Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 16.11.2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) streitig.
Der 1991 geborene Kläger beantragte erstmalig am 02.01.2019 die Feststellung des GdB und begründete diesen im Wesentlichen mit psychischen Beschwerden.
Der Beklagte zog den Entlassbericht der Reha-Klinik B1 vom Januar 2019 über den dortigen stationären Aufenthalt im Dezember 2018 (Diagnosen: drogeninduzierte körperdysmorphe Störung; differenzialdiagnostisch: somatoforme Störung, somatoforme Schmerzstörung mit wahnhafter Störung; Cannabiskonsum; verminderte Compliance bei ärztlichen Anordnungen) sowie den Befundbericht der Klinik für Augenheilkunde U1 vom Juni 2018 (mit der Empfehlung einer psychiatrischen Weiterbehandlung) bei.
Der Z1 empfahl die Feststellung einer seelischen Störung mit chronischem Schmerzsyndrom und Abhängigkeitserkrankung und einen Gesamt-GdB von 40. Hierauf gestützt stellte der Beklagte mit Bescheid vom 13.05.2019 den GdB mit 40 seit 02.01.2019 fest.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren befragte der Beklagte die vom Kläger benannte B2, welche unter Vorlage zahlreicher Befundberichte, insbesondere von Ärzten auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet, mitteilte, dass das Krankheitsbild des Klägers ausschließlich psychisch bestimmt sei.
In ihrer umfangreichen versorgungsärztlichen Stellungnahme zum Widerspruch und den beigezogenen weiteren Unterlagen wies die P1 auf die stark eingeschränkte Compliance, den beträchtlichen Krankheitsgewinn des Klägers, der darüber hinaus eine Berentung anstrebe und auf die auffallende Diskrepanz zwischen den beklagten, massiven Beschwerden einerseits und der augenscheinlichen Leichtigkeit bei eigenständigen Aktivitäten andererseits hin und empfahl die Beibehaltung eines GdB von 40. Hierauf gestützt wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.12.2019 den Widerspruch als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 30.12.2019 Klage beim Sozialgericht Ulm (SG) erhoben und die Zuerkennung eines GdB von mindestens 50 begehrt.
Das SG hat zunächst Beweis erhoben durch die Einholung sachverständiger Zeugenauskünfte des R1 (Verdacht auf somatoforme Störung ohne Hinweise auf organische Ursachen der beklagten Beschwerden), des C1 (Diagnose: Somatoforme Schmerzstörung) und der C2 (Diagnosen: somatoforme Schmerzstörung, Somatisierungsstörung, wahnhafte Störung, Zustand nach Drogenabusus, Depression).
Das SG hat weiterhin den Entlassbericht des Klinikums W1 vom Februar 2020 über einen stationären Aufenthalt vom 07.02.2020 bis zum 12.02.2020, wobei der Kläger auf eigenen Wunsch und gegen ärztlichen Rat entlassen worden sei, beigezogen.
Zudem hat das SG das fachpsychiatrische Gutachten des H1, vom September 2021, gestützt auf eine ambulante Untersuchung im März 2021, eingeholt. Nach Einschätzung des Sachverständigen leide der Kläger unter einer Somatisierungsstörung und einer Cannabisabhängigkeit. Zwar sei bei dem Kläger keine Simulations-, wohl aber eine erhebliche Symptomverdeutlichungstendenz im Sinne einer Aggravation zu beobachten. Es liege eine mittelschwere Störung vor, die mit einem GdB von 40 zu bewerten sei.
Mit Gerichtsbescheid vom 16.11.2021 hat das SG die Klage abgewiesen und sich zur Begründung im Wesentlichen auf das Gutachten des H1, welches sich wiederum mit der Einschätzung des behandelnden R1 decke, gestützt.
Gegen den dem Kläger am 19.11.2001 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser am 17.12.2021 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und zu deren Begründung unter anderem auf einen aus seiner Sicht lebensgefährlichen Arbeitsunfall 2018 auf einem Bauernhof verwiesen.
Er hat keinen konkreten Antrag gestellt.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Er verweist zur Begründung auf die medizinische Sachverhaltsermittlung durch das SG und auf die dortigen Entscheidungsgründe.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten des Beklagte sowie der Prozessakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist aber unbegründet.
Der Senat konnte auch in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden. Hierauf ist der Kläger in der Ladung zur mündlichen Verhandlung auch hingewiesen worden. Einen Verlegungsantrag hat der Kläger nicht gestellt. Vielmehr hat er darum gebeten, mit der Eröffnung der mündlichen Verhandlung bis 12.00 Uhr zuzuwarten, da er seinen Zug verpasst habe und er deshalb nicht rechtzeitig eintreffen werde. Dem hat der Senat entsprochen. In der Folgezeit hat sich der Kläger nicht mehr gemeldet und insbesondere nicht geltend gemacht, er könne nun auch nicht bis 12.00 Uhr im Gericht sein.
Streitgegenständlich ist der Gerichtsbescheid des SG vom 16.11.2020, mit welchem dieses die auf die Abänderung des Bescheids vom 13.05.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04.12.2019 und Feststellung eines GdB von mindestens 50 gerichtete Klage des Klägers abgewiesen hat.
Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines GdB ist § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).
Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX liegt eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie die Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden. Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden nach § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 6 SGB IX ist eine Feststellung nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.
Nach § 153 Abs. 2 SGB IX wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 241 Abs. 5 SGB IX, dass – soweit noch keine Verordnung nach § 153 Absatz 2 erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris). Nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.
Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Darüber hinaus sind vom Tatsachengericht die rechtlichen Vorgaben zu beachten. Rechtlicher Ausgangspunkt sind stets § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 Satz 1 SGB IX; danach sind insbesondere die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgebend (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).
Ganz im Vordergrund steht beim Kläger eine Somatisierungsstörung mit teils wahnhaften Elementen.
Dies entnimmt der Senat wie bereits zuvor das SG dem sehr ausführlichen und wohlbegründeten Gutachten des Sachverständigen. Wie der Sachverständige auch unter Würdigung der umfangreichen Aktenlage überzeugend dargelegt hat, besteht beim Kläger das typische Bild einer Somatisierungsstörung. So beschäftigt er sich seit über 16 Jahren mit unterschiedlichsten körperlichen Symptomen, die bei ihm zu einem erheblichen Leidensdruck geführt haben bzw. weiterhin führen. Er hat deswegen in der Vergangenheit eine Vielzahl von Ärzten unterschiedlichster Fachrichtungen konsultiert; es erfolgten sowohl ambulant wie auch stationär zahlreichen Untersuchungen in den unterschiedlichen Fachbereichen (Neurologie, Kardiologie, Augenheilkunde, Orthopädie/Chirurgie), wobei jeweils keine organischen Korrelate für die beklagten körperlichen Beschwerden gefunden werden konnten. Dennoch weigert sich der Kläger bis heute die fachärztlichen Feststellungen, dass keine ausreichende Ursache für seine beklagten körperlichen Beschwerden vorliegen, zu akzeptieren. Die ausgeprägte Somatisierungsstörung des Klägers bestand dabei bereits lange vor dem von ihm im Rahmen des Aufenthalts in der Rehaklinik B1 angeführten Autounfall 2013 auf dem Heimweg von der Arbeit, dem – teilweise schwer nachvollziehbar geschilderten – Arbeitsunfall im Rahmen seiner Ausbildung zum Landwirt im August 2018 oder dem 2019 erlittenen Fahrradunfall, wobei er diese Unfallereignisse sämtlich ohne bleibenden körperlichen Schaden überstanden hat. Es ist dem Kläger aber weiterhin nicht möglich, sich für ein psychosomatisches Krankheitsverständnis zu öffnen und, wie für eine Somatisierungsstörung typisch, kann er nicht akzeptieren, dass sich keine organischen Ursachen für seine körperlichen Beschwerden finden.
Mit dieser Einschätzung, wonach die Somatisierungsstörung ganz im Vordergrund steht, steht der Sachverständige in Einklang mit dem seit vielen Jahren ambulant behandelnden R1 und der C3. Soweit R1 das überwertige Erleben des Klägers aufgrund der teilweise bizarren Angaben und Schilderungen des Klägers (auch) einer substanzinduzierten psychotischen Störung zugeschrieben hat, was auch im Entlassbrief der Rehaklinik B1 diskutiert wurde, ist dem der Sachverständige überzeugend entgegengetreten. Auch wenn die Beschwerden des Klägers teilweise in ihren Beschreibungen bizarr und wahnhaft anmuten – so hat der Kläger wiederholt die Annahme geäußert, alle seine Organe seien „verschoben“ – so sind diese, so der Sachverständige, nicht einer wahnhaften (gegebenenfalls drogeninduzierten) Störung, sondern vielmehr der sicher vorliegenden und seit vielen Jahren bestehenden Somatisierungsstörung zuzuordnen. Es handelt sich hierbei um eine deutlich aggravierte Darstellung des Körpererlebens des Klägers, der für sich, gerade weil sich für die vorliegenden körperlichen Beschwerden keine tatsächlichen Ursachen gefunden haben, ein ganz eigenes Krankheitsverständnis mit auch wahnhaft-überwertigen Ideen entwickelt hat. Gerade eine solche aggravierte Darstellung ist bei einer tatsächlichen wahnhaften Störung ungewöhnlich. Für eine Zuordnung zur Somatisierungsstörung spricht auch, dass sich diese bereits in der Jugend und noch deutlich vor der ersten Einnahme von psychotropen Substanzen entwickelt hat. Letztlich sind auch die Ärzte in der Rehaklinik B1 differenzialdiagnostisch von einer somatoformen Schmerzstörung mit wahnhafter Störung ausgegangen.
Soweit im Entlassbericht des Klinikums W1 über den dortigen, nach fünf Tagen abgebrochenen stationären Aufenthalt des Klägers neben einer Somatisierungsstörung eine rezidivierende depressive Störung diagnostiziert worden ist, kann dies nicht überzeugen. Im Entlassbericht selbst finden sich keine Anhaltspunkte, aufgrund welcher typischen Kriterien man von einer Depression ausgegangen ist; vielmehr fehlen im Aufnahmebefund die typischen Kriterien für eine depressive Erkrankung, so zu Recht der Sachverständige. Im Rahmen der Begutachtung durch den Sachverständigen konnte dieser keinerlei Anhalte für eine depressive Störung feststellen. Auch den weiteren Befundberichten können keine Anhaltspunkte entnommen, die die Diagnose einer Depression zulassen würden, so zutreffend der Sachverständige. So wurde beispielsweise im Entlassbericht der Rehaklinik B1 eine depressive Erkrankung aufgrund der Beobachtungen im Stationsalltag für unwahrscheinlich erachtet.
Die Beurteilung der somatoformen Störung richtet sich nach den VG, Teil B, Nr. 3.7. Danach sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem Einzel-GdB von 0 bis 20, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Einzel-GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Einzel-GdB von 80 bis 100 zu bewerten.
Der Sachverständige hat unter Berücksichtigung des Vorstehenden und in Übereinstimmung mit den versorgungsärztlichen Bewertungen die Somatisierungsstörung unter Berücksichtigung der Cannabinoidabhängigkeit als eine stärker behindernde seelische Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit eingeschätzt und mit einem Einzel-GdB von 40 die Ausschöpfung des hierfür vorgesehenen Rahmenwerts nach oben vorgeschlagen. Dies überzeugt angesichts der von ihm erhobenen Befunde, die sich im Wesentlichen mit den Berichten der behandelnden Ärzte, insbesondere auch den Berichten über die stationären Aufenthalte des Klägers, decken. Nach den Feststellungen des Sachverständigen schränken die anhaltenden, als sehr unangenehm und beeinträchtigend erlebten Ganzkörperschmerzen den Kläger in seiner Funktions- und Leistungsfähigkeit stark ein. Diese Schmerzen und die mit ihnen einhergehende veränderte Körperwahrnehmung führen zu einer Einschränkung des Klägers in der Alltagsbewältigung. Die vom Sachverständigen festgestellte und in Teilen auch auf den Cannabiskonsum zurückzuführende Antriebsstörung mit Antriebshemmung und -armut sowie rasche Ermüdbarkeit und Erschöpfung schränken den Kläger bei den Alltagsaktivitäten insgesamt mittelgradig ein. Dagegen haben sich in der Begutachtung allenfalls leichtgradige kognitive Defizite gezeigt und konnte sich der Kläger gut auf das gutachterliche Gespräch konzentrieren und bestehen auch in Bezug auf das Verhalten und die zwischenmenschlichen Fähigkeiten nur leichte Beeinträchtigungen.
Eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten und einem Einzel-GdB von dann 50 kann beim Kläger nicht festgestellt werden.
Bei der Feststellung des Ausmaßes der Funktionsbeeinträchtigung ist zunächst das von sämtlichen behandelnden Ärzten und vom Sachverständigen beschriebene ausgeprägte Aggravationsverhalten des Klägers zu berücksichtigen. So wird im Entlassbericht der Reha-Klinik B1 über ein inkonsistentes Bild aus einerseits demonstrierter und berichteter völliger Hilflosigkeit des Klägers mit Schmerzbelastung und Überforderung und andererseits aber augenscheinlicher Leichtigkeit, mit fast inadäquat fröhlichem Affekt und uneingeschränkter Aktivität berichtet. Der Kläger hat zunächst berichtet, die Therapien nur unter großer Anstrengung und massivem Schmerzerleiden absolvieren zu können. Nach außen war jedoch weder ein Schmerzerleben noch eine besondere Anstrengung ersichtlich. Der Kläger, der behauptet, zuhause vollständig auf einen Rollator angewiesen zu sein, hat im Verlauf der Reha sogar nach einem Rollstuhl gefragt, obwohl es ihm im Stationsalltag gut gelungen ist, sich frei, insbesondere auch ohne Rollator, zu bewegen. So hat der Kläger auch des Öfteren eigenständige Spaziergänge im Ort unternommen, beispielsweise um Kaffee zu trinken. Hingewiesen wurde auch auf den offensichtlich beträchtlichen Krankheitsgewinn, der dem Kläger durch seine Erkrankung entsteht. Dieser ist von fast allen Pflichten eines alltäglichen Erwachsenenlebens entbunden und wird von seiner Familie umfassend entlastet, was er auch sehr bereitwillig in Anspruch nimmt. Ergänzend hat er im Rahmen seines Reha-Aufenthalts noch mehr Unterstützung wie beispielsweise den Rollstuhl und Unterstützung durch einen Pflegedienst eingefordert. Eigenständigkeit erscheint ihm wenig wichtig. Mit dem vom Kläger geltend gemachten Leidensdruck kontrastierte nach Auffassung der Ärzte in der Reha-Klinik B1 auch die fehlende Compliance bei der Medikamenteneinnahme. Auch R1 berichtete über eine psychogene Komponente der Gangstörung mit aggraviert erscheinender Ausprägung und übertriebener Bewegung der Arme und einer demonstrativ unsicheren Darstellung des Seiltänzergangs.
Eine ausgeprägte Aggravation der Symptome hat auch der Sachverständige in der Begutachtung festgestellt. So ließ sich der Kläger von seinem Vater demonstrativ in einem Rollstuhl zur Untersuchung schieben, obwohl keinerlei Anhalt für eine Rollstuhlnotwendigkeit vorliegt. Später vermochte sich der Kläger dann völlig problemlos zur Untersuchung aus dem Rollstuhl zu erheben; seine Körperbewegungen wirkten übertrieben. Auch die bizarr wirkenden Angaben zu körperlichen Beschwerden erzeugten beim Sachverständigen den Eindruck einer aggravierten Darstellung bestehender körperlicher Symptome.
Gegen eine Annahme mittelgradiger sozialer Anpassungsschwierigkeiten spricht auch der fehlende Behandlungs- und Therapiewille, der sich, so der Sachverständige, wie auch die Aggravation, durch den erheblichen Krankheitsgewinn des Klägers erklärt und mit einem hohen Leidensdruck nicht vereinbar ist. Auch die Ärzte der Rehaklinik B1 und R1 haben berichtet, dass sich beim Kläger kein wirklicher Therapie- und Behandlungswille gezeigt habe. Zuletzt hat der Kläger auch im Rahmen des Aufenthalts im Klinikum W1 eine medikamentöse Therapie abgelehnt und sich stattdessen nach fünf Tagen gegen ärztlichen Rat selbst entlassen.
Der daneben beim Kläger vorliegenden Cannabisabhängigkeit kommt dagegen keine entscheidende Bedeutung zu, so der Sachverständige. Er geht beim Kläger von einem starken Verlangen aus, Cannabis zu konsumieren, von einer Toleranzentwicklung und zumindest psychischen, nicht aber körperlichen Entzugssymptomen. Unabhängig davon, dass damit noch keine 3 der in den VG, Teil B, Nr. 3.8 genannten Kriterien für die Bejahung einer Abhängigkeit von psychotropen Substanzen vorliegen, würde bei der allenfalls statthaften Annahme einer Abhängigkeit mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten gleichfalls (nur) ein GdB-Rahmen bis maximal 40 eröffnet. Bei der gemäß den VG, Teil A, Nr. 2 Buchst. e gebotenen Zusammenfassung der Beeinträchtigungen für das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche würde dies, so zu Recht der Sachverständige, zu keiner Erhöhung des GdB von 40 führen, da sich die Auswirkungen der Abhängigkeitserkrankung vollständig in denjenigen der Somatisierungsstörung erschöpfen und mit der Abhängigkeitserkrankung keine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung einhergeht.
Funktionsbeeinträchtigungen in anderen Bereichen sind, wie vom SG dargelegt, nicht ersichtlich. Internistische, kardiologische oder augenärztliche Erkrankungen sind im Rahmen der jeweiligen fachärztlichen Abklärungen ausgeschlossen worden. Der Einzel-GdB von 40 für das Funktionssystem Psyche bildet damit auch den Gesamt-GdB ab.
Die Berufung bleibt damit ohne Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 11 SB 10/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 SB 3878/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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