Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 28. Mai 2021 sowie der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2020 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 15. April 2020 sowie des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2020 aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.
Die Kosten des auf Antrag des Klägers erhobenen Gutachtens des L1 vom 28. Dezember 2022 werden auf die Staatskasse übernommen.
Tatbestand
Der Kläger ficht die Aufhebung einer bewilligten Verletztenrente ab 1. März 2020 aufgrund eines Unfalls vom 30. November 2010 an.
Der 1956 geborene Kläger erlitt am 30. November 2010 einen Unfall, als er während der Arbeit auf dem Betriebsgelände bei Schneefall und Glatteis stürzte. Dabei zog er sich einen knöchernen Ausriss der Extensor-carpi-ulnaris-Sehne am linken Handgelenk zu, der konservativ behandelt wurde. Am 24. Januar 2012 erfolgte eine Arthroskopie, wobei ein Riss des Discus triangularis (TFCC) geglättet wurde. Auch danach berichtete der Kläger weiter über Schmerzen im Handgelenk, welches durch eine Schiene stabilisiert wurde.
Im Auftrag der Beklagten erstellte S1 am 21. August 2014 (Untersuchung am 11. April 2014) ein handchirurgisches Gutachten. Er stellte eine eingeschränkte Beweglichkeit des linken Handgelenks fest (Streckung/Beugung 40-0-40°, Radial-/Ulnarabduktion 30-0-20°). Als Unfallfolge sah der Gutachter einen knöchernen Ausriss des Os Triquetrum der linken Hand, eine traumatische Ruptur des TFCC des linken Handgelenks (Palmer 1B) sowie einen degenerativen zentralen Discusdefekt (Palmer 2A). Die MdE schätzte er mit 20 vH ein.
Mit Bescheid vom 25. September 2014 gewährte die Beklagte aufgrund des Unfalls vom 30. November 2010 eine Rente auf unbestimmte Zeit ab dem 14. März 2011 bei einer MdE von 20 vH. Als Unfallfolgen bestünden links Bewegungseinschränkung und Belastungsschmerzen des Handgelenkes, Minderung der groben Kraft der Hand, Bewegungseinschränkung der Finger, Arthrose des Handgelenkes und des Daumensattelgelenkes nach einem knöchernen Ausriss des Dreieckbeines der Hand mit Riss des Handgelenksbandes zwischen Kahnbein und Mondbein (SL-Band) und des dreieckförmigen Faserknorpelkomplexes des Handgelenkes (TFCC).
Am 5. Februar 2018 und 22. August 2019 erfolgten Nachuntersuchungen des Klägers im O1 O2 durch den, C1. Dieser stellte folgende Bewegungsausmaße des linken Handgelenks fest: Streckung/Beugung am 5. Februar 2018 80-0-60° und am 22. August 2019 80-0-70°, Ulnar-/Radialabduktion jeweils 40-0-20°. In einer beratungsärztlichen Stellungnahme für die Beklagte vom 1. November 2019 ging F1 auf dieser Basis vom Eintritt einer wesentlichen Änderung im Sinne einer Besserung aus. Es bestehe eine nahezu seitengleiche Bewegungseinschränkung im Handgelenk. Die MdE betrage maximal 10 vH.
Bereits am 19. Mai 2016 erlitt der Kläger einen weiteren Unfall, als er beim Versuch, eine Behälterdrehvorrichtung in gebücktem Zustand zu verschieben, ausrutschte und auf die linke Schulter fiel. Mit Bescheid vom 3. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2017 erkannte die Beklagte den Unfall vom 19. Mai 2016 als Arbeitsunfall und als Folge des Unfalls eine folgenlos ausgeheilte Prellung der linken Schulter an. Hiergegen erhob der Kläger am 15. Februar 2017 Klage zum SG Freiburg (S 8 U 629/17), mit der er die Anerkennung weiterer Unfallfolgen begehrte. Das SG holte ein Gutachten bei C2 ein (MdE wegen der Schulter 10 vH) und stellte mit Urteil vom 4. Juli 2018 als weitere Folge des Unfalls vom 19. Mai 2016 die Totalruptur der Sehne des Musculus supraspinatus sowie Teilruptur der Sehne des Musculus infraspinatus fest. Hiergegen legte die Beklagte Berufung ein (L 8 U 3067/18). Im Berufungsverfahren holte der 8. Senat des LSG ein Gutachten bei W1 ein. Zu den Gesundheitsbeeinträchtigungen der linken Hand führte W1 in seinem Gutachten vom 14. Februar 2019 aus, im linken Handgelenk sei eine Beugung/Streckung von 50-0-45° und eine Radial-/Ulnarabduktion von 15-0-20° festzustellen. Mit Urteil vom 16. August 2019 wies der 8. Senat des LSG die Berufung der Beklagten zurück. Mit Bescheid vom 22. Januar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Mai 2020 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente aufgrund des Unfalls vom 19. Mai 2016 ab, da keine Unfallfolgen feststellbar seien, die eine messbare MdE rechtfertigten. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 29. Mai 2020 Klage (S 20 U 1943/20). Das SG befragte den C1 als sachverständigen Zeugen. Dieser teilte am 30. September 2020 zu den Gesundheitsbeeinträchtigungen der linken Hand einerseits mit, im Laufe der Jahre habe es (im Bereich der linken Hand) eigentlich einen gleichbleibenden Schmerzbefund gegeben, jetzt aber eine erneute Schmerzzunahme seit August 2019. Andererseits führte er aus, aufgrund der nahezu uneingeschränkten Beweglichkeit des linken Handgelenks bestehe eine MdE kleiner 10 vH. Mit rechtskräftig gewordenem Gerichtsbescheid vom 28. Mai 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Da aufgrund des Unfalls vom 19. Mai 2016 keine messbare MdE vorliege, kommt es auf die Frage, ob aufgrund des Unfalls vom 30. November 2010 ein Stützrententatbestand erfüllt sei, nicht an.
Nach vorheriger Anhörung „entzog“ die Beklagte mit Bescheid vom 22. Januar 2020 die wegen des Unfalls vom 30. November 2010 gewährte Rente ab dem 1. Februar 2020. Die Beweglichkeit im linken Handgelenk habe sich verbessert. Handbeschwielung, Muskulatur und Kraft seien nahezu seitengleich. Danach sei maximal eine MdE von 10 vH gerechtfertigt. Eine Stützrente aufgrund des weiteren Arbeitsunfalls vom 19. Mai 2016 liege nicht vor, da die Erwerbsfähigkeit aufgrund dieses Unfalls nicht um wenigstens 10 vH gemindert sei.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 17. Februar 2020 Widerspruch ein. Die Beweglichkeit im linken Handgelenk habe sich nicht verbessert.
Mit Teilabhilfebescheid vom 15. April 2020 half die Beklagte dem Widerspruch insoweit ab, als die Rente noch für Februar 2020 gewährt und die „Entziehung der Rente“ erst ab 1. März 2020 verfügt wurde. Mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 2020 wies die Beklagte den Widerspruch im Übrigen zurück. Inhaltlich stützte die Beklagte ihre Entscheidung auf § 48 SGB X. Die Befunde ergäben eine Bewegungseinschränkung im linken Handgelenk von insgesamt 50°, eine MdE von 20 vH liege hingegen erst bei einer Bewegungseinschränkung von 80° oder mehr vor.
Hiergegen hat der Kläger am 22. Juni 2020 durch seinen Prozessbevollmächtigten Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben (S 20 U 2126/20). Zur Begründung hat er vorgetragen, es sei keine Verbesserung in seinem Gesundheitszustand eingetreten. Selbst wenn sich die Beweglichkeit verbessert haben sollte, was nicht der Fall sei, sei keine Verbesserung eingetreten. Die Einschränkung der Beweglichkeit sei nicht der (alleinige) Grund für die Feststellung der MdE gewesen. Als Unfallfolge (des Unfalls vom 30. November 2010) sei der knöcherner Ausriss des Os Triqetrum und die traumatische Ruptur des TFCC im Handgelenk links festgestellt worden. Diese Unfallfolgen bestünden nach wie vor und hätten sich auch nicht verbessert.
Am 12. August 2020 hat der Sektionsleiter des O3-Klinikums W2 mitgeteilt, der Kläger habe sich aufgrund zunehmender Beschwerden vorgestellt. Insbesondere bei der Arbeit habe er Schwierigkeiten und verspüre Schmerzen im linken Handgelenk. Die Beweglichkeit in Extension und Flexion sei 30-0-30°, die Ulnar-, und Radialabduktion 20-0-10°.
Am 15. Juli 2021 hat der C1 der Beklagten mitgeteilt, der Kläger leide wieder an zunehmenden Handgelenksschmerzen links. Eine Beschwerdefreiheit sei seit dem Unfallereignis niemals erreicht worden. Die Handgelenksbeweglichkeit in Extension und Flexion sei 60-0-50°, die Ulnar-, und Radialabduktion 35-0-20°. Die Beweglichkeit sei in allen Ebenen jeweils endgradig stark schmerzhaft eingeschränkt. Gleichzeitig führte er aber aus, es bestehe eine schmerzhafte, jedoch weitgehend freie Handgelenksbeweglichkeit, so dass eine Überprüfung der MdE empfohlen werde.
Mit Gerichtsbescheid vom 28. Mai 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger habe seit dem 1. März 2020 keinen Anspruch mehr auf Gewährung einer Rente nach einer MdE von mindestens 20 vH. Die Beweglichkeit des linken Handgelenks des Klägers habe sich deutlich verbessert. Da aufgrund des Unfalls vom 30. November 2010 keine messbare MdE mehr vorliege, komme es auf die Frage, ob aufgrund des weiteren Unfalls vom 19. Mai 2016 ein Stützrententatbestand erfüllt sei, nicht an. Mit den Voraussetzungen einer Aufhebungsentscheidung nach § 48 SGB X hat sich das SG im Einzelnen nicht befasst.
Hiergegen hat der Kläger am 25. Juni 2021 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er vorgetragen, der behandelnde Arzt C1, habe zwischenzeitlich eingeräumt, dass die von ihm vorgelegte Beschreibung der Vorstellung vom 22. August 2019 nicht korrekt sei. Es sei unzulässig, darauf abzustellen, wie die MdE heute zu beurteilen sei. Vielmehr müsse der Zustand, der damals als unfallbedingt anerkannt worden sei, mit dem heutigen Zustand verglichen und geprüft werden, ob eine Verbesserung eingetreten sei. Selbst wenn sich die Beweglichkeit verbessert haben sollte, was nicht der Fall sei, sei keine relevante Verbesserung des Gesundheitszustands eingetreten. Der Kläger leide unter starken Einschränkungen bei Greif- und Haltefunktion der Hand. Die Leistungsfähigkeit definiere sich nicht allein über die Beweglichkeit, sondern vielmehr auf über die Belastbarkeit und Stärke des Handgelenks.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid Sozialgerichts Freiburg vom 28. Mai 2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2020 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 15. April 2020 sowie des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2020 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das Urteil des SG für zutreffend und hat darauf verwiesen.
Auf Antrag des Klägers gem. § 109 SGG hat der Senat ein Gutachten bei L1 eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 28. Dezember 2022 ausgeführt, die Handgelenksbeweglichkeit links in Extension und Flexion sei 40-0-40° (rechts im Vergleich 80/0/60°), die Ulnar-, und Radialabduktion 20-0-20° (rechts im Vergleich 40/0/30°). Beim Kläger bestehe in Extension und Flexion eine Einschränkung der Beweglichkeit um 70 Grad im Vergleich zur gesunden rechten Seite. Es liege auch eine Einschränkung der Radial- und Ulnar-Abduktion um 40 Grad vor, was der Hälfte der Bewegung entspreche. Zusätzlich bestehe eine posttraumatische Abnutzung des linken Handgelenkes, so dass hieraus eine MdE von 15 vH resultiere. Es lasse sich rückwirkend nicht feststellen, ob eine tatsächliche Besserung der Beweglichkeit des linken Handgelenkes nach dem Gutachten aus dem Jahr 2014 und dem Gutachten von C2 vom 3. Juli 2017 eingetreten sei. Inwieweit die vom behandelnden C1 in seinem Bericht vom 30. September 2020 (mitgeteilten Bewegungsmaße) zuverlässig seien, vermöge er nicht zu beurteilen. Es falle nur auf, dass die Extension immer als sehr gut angegeben werde, obwohl mehrere Gutachter bzw. Untersucher zur gleichen Zeit schlechtere Werte gemessen hätten.
Die Beklagte hat zu diesem Gutachten eine Stellungnahme ihres F1 vorgelegt, der ausgeführt hat, er halte eine MdE 15 vH „für relativ hoch eingeschätzt“. Diese spiegele aus seiner Sicht die Funktionseinschränkungen nicht korrekt wieder. Verglichen mit den Normwerten (und nicht mit der rechten Hand) zeigten sich nur geringere Einschränkungen. Er gehe von einer MdE kleiner als 10 vH aus.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist statthaft, zulässig (§§ 105 Abs. 2, 143 f, § 151 SGG) und in der Sache begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2020 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 15. April 2020 sowie des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der Verletztenrente ab dem 1. März 2020 lagen nicht vor.
Die Klage ist als reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 SGG) zulässig. Denn bei einem Erfolg lebt der frühere Bescheid - hier derjenige vom 25. September 2014 - wieder auf (vgl. BSG, Urteil vom 13. Februar 2013 - B 2 U 25/11 R -, Rn. 10, juris). Mit der Aufhebung der angefochtenen Bescheide ist die Beschwer des Klägers beseitigt und die Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH ist über den 1. März 2020 hinaus zu zahlen.
Die Klage ist in der Sache begründet.
1.)
Die angefochtene Entscheidung ist zunächst formell rechtmäßig. Aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit ist es im Falle eines Aufhebungsbescheides nach § 48 Abs. 1 SGB X grundsätzlich erforderlich, in der Aufhebungsentscheidung den aufzuhebenden Verwaltungsakt und den Umfang der Aufhebung zu bezeichnen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 1. November 2011 - L 9 AS 831/10 -, Rn. 40; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Juni 2013 - L 6 VK 3112/10 -, Rn. 27 f. jeweils juris). Diesen Anforderungen genügt der streitgegenständliche Bescheid vom 22. Januar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2020. Die Beklagte hat sowohl den (teilweise aufgehobenen) Bescheid vom 25. September 2014 als auch das Datum des Beginns der Aufhebung (zunächst ab 1. Februar 2020 und dann mit Teilabhilfebescheid vom 15. April 2020 ab 1. März 2020) konkret und unmissverständlich bezeichnet. Dass sie dabei die in der Sache verfügte Aufhebung (gem. § 48 SGB X) der erfolgten Rentenbewilligung als „Bescheid über Entziehung einer Rente“ und nicht als „Aufhebung“ bezeichnet hat, berührt die Bestimmtheit der Entscheidung nicht.
2.)
Als Rechtsgrundlage für die angefochtene Entscheidung der Beklagten kommt ausschließlich § 48 SGB X in Betracht. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Hierbei ist die Sonderregelung in § 73 Abs. 3 SGB VII zu berücksichtigen. Danach ist bei der Feststellung der MdE eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 vH beträgt. Bei einer Rente auf unbestimmte Zeit muss die Veränderung der MdE länger als drei Monate andauern.
Der Verwaltungsakt vom 25. September 2014 unterliegt der Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, denn er ist ein solcher mit Dauerwirkung. Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn eine durch Verwaltungsakt getroffene Regelung in rechtlicher Hinsicht über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe hinaus Wirkungen erzeugt. Da die Beklagte dem Kläger mit dem genannten Bescheid eine Rente auf unbestimmte Zeit ab dem 14. März 2011 bei einer MdE von 20 vH bewilligt hat, hat er Dauerwirkung.
Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist jede Änderung des für die getroffene Regelung relevanten Sachverhalts, im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung insbesondere Änderungen im Gesundheitszustand des Betroffenen (BSG, Urteil vom 13. Februar 2013 - B 2 U 25/11 R -, NZS 2013, 464, juris Rn. 15). Ob eine Änderung eingetreten ist, ist durch Vergleich der tatsächlichen Verhältnisse zu zwei maßgeblichen Zeitpunkten zu ermitteln. Zunächst ist Vergleichsgrundlage der Zustand, der der letzten verbindlichen Leistungsfeststellung zugrunde lag. Diese maßgebliche letzte Leistungsfeststellung darf ihrerseits nicht in Frage gestellt werden; denn insoweit gilt die Bindungswirkung des § 77 SGG. Die Bindungswirkung erstreckt sich nicht nur auf die Unfallfolgen, sondern auch auf den Grad der durch sie bedingten MdE (BSG, Urteil vom 23. Juni 1977 - 2 RU 93/75 -, juris Rn. 16 = SozR 2200 § 622 Nr. 12). Sie besteht auch unabhängig davon, ob der damalige Bescheid von Anfang an fehlerhaft war. D.h. eine unabhängig von der bisherigen Feststellung neue Bewertung des Grades der MdE ist unzulässig (BSG, a.a.O.). Die spätere Aufdeckung einer Fehldiagnose oder die Aufdeckung einer überhöhten MdE stellen keine Änderungen dar (BSG, Urteil vom 13. Februar 2013 - B 2 U 25/11 R - juris Rn. 19; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage, Ziffer 4.11.2.2, S. 141). Der Gesundheitszustand, der der letzten verbindlichen Leistungsfeststellung zugrunde lag, ist mit den bestehenden unfallbedingten Gesundheitsverhältnissen zu vergleichen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Verschlimmerungsantrag vorgelegen haben. Es muss also eine Änderung in den der Leistungsfeststellung zugrundeliegenden medizinischen Befunden eingetreten sein, die regelmäßig den Gutachten zu entnehmen sind. Dabei sind Gutachten und Befundunterlagen, die nicht zu einer verbindlichen Leistungsfeststellung geführt haben (z. B. Nachuntersuchungen, die noch keine Änderung ergeben hatten), unbeachtlich (vgl. Ricke in: Kasseler Kommentar, Stand März 2018, § 73 SGB VII Rn. 15).
Vergleichsmaßstab dafür, ob eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X i.V.m. § 73 Abs. 3 SGB VII vorliegt, ist mithin der Bescheid der Beklagten vom 25. September 2014 und das diesem Bescheid zugrundeliegende Gutachten des S1 vom 11. April 2014. Vergleicht man diese Ausgangslage mit den hiernach erhobenen Befunden, so vermag der Senat auf dieser Basis keine wesentliche Änderung im Sinne des § 73 Abs. 3 SGB VII, d.h. eine Verbesserung der MdE um mehr als 5 vH, im Vergleich zu den noch vom Gutachter S1 geschilderten Befunden festzustellen.
S1 hat in seinem Gutachten vom 11. April 2014 als Unfallfolge eine eingeschränkte Beweglichkeit des linken Handgelenks festgestellt (Streckung/Beugung 40-0-40°, Radial-/Ulnarabduktion 30-0-20°) und einen knöchernen Ausriss des Os Triquetrum der linken Hand, eine traumatische Ruptur des TFCC des linken Handgelenks (Palmer 1B) sowie einen degenerativen zentralen Discusdefekt (Palmer 2A) festgestellt. Auf dieser Basis hat er, bei einer verglichen mit den Normwerten (Beugung/Streckung 60-0-60°; Radial-/Ulnarabduktion von 40-0-30°) gegebenen Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 60 Grad, die MdE mit 20 vH eingeschätzt. Den damaligen Befundschilderungen des Gutachters S1 und der von ihm empfohlenen MdE Bewertung mit 20 vH ist die Beklagte mit dem genannten Bescheid gefolgt und die damalige MdE Bewertung ist wie bereits ausgeführt im vorliegenden Verfahren nicht mehr zu überprüfen.
Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass es zu einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes, im Sinne einer Verbesserung der MdE um mehr als 5 vH, gekommen ist.
Zwar weist das im Verfahren S 8 U 629/17 erstellte Gutachten des C2 vom 3. Juli 2017 bei der Streckung/Beugung des Handgelenkes links Normwerte auf (60/0/60° links und ebenso rechts 60/0/60°), was durchaus für eine MdE relevante Besserung des Gesundheitszustandes sprechen könnte. Allerdings hat sich C2 entsprechend seiner Aufgabestellung (Klärung der Folgen des Unfalls vom 19. Mai 2016 im Bereich der Schultern) erkennbar allenfalls am Rande mit der Handgelenkbeweglichkeit befasst und nicht einmal die Abduktion ellenwärts-speichenwärts messtechnisch erfasst, so dass es auf dieser Basis nicht möglich ist, eine Einschränkung der Handgelenksbewegungen in ihrem gesamten Ausmaß festzustellen. Das Gutachten C2 ist - ungeachtet der weiteren hiervon abweichenden Befunde - deshalb nicht geeignet, eine wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustandes zu belegen.
Maßgeblich gegen eine wesentliche Änderung spricht hingegen das im Verfahren L 8 U 3067/18 erstellte Gutachten des W1 vom 11. Juni 2019. Dieser hat im Vergleich zum Gutachten des S1 eine (unter Berücksichtigung der offenkundigen Schwierigkeiten einer exakten messtechnischen Bestimmung der Handgelenksbeweglichkeit) allenfalls unwesentlich gebesserte Handgelenksbeweglichkeit festgestellt (Beugung/Streckung links von 50-0-45°; Radial-/Ulnarabduktion von 15-0-20°). Verglichen mit den Normwerten (Beugung/Streckung 60-0-60°; Radial-/Ulnarabduktion von 40-0-30°) ergibt sich hieraus eine Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 50 Grad. Die damit im Vergleich zu den noch vom Gutachter S1 geschilderten Befunden lediglich um 10 Grad gebesserte Beweglichkeit bedingt keine Verbesserung der MdE um mehr als 5 vH. Im Nachfolgenden hat sich die Handgelenksbeweglichkeit zudem wieder weiter verschlechtert.
Am 12. August 2020 hat der Sektionsleiter des O3 Klinikums W2 mitgeteilt, der Kläger habe sich aufgrund zunehmender Beschwerden vorgestellt und über eine erheblich verschlechterte Handgelenksbeweglichkeit links berichtet (Beugung/Streckung 30-0-30°, die Ulnar-, und Radialabduktion 20-0-10°). Unter Berücksichtigung der Normwerte hat er also von einer Einschränkung der Handgelenksbeweglichkeit um insgesamt 100 Grad berichtet, so dass nicht nur keine Verbesserung, sondern eine deutliche Verschlechterung im Vergleich zu den vom Gutachter S1 geschilderten Befunden festzustellen ist. Gleiches gilt für das im Berufungsverfahren erstellte Gutachten des L1, der verglichen mit den Normwerten eine Einschränkung der Handgelenksbewegungen von insgesamt 80 Grad (Beugung/Streckung 40-0-30, die Ulnar-, und Radialduktion 20-0-20) festgestellt hat. Im Vergleich zum rechten Handgelenk ergibt sich eine noch deutlichere Einschränkung. L1 hat auch ausdrücklich klargestellt, dass passiv keine wesentliche Besserung der Beweglichkeit zu erreichen war. Nach den ausführlichen und überzeugenden Darlegungen L2 leidet der Kläger als Folge des Unfalls vom 30. November 2010 an Bewegungseinschränkungen im linken Handgelenk, Funktionseinschränkungen der linken Hand mit Kraftminderung der linken Hand sowie Schmerzhaftigkeit im linken Handgelenk, welche auf eine beginnende Handgelenksarthrose zurückzuführen sind. Die Handgelenksarthrose bestand ausweislich der Röntgenaufnahmen vom 30. November 2010 noch nicht. Der Senat folgt der Bewertung L2, wonach die Handgelenksarthrose mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Folge des Unfalls vom 30. November 2010 ist, zumal auf der linken Seite keine Arthrosezeichen zu erkennen sind. In Anbetracht dessen, dass L1 sowohl im Vergleich zum rechten Handgelenk als auch im Vergleich zu den Normwerten eine deutliche Einschränkung der Handgelenksbeweglichkeit links feststellen konnte, schließt sich der Senat seiner überzeugend begründeten MdE-Bewertung mit 15 vH an.
Soweit der behandelnde Arzt C1 durchgängig erheblich bessere Messergebnisse der Handgelenksbeweglichkeit links mitgeteilt hat (Streckung/Beugung 17. Januar 2013: 80/0/50°; 5. November 2015: 80/0/60°; 5. Februar 2018: 80/0/60°; 22. August 2019: 80/0/70°; 15. Juli 2021: 60/0/50°. Ulnar- und Radialabduktion: 17. Januar 2013: 35/0/30°; 5. November 2015: 30/0/15°; 5. Februar 2018: 40/0/20°; 22. August 2019: 40/0/20°; 15. Juli 2021: 35/0/20°), sieht der Senat hierdurch eine mindestens ab März 2020 bestehende maßgebliche Verbesserung der Handgelenksbeweglichkeit seit August 2014 nicht belegt. Der Senat folgt zunächst den Ausführungen L2, wonach sich der Grund der - von den anderen Ärzten doch erheblich abweichenden Messergebnissen - im Nachhinein nicht zuverlässig beurteilen lässt. L1 hat insoweit allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass die Extension durch Herrn C1 immer als sehr gut angegeben wurde, obwohl mehrere Gutachter bzw. Untersucher zur gleichen Zeit schlechtere Werte gemessen hatten. Letztlich muss dieser Frage auch nicht weiter nachgegangen werden, da sich eine maßgebliche Verbesserung des Gesundheitszustandes auch unter Zugrundelegung der Messungen des Herrn C1 gerade nicht ergibt. Herr C1 hat bereits am 17. Januar 2013 eine erheblich bessere Handgelenksbeweglichkeit angenommen, als das für die Frage der wesentlichen Verbesserung maßgebliche Gutachten des S1 vom August 2014, d.h. seine Messungen wiesen zu Beginn an deutlich bessere Werte aus. Eine wesentliche Verbesserung hat er danach nicht dokumentiert, sondern die Messungen der Handgelenksbeweglichkeit blieben weitgehend auf einem Niveau und haben sich zuletzt am 15. Juli 2021 (im Vergleich zu seinen vorherigen Messungen) verschlechtert.
In seiner Zeugenaussage vor dem SG sowie zuletzt mit Schreiben vom15. Juli 2021 hat er in eben diesem Sinne mitgeteilt, im Laufe der Jahre habe es (im Bereich der linken Hand) eigentlich einen gleichbleibenden Schmerzbefund gegeben, seit August 2019 sei es aber zu einer erneuten Schmerzzunahme gekommen, eine Beschwerdefreiheit sei seit dem Unfallereignis niemals erreicht worden. Ungeachtet der Frage, wie es zu den deutlich abweichenden Messergebnissen im Vergleich zu den anderen Ärzten gekommen ist, sind die Stellungnahme des Herrn C1 daher nicht geeignet, eine seit August 2014 eingetreten wesentliche Verbesserung zu belegen, sondern dessen Angaben belegen vielmehr das Gegenteil.
Soweit schließlich der F1 in Auseinandersetzung mit dem Gutachten L2 argumentiert, die MdE sei nicht wie von L1 angenommen mit 15 vH zu bewerten, sondern es sei (übereinstimmend mit der Bewertung des Herrn C1) eine MdE von weniger als 10 vH anzunehmen, werden hier ärztlicherseits die rechtlichen Maßstäbe verkannt bzw. die Fragestellung an den erweist sich als unpräzise. Wie bereits dargelegt ist bei der Frage, ob in den für die Feststellung der Rente maßgebend gewesenen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten ist, von dem im letzten bindenden Bescheid festgestellten unfallbedingten MdE-Grad auszugehen, wobei der Vergleichsmaßstab für die Aufhebung nach § 48 SGB X die damaligen tatsächlichen Verhältnisse sind, wie sie in dem zugrundeliegenden Gutachten zum Ausdruck kommen (BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R -, juris Rn. 23 = BSGE 93, 63-69, SozR 4-2700 § 56 Nr. 1,) Eine unabhängig von der bisherigen Feststellung neue Bewertung des Grades der MdE ist hingegen unzulässig (BSG, Urteil vom 23. Juni 1977 - 2 RU 93/75 -, juris Rn. 16 = SozR 2200 § 622 Nr. 12). Die Argumentation, der aktuelle Gesundheitszustand bedinge keine MdE von 10 vH, verkennt dies und geht daher an der maßgeblichen Fragestellung vorbei. Eine stichhaltige Argumentation, weshalb es auf Basis der geschilderten (abweichenden, aber sich insgesamt kontinuierlich eher verschlechternden) Messungen der Handgelenksbeweglichkeit zu einer wesentlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes im Vergleich zur Situation im August 2014 gekommen sein soll, vermag der Senat den Darlegungen des F1 nicht zu entnehmen. Auch eine Auseinandersetzung mit der doch sehr deutlichen Diskrepanz der von Herrn C1 erhobenen Messungen zu den Messungen durch S1, W1, W2 sowie L1 sowie der augenfälligen Tatsache, dass sich auch den Messungen des Herrn C1 gerade keine maßgebliche Besserung der Handgelenksbeweglichkeit seit 2014 entnehmen lässt, ist nicht erfolgt. Lediglich ergänzend ist anzumerken, dass die Bewertung der MdE durch F1 den Senat auch in der Sache nicht überzeugt. L1 hat eine MdE von (mindestens) 15 vH in Anbetracht der kontinuierlich und von verschiedenen Ärzten dokumentierten Einschränkung der Handgelenksbeweglichkeit überzeugend begründet. Diese Bewertung steht auch im Einklang mit dem wissenschaftlichen Standardwerk zur medizinischen BK- und Unfallbegutachtung Schönberger/Mehrtens/Valentin. Hiernach richtet sich die MdE-Schätzung im Bereich des Handgelenks vorwiegend nach den Bewegungsmaßen im Handgelenk (vgl. hierzu und zum Nachfolgenden: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage, Ziffer 8.7.7.2.3, S. 581). Ein Speichenbruch mit Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 40 Grad ist mit eine MdE von 10 vH zu bewerten. Ein Speichenbruch mit erheblicher Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 80 Grad ist mit einer MdE von 20 bis 30 vH zu bewerten. In Anbetracht der von L1 mitgeteilten Befunde folgte der Senat vor diesem Hintergrund auch dessen MdE Bewertung mit 15 vH.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Kosten für das Wahlgutachten des L1 sind auf die Staatskasse zu übernehmen (vgl. § 109 Abs. 1 SGG). Die Feststellungen des Gutachtens haben das Verfahren wesentlich gefördert.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 20 U 2126/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 2151/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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