufl. 2021, § 144 Rdnr. 13). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung des Werts des Beschwerdegegenstands ist derjenige der Einlegung der Berufung (BSG, Beschluss vom 8. Mai 2019 – B 14 AS 86/18 B – juris Rdnr. 3).
Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist der Wert des Beschwerdegegenstandes von 10.000,00 EUR nicht überschritten. Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens war insoweit nur die Erstattung der ab dem 1. August 2018 erbrachten Eingliederungshilfeleistungen in der Form des Persönlichen Budgets in Höhe von 500 EUR monatlich, nicht jedoch die Erstattung sämtlicher im Rahmen der Eingliederungshilfe erbrachter Aufwendungen, mithin auch nicht die Erstattung der Kosten des monatlichen Schulbesuchs. Der Klageantrag bezog sich ausdrücklich nur auf die Kosten des Persönlichen Budgets in Höhe von 500,00 EUR monatlich. Auch im Rahmen der Anmeldung des Erstattungsanspruchs mit Schreiben vom 13. Dezember 2018 gegenüber der Beklagten hat sich der Kläger nur auf den diesbezüglichen Bewilligungsbescheid vom 22. November 2018 bezogen, mit dem Leistungen in Form eines Persönlichen Budgets in Höhe von monatlich 500,00 EUR bewilligt worden waren. Selbst wenn auch das mit Bescheid vom 22. November 2019 für die Zeit vom 1. Januar 2020 bis 30. Juni 2020 bewilligte Persönliche Budget in Höhe von monatlich 500,00 EUR einbezogen wird und damit im Zeitpunkt der Berufungseinlegung am 17. Januar 2020 auch das persönliche Budget für Januar 2020 zu berücksichtigen wäre, ergibt sich ein Beschwerdewert von lediglich 9.000,00 EUR. Die Feststellungsklage hat der Kläger im Rahmen des Berufungsverfahrens nicht weiterverfolgt. Damit übersteigt der Beschwerdewert vorliegend 10.000,00 EUR nicht.
Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass nunmehr ebenfalls die Erstattung der Schulkosten begehrt wird. Ein derartiger Anspruch war nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens und kann nur in Form einer Klageerweiterung geltend gemacht werden. Eine solche ist zwar in der Berufungsinstanz noch möglich (vgl. §§ 153 Abs. 1, 99 SGG). Jedoch setzt sie voraus, dass die Berufung schon vorher zulässig war, weil nur dann das LSG in eine sachliche Prüfung der Ansprüche eintreten darf. Genauso wenig wie eine fehlende Beschwer durch eine Klageerweiterung begründet werden kann, wird eine unzulässige Berufung dadurch zulässig, dass in der Berufungsinstanz neue Ansprüche erhoben werden (vgl. BSG, Urteil vom 23. September 1961 – 7 Rar 18/61 – juris Rdnr. 6).
Ist die Berufung nicht statthaft oder aus anderen Gründen unzulässig, so ist sie als unzulässig zu verwerfen, § 158 Satz 1 SGG.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 und 3 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SO 747/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 245/20
Datum
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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