1. Der Bescheid der Beklagten vom 17. August 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. Dezember 2021 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Altersrente ab dem 01. April 1996 ohne Abzug des Versorgungsausgleiches zu gewähren. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger bereits ab dem 01. April 1996 eine im Hinblick auf den Versorgungsausgleich vom 07. November 1985 ungekürzte Regelaltersrente zu zahlen.
2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den Zeitpunkt, ab dem die Kürzung der Rente des Klägers aufgrund eines Versorgungsausgleichs im Rahmen der Scheidung von seiner früheren Ehefrau rückgängig gemacht wird.
Der 1931 geborene Kläger war mit der 1952 geborenen Frau B. A. verheiratet. Die Ehe wurde am 7. November 1985 geschieden, die Entscheidung wurde am 24. Dezember 1985 rechtskräftig. Zu Gunsten der geschiedenen Ehefrau des Klägers wurde im Scheidungsurteil vom 7. November 1985 ein Versorgungsausgleich durchgeführt. Frau B. A. verstarb am XX.XX.1989, ohne eine Rente aus den mit dem Versorgungsausgleich auf sie übertragenen Rentenanwartschaften bezogen zu haben. Nach ihrem Tod wurde auch keine Witwerrente an einen Hinterbliebenen gezahlt.
Seit 1. März 1996 bezieht der Kläger aufgrund Bescheides der Beklagten vom 29. Februar 1996 Altersrente von der Beklagten. Mit Schreiben vom 9. März 2020 übersandte der Kläger durch seinen Bevollmächtigten eine Sterbeurkunde seiner geschiedenen Ehefrau und teilte mit, dass diese keine Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezogen habe. Es werde um Überprüfung gebeten, ob der durchgeführte Versorgungsausgleich rückgängig gemacht werden könne. Ausweislich der beigefügten Sterbeurkunde war die frühere Ehefrau des Klägers am XX.XX.1989 verstorben.
Mit Bescheid vom 4. Mai 2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass auf seinen Antrag die Kürzung der Rente ab dem 1. April 2020 ausgesetzt würde. Die frühere Ehefrau des Klägers sei am XX. XX.1989 verstorben und habe nicht länger als 36 Monate Rente aus den in der gesetzlichen Rentenversicherung erworbenen Anrechten bezogen. Damit seien die Voraussetzungen für die Aussetzung der Kürzung der laufenden Rente des Klägers aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt. Die Rente werde deshalb mit Ablauf des Monats der Antragstellung ab 1. April 2020 nicht länger gekürzt. Hierüber würde der Kläger einen weiteren Bescheid erhalten.
Mit Schreiben vom 17. Mai 2020 legitimierte sich der jetzige Bevollmächtigte des Klägers und bat um Übersendung der kompletten Renten- und Versicherungsakte, um prüfen zu können, ob es die Beklagte versäumt habe, den Kläger bei seiner Rentenantragstellung darauf hinzuweisen, dass seine geschiedene Ehefrau bis zu ihrem Tod keine Rente bezogen habe und dass deshalb die Voraussetzungen des § 4 Versorgungsausgleich-Härtegesetz (VAHRG a.F.) In der damaligen Fassung erfüllt bzw. nicht erfüllt waren.
Im Rahmen der weiteren Kommunikation teilte die Beklagte der Klägerseite mit, dass die Antragsunterlagen aus dem Jahr 1996 bei der Beklagten nicht mehr vorlägen, sondern vernichtet worden seien. Lediglich die Bescheide aus dem Jahr 1996 Iägen noch verfilmt vor.
Mit Schreiben vom 14. Juli 2020 führte der Bevollmächtigte des Klägers aus, dass er anhand der ihm von der Beklagten übersandten Unterlagen nicht erkennen könne, ob bei Rentenantragstellung Jahr 1996 bereits die Fragen hinsichtlich Versorgungsausgleichs und Versterbens des früheren Ehepartners im Antragsvordruck enthalten waren. Er bat um Übersendung der entsprechenden Seiten im damaligen Rentenantrag beziehungsweise um Mitteilung, wie die Fragen von seinem Mandanten bezüglich des durchgeführten Versorgungsausgleichs beantwortet worden seien.
Mit Schreiben vom 19. November 2020 übersandte die Beklagte dem Kläger eine Ausfertigung des zum Zeitpunkt von dessen Rentenantragstellung im Jahr 1996 gültigen Antragsformulars. In dem Formular wurde unter dem Gliederungspunkt 10.5 die Frage gestellt: „Wurde ein Versorgungsausgleich wegen Ehescheidung durchgeführt?“ Darunter befanden sich Kästchen zum Ankreuzen mit den Beschriftungen „nein“ und „ja“. im Falle der Bejahung der Frage schloss sich die Frage an: „Lebt der frühere Ehegatte noch?“. Danach folgten Kästchen zum Ankreuzen mit den Antwortmöglichkeiten „nein“ und „ja … letzte Anschrift“.
Mit Schreiben vom 25. Januar 2021 beantragte der Kläger bei der Beklagten, den durchgeführten Versorgungsausgleich nicht erst ab dem 1. April 2020, sondern bereits seit Rentenantragstellung am 18. Januar 1996 rückgängig zu machen.
Mit Schreiben vom 10. Juli 2021 bat die Beklagte den Kläger darum, Nachweise einzusenden, aus denen hervorgeht, dass der Kläger die Beklagte im Jahr 1996 über den Tod seiner früheren Ehefrau informiert hat. Die Rücknahme nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) setze voraus, dass der Rentenbescheid vom 29. Februar 1996 von Anfang an rechtswidrig gewesen sei. Nach den bei der Beklagten vorliegenden Unterlagen könne dies jedoch nicht beurteilt werden. Es könne nicht festgestellt werden, ob die Sachbearbeitung im damaligen Rentenverfahren Kenntnis über den Tod der ausgleichsberechtigten früheren Ehefrau des Klägers hatte. Im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X liege die Beweislast über die anfängliche Rechtswidrigkeit eines Bescheides beim Rentenempfänger. Könne der Beweis hierüber nicht erbracht werden, komme eine Rücknahme des Rentenbescheides nicht in Betracht.
Mit Bescheid vom 17. August 2021 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 25. Januar 2021 ab. Seinem Antrag auf Rücknahme des Bescheides vom 4. Mai 2020 können nicht entsprochen werden. Nach § 44 SGB X sei die Beklagte verpflichtet, einen rechtswidrigen Bescheid zurückzunehmen, wenn sich herausstelle, dass das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei und deshalb Leistungen zu Unrecht nicht erbracht worden seien. Die Überprüfung des Bescheides vom 4. Mai 2020 habe ergeben, dass weder das Recht unrichtig angewandt, noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Die Rente des Klägers sei in zutreffender Höhe festgestellt worden. Gemäß § 34 Abs. 3 VersAusglG wirke die Anpassung ab dem ersten Tag des Monats, der auf den Monat der Antragstellung folge. Der Antrag des Klägers auf Anpassung wegen Todes sei am 11. März 2020 bei der Beklagten eingegangen und die Anpassung sei mit Neuberechnungsbescheid vom 4. Mai 2020 ab dem 1. April 2020 umgesetzt worden. Im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X liege die Beweislast über die anfängliche Rechtswidrigkeit eines Bescheides beim Rentenempfänger. Könne der Beweis hierüber nicht erbracht werden, komme eine Rücknahme des Rentenbescheides nicht in Betracht. Der Kläger habe keine Nachweise dafür vorgelegt, dass er der Beklagten bereits bei der Rentenantragstellung im Jahr 1996 mitgeteilt habe, dass seine frühere Ehefrau verstorben sei. Auch ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch aufgrund fehlerhafter Beratung nach § 14 Sozialgesetzbuch Erstes Buch, Allgemeiner Teil (SGB I) komme nicht in Betracht, da die Beklagte keine Beratungspflicht verletzt habe.
Am 6. September 2021 erhob der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid der Beklagten vom 17. August 2021. Mit Schreiben an die Klägerseite vom 30. September 2021 bekräftigte die Beklagte nochmals, dass aus ihrer Sicht der Kläger beweisbelastet sei. Mit Schreiben vom 8. Oktober 2021 machte die Klägerseite geltend, dass der Hinweis der Beklagten auf den durchgeführten Versorgungsausgleich in Anlage 5 des Rentenbescheides diese nicht von der Verpflichtung enthoben habe, aufgrund des Hinweises auf das Versterben der früheren Ehefrau im Rentenantrag zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Rentenanpassung vorlagen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 2021 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Der Kläger könne nicht nachweisen, dass er bei Rentenantragstellung im Jahr 1996 auf dem Antragsformular angegeben habe, dass er geschieden sei und dass ein Versorgungsausgleich durchgeführt worden sei und dass seine geschiedene Ehefrau zwischen verstorben sei. Nach den allgemeinen Grundsätzen der Beweislast müsse der Kläger den Beweis für seine Behauptungen erbringen. Dem Kläger sei es nicht gelungen, einen Beratungsfehler der Beklagten nachzuweisen, weshalb der Antrag abzulehnen gewesen sei.
Am 26. Dezember 2021 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Darmstadt erhoben.
Der Kläger ist der Ansicht, auch wenn er über keine Kopie seines ursprünglichen Rentenantrages mehr verfüge, sei es völlig lebensfremd, zu unterstellen, dass er keine oder falsche Angaben bei der Beantwortung der Frage 10.1 des damaligen Rentenantrags gemacht habe. Er habe die dort gestellten Fragen „richtig“ beantwortet. Die Beklagte hätte den Kläger im Rahmen ihrer Beratungspflicht auf die Möglichkeit gemäß § 4 VAHRG a.F. aufmerksam machen müssen, den durchgeführten Versorgungsausgleich rückgängig zu machen, da sich nach Prüfung durch die Beklagte habe herausstellen müssen, dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung erfüllt waren.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Altersrente ab dem 1. März 1996 ohne Abzug des Versorgungsausgleiches zu gewähren und dem Kläger die Nachzahlung aufgrund der Regelung des §§ 4 VAHRG a.F. ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass es dem Kläger obliegt, den Nachweis zu erbringen, dass er die drei Fragen des Gliederungspunkte 10.5 des Rentenantrages im Jahr 1996 wie behauptet beantwortet habe. Nach der objektiven Beweislast obliege ihm dieser Nachweis.
Mit Schriftsatz vom 7. April 2022 hat die Klägerseite nochmals bekräftigt, dass der Kläger bei Rentenantragstellung die Fragen im Rentenantrag hinsichtlich der Ehescheidung und des Versorgungsausgleichs zutreffend beantwortet habe. Es sei von der Beklagten abwegig, zu fordern, dass der Kläger den im Jahr 1996 gestellten Rentenantrag vorlegen solle. Um einen solchen Nachweis zu ermöglichen, hätte die Beklagte die komplette Rentenakte und nicht nur Teile davon verfilmen müssen. Der Kläger habe die Frage 10.5 im Rentenantragsformular wahrheitsgemäß beantwortet, da ihm bekannt gewesen sei, dass seine geschiedene Ehefrau vor ihrem eigenen Rentenbeginn verstorben war. Dass er geschieden war, sei ihm natürlich bekannt gewesen. Diese Aussage des Klägers hätte die Beklagte veranlassen müssen, zu prüfen, ob die Regelung des § 4 VAHRG a.F. erfüllt war und die Beklagte hätte den Kläger informieren müssen, dass er einen Antrag nach dieser Vorschrift stellen müsse, damit seine Altersrente ungekürzt ausgezahlt werde. Dies sei unterlassen worden, so dass ein Beratungsfehler vorliege. Die Klägerseite hat auf einen dem Schriftsatz beigefügtes Urteil des Sozialgerichts Lüneburg Mit dem Az. S 34 R 426/ 15 vom 15. April 2016 verwiesen, in welchem bei vergleichbaren Sachverhalt dem Kläger ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch gewährt worden sei.
Mit Schriftsatz vom 20. April 2022 hat die Klägerseite bekräftigt, dass zu fordern sei, dass der Versorgungsträger die Rentenakte mit Antragsvordruck verwahren bzw. komplett verfilmen müsse, so dass er diesen Rentenantrag bei Bedarf vorlegen könne. Ob der Rentenantrag tatsächlich nicht verfilmt worden sei, sei ebenfalls nicht nachgewiesen, möglicherweise wolle die Beklagte auch vermeiden, dass ein Beratungsmangel ersichtlich werde.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte im hiesigen Verfahren sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten (ein Band und eine Datei) verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist in vollem Umfang begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 17. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 2021 ist rechtswidrig und der Kläger ist dadurch gem. § 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, aufgrund dessen er von der Beklagten verlangen kann, bereits seit Beginn des Rentenbezugs zum 1. März 1996 aufgrund seines Rentenantrags vom 18. Januar 1996 so gestellt zu werden, als ob er einen Antrag auf Aussetzung der Kürzung seiner Altersrente wegen des 1985 durchgeführten Versorgungsausgleichs gestellt hätte.
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch wurde vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelt, um Gesetzeslücken zu schließen. Er hat zur Voraussetzung, dass der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund des Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 SGB I) verletzt hat. Außerdem ist erforderlich, dass zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem für den Betroffenen entstandenen Nachteil ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln das Sozialleistungsträgers eingetretenen Nachteil muss durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können und die Korrektur darf dem jeweiligen Gesetzeszweck nicht widersprechen (BSG, Urt. v. 18. 1. 2011 − B 4 AS 29/10 R (LSG Hessen)).
Vorliegend hat die Beklagte es versäumt, den Kläger nach Stellung des Rentenantrages darauf hinzuweisen, dass der im Scheidungsurteil vom 7. November 1985 durchgeführte Versorgungsausgleich zu Gunsten seiner Ehefrau aufgrund des Todes seiner Ehefrau, ohne dass diese vor ihrem Tod am XX.XX.1989 länger als 36 Monate Rente aus den in der gesetzlichen Rentenversicherung erworbenen Anrechten bezogen hätte, gemäß §§ 4, 7, 8 VAHRG a.F. hätte rückgängig gemacht werden können, so dass der Kläger eine ungekürzte Rente hätte beziehen können.
Die Kammer ist aufgrund des klägerischen Vortrags davon überzeugt, dass der Kläger bei Stellung des Rentenantrages in dem damals gültigen Antragsformular der Beklagten die Fragen unter dem Gliederungspunkt 10.5, ob ein Versorgungsausgleich wegen Ehescheidung durchgeführt worden sei und ob der frühere Ehegatte noch lebe zutreffend dahingehend beantwortet hat, dass ein Versorgungsausgleich durchgeführt worden war und dass seine geschiedene Ehefrau am XX.XX.1989 verstorben war. Der Kläger kann zwar nicht anhand des 1996 gestellten Rentenantrags nachweisen, dass er die Fragen wahrheitsgemäß beantwortet hat. Die Kammer ist allerdings von dem Vortrag der Klägerseite überzeugt, dass es für den Kläger keinerlei Anlass gegeben hätte, diese Frage bei Stellung des Rentenantrages unzutreffend zu beantworten. Der Kläger hatte Kenntnis davon, dass er geschieden war und dass seine frühere Ehefrau verstorben war. Die Fragen im damals gebräuchlichen Rentenantragsformular waren einfach und verständlich formuliert und konnten durch ein einfaches Ankreuzen beantwortet werden. Die Kammer hegt keinen Zweifel daran, dass der Kläger zu einer korrekten Beantwortung der Fragen der Lage war. Der Kläger hatte auch keinen Grund, die Frage, ob ein Versorgungsausgleich wegen Ehescheidung durchgeführt worden war und ob der frühere Ehegatte noch am Leben war, wahrheitswidrig zu beantworten. Er konnte sich aus einer falschen Angabe keinerlei Vorteil erhoffen. Bei Kenntnis der Gesetzeslage hätte dem Kläger klar sein können, dass die Fragen auf die Möglichkeit der Aussetzung eines durchgeführten Versorgungsausgleichs abzielten und dass sich eine Beantwortung dahingehend, dass ein Versorgungsausgleich durchgeführt worden sei und der frühere Ehegatte nicht mehr lebe, positiv auf die Rentenhöhe auswirken könne. Über dieses Wissen verfügte der Kläger nicht. Eine Situation, in der sich eine Falschangabe dahingehend, dass entweder kein Versorgungsausgleich durchgeführt worden war oder dass der frühere Ehegatte noch lebe sich für den Kläger vorteilhaft hätte auswirken können, ist nicht denkbar.
Darüber hinaus verstößt die vorliegende Berufung der Beklagten darauf, dass der Kläger nicht beweisen könne, dass er die Fragen unter dem Punkt 10.5 des Rentenantrages zutreffend beantwortet habe, gegen Treu und Glauben. Der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) gilt auch im Bereich des Sozialversicherungsrechts (BSG, st. Rspr., vgl. z.B. Urteil vom 07.11.1995 – 12 RK 19/94 und Urteil vom 03.02.2022 – B 5 R 34/21 R). Vorliegend wäre es grundsätzlich anhand der Akten der Beklagten über den Kläger möglich gewesen, zu überprüfen, in welcher Weise er das Rentenantragsformular vom 18. Januar 1996 ausgefüllt hatte. Tatsächlich war dies allerdings deshalb unmöglich, weil die Beklagte sämtliche Unterlagen vernichtet hat. Auch der Kläger hat keine Kopie seines damals gestellten Rentenantrages aufbewahrt. Es ist allerdings nachvollziehbar, dass er hierfür keinen Anlass sah, sondern davon ausging, dass bei der Beklagten der Antragsvorgang umfassend dokumentiert würde. Wenn die Beklagte nun einerseits vorträgt, sie habe nur ausgewählte Bescheide verfilmt und die übrigen Unterlagen vernichtet und andererseits auf Grundsätze der objektiven Beweislast verweist, wonach der Nachweis, dass er die Fragen im Rentenantrag zutreffend beantwortet habe, dem Kläger obliege, so macht sie sich die eigene Vernichtung der Unterlagen auf treuwidrige Weise zunutze. Der Grundsatz von Treu und Glauben erfordert eine „billige“ Rücksichtnahme auf schutzwürdige Interessen des Gegenübers (Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage 2022, § 242, Rn. 10). Die Beklagte hat durch die Vernichtung der Antragsunterlagen die Beweisnot des Klägers mit herbeigeführt. Während die Beklagte die Unterlagen wohl rechtmäßiger Weise nach dem Ablauf der entsprechenden Aufbewahrungsfristen vernichten durfte, widerspricht es den Grundsätzen billiger Rücksichtnahme, wenn sie sich nun darauf beruft, dass der Kläger aufgrund dieser Vernichtung die zutreffende Beantwortung der Fragen im Antragsformular nicht mehr nachweisen können.
Zuletzt ist die Kammer auch geneigt, der Rechtsauffassung des Sozialgerichts Lüneburg in dessen Urteil vom 15. April 2016, Aktenzeichen S 34 R 426/15 zuzustimmen, wonach von den Rentenversicherungsträgern verlangt werden kann, den Personenstand im Versichertenkonto beider Ehegatten einzutragen. Da sich aus der Scheidung und dem damit im Zusammenhang stehenden Versorgungsausgleich erhebliche rechtliche Folgen ableiten, hätten die verschiedenen Rentenversicherungsträger untereinander entsprechend Eintragungen vornehmen oder Querverbindungen programmieren müssen. Auch wenn im Jahr 1996 noch weitgehend analoge Verwaltungsverfahren durchgeführt wurden, wäre ein entsprechender Vermerk in der dem Beklagten bzw. seine geschiedene Ehefrau betreffenden Verwaltungsakte durchaus möglich gewesen. Insoweit hegt die Kammer Sympathien für die dahingehende Argumentation der Klägerseite. Aufgrund der vorstehenden übrigen Erwägungen kommt es darauf jedoch im Ergebnis nicht an.
Nachdem die Beklagte durch den Rentenantrag des Klägers vom 18. Januar 1996 über das Versterben dessen geschiedener Ehefrau informiert worden war, hätte sie die Verpflichtung getroffen, den Kläger dahingehend zu beraten, dass er die Aussetzung des Versorgungsausgleichs nach § 4 VAHRG a.F. hätte beantragen können. Eine solche Beratungspflicht ergibt sich im Rentenversicherungsrecht aus § 115 Abs. 6 S. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (VI) – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI). Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen.
Zu der Beratungspflicht nach § 115 Abs. 6 SGB VI schreibt das LSG Rheinland-Pfalz in einem Urteil vom 17.2.2021 – L 6 R 186/20, BeckRS 2021, 20220 folgendes: „Nach § 115 Abs. 6 Satz 1 SGB VI sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. Diese Hinweispflicht bezieht sich dabei nicht allein auf die Möglichkeit der erstmaligen Beantragung von bislang nicht gewährten Leistungen, sondern umfasst auch die Verpflichtung zu Hinweisen auf mögliche höhere Leistungen als bislang bewilligt, sofern hierfür ein Antrag erforderlich ist. § 115 Abs. 6 SGB VI regelt einen Sonderfall der sogenannten Spontanberatung und begründet eine Hinweispflicht des Rentenversicherungsträgers nicht nur ohne ein konkretes Beratungsersuchen, sondern auch ohne den Anlass konkreter Sachbearbeitung. Der Betroffene kann im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verlangen, so gestellt zu werden, als habe er den Antrag innerhalb der Frist gestellt. Die Pflicht der Beklagten, in geeigneten Fällen Hinweise zu erteilen, setzt voraus, dass für den Versicherungsträger aus seinem Datenbestand ohne einzelfallbezogene Sachaufklärung und ohne Einschaltung eines Sachbearbeiters erkennbar ist, dass ein abgrenzbarer Kreis von Berechtigten die Anspruchsvoraussetzungen für eine Leistung erfüllt, die von solchen Personen im Regelfall in Anspruch genommen wird, und dass die Berechtigten den Rentenantrag aus Unwissenheit nicht stellen.“ Im Falle des Klägers war die Beklagte nach der Überzeugung der Kammer darüber informiert, dass die frühere Ehefrau des Klägers bereits im Jahr 1989 verstorben war. Dies hätte der Beklagten Anlass geben müssen, den Kläger hinsichtlich der Möglichkeit einer Aussetzung des Versorgungsausgleichs zu beraten.
Darüber hinaus traf die Beklagte auch die allgemeine Beratungspflicht aus § 14 SGB I. Danach hat jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch. Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind. In der Rechtsprechung ist eine Verpflichtung von Sozialleistungsträgern zur spontanen Beratung, d.h. zur Beratung von Amts wegen anerkannt, wenn sich dem Leistungsträger ein Beratungsbedarf, der zu seinem Pflichtenkreis gehört, auch ohne ausdrückliche Nachfrage aufdrängen muss. Das ist dann der Fall, wenn sich bei Vorliegen eines konkreten Anlasses eine klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeit ergibt, die sich als offensichtlich zweckmäßig aufdrängt und von jedem verständigen Versicherten mutmaßlich genutzt werden würde, wenn sie ihm bekannt wäre oder aber, wenn eine von einem Versicherten gewählte Möglichkeit evident unzweckmäßig ist und ihm auf den ersten Blick erkennbar Nachteile bringt (Jürgen Sauer in: Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar SRB, 2. Auflage 2018, § 14 SGB I, Rn. 6).
Ein solcher Fall lag anlässlich des Rentenantrags des Klägers vor. Es hätte für die Beklagte bei verständiger Würdigung offenkundig zu Tage treten müssen, dass ein Antrag auf Aussetzung des Versorgungsausgleichs für den Kläger vorteilhaft wäre, da dieser dann eine um den Versorgungsausgleich ungekürzte Rente hätte beziehen können. Die Stellung eines solchen Antrags drängte sich als offensichtlich zweckmäßig auf und diese Möglichkeit wäre von jedem verständigen Versicherten mutmaßlich genutzt worden. In dieser Situation traf die Beklagte eine Pflicht zur spontanen Beratung, sie hätte den Kläger auch ohne explizite Nachfrage auf diese Möglichkeit hinweisen müssen. Gegen diese Beratungspflichten hat die Beklagte verstoßen, sie hat den Kläger nicht auf die entsprechende Gestaltungsmöglichkeit hingewiesen.
Kausal durch das pflichtwidrige Verhalten der Beklagten ist dem Kläger ein Nachteil entstanden, da er infolge der Pflichtverletzung nicht bereits bei der Rentenantragstellung im Jahr 1996, sondern erst im Jahr 2020, nachdem er aus anderen Quellen auf die Möglichkeit der Aussetzung des Versorgungsausgleichs aufmerksam geworden war, die Aussetzung des Versorgungsausgleichs beantragte. Dies führte dazu, dass die Rente des Klägers von 1. März 1996 bis 31. März 2020 um den Versorgungsausgleich gekürzt wurde und entsprechend in geringerer Höhe, als dies bei Aussetzung des Versorgungsausgleichs der Fall gewesen wäre, an den Kläger ausgezahlt wurde. Es ist nach allgemeiner Lebenserfahrung dazu auszugehen, dass der Kläger bei zutreffender Beratung durch die Beklagte einen Antrag auf Aussetzung des Versorgungsausgleichs gestellt hätte und somit die höhere Altersrente bereits ab 1. März 1996 bezogen hätte.
Die Beklagte ist auch von Rechts wegen in der Lage, mit Mitteln die in ihrer gesetzlichen Zuständigkeit liegen, den Nachteil des Klägers zu beseitigen. Es ist der Beklagten von Rechts wegen möglich, dem Kläger die Rente in der vollen Höhe, die ihm bei Aussetzung des Versorgungsausgleichs zugestanden hätte, rückwirkend seit Rentenbeginn am 1. März 1996 auszuzahlen. Hierbei kann sich die Beklagte nicht auf die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X berufen, wonach bei Rücknahme eines Verwaltungsakts für die Vergangenheit Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht werden, denn diese Regelung ist für den im hiesigen Verfahren streitigen Anspruch nicht einschlägig. Nach der Rechtsprechung des BSG hat ein Ausgleich im Rahmen des § 4 VAHRG vollständig zu erfolgen, da eine zeitliche Begrenzung verfassungsrechtlich nicht zulässig wäre.
Hierzu führt das BSG aus:
„Hiernach darf der betroffene Versicherte über die Regelungen zum Versorgungsausgleich nicht verpflichtet werden, eine spürbare Kürzung der Rentenansprüche hinzunehmen, „ohne dass sich andererseits der Erwerb eines selbstständigen Versicherungsschutzes angemessen für den Berechtigten auswirkt. In einem solchen Fall erbringt der Verpflichtete ein Opfer, das nicht mehr dem Ausgleich zwischen den geschiedenen Ehegatten dient; es kommt vielmehr ausschließlich dem Rentenversicherungsträger, in der Sache der Solidargemeinschaft der Versicherten, zu Gute” (ganz entsprechend auch BVerfGE 80, 297 [310] = NJW 1989, 1983 = SozR 5795 § 4 Nr. 8 S. 27). Eben dies wäre aber die Folge einer Rechtsanwendung, wie sie der Bekl. vorschwebt: Je länger der Berechtigte bereits Kürzungen seiner Rentenzahlungen hätte hinnehmen müssen – und demgemäß je höher diese Einbußen ausgefallen wären –, desto weniger würde sich der Ausgleichanspruch des § 4 I oder II VAHRG zu seinen Gunsten auswirken und ein desto höherer spiegelbildlicher Vermögensvorteil beim Rentenversicherungsträger verbleiben.
Der Ausgleichsanspruch nach § 4 II i.V. mit Abs. 1 VAHRG hat zur Folge, dass der Kl. so zu stellen ist, als ob der Versorgungsausgleich – soweit er die Übertragung von Rentenanwartschaften betrifft – nicht durchgeführt worden wäre. Unabhängig davon, ob man in dieser Rechtsfolge einen „Rückfall” der Anrechte an den Ausgleichsverpflichteten sieht (vgl. BVerfGE 80, 297 [311] = NJW 1989, 1983 = SozR 5795 § 4 Nr. 8 S. 27), enthält die Regelung in § 4 I und II VAHRG jedenfalls die Fiktion, dass der rentenrechtliche Teil des Versorgungsausgleichs nicht durchgeführt worden ist. Diese Fiktion wird ausgelöst durch den Tod des verstorbenen Ausgleichsberechtigten, der keine oder nur geringe Leistungen aus den übertragenen Anwartschaften erhalten hat. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber (vgl. BT-Dr 9/2296, S. 8) die vom BVerfG geforderte Härteregelung im VAHRG vom 21. 2. 1983 geschaffen: § 4 VAHRG beseitigt die Beeinträchtigungen von Rentenanwartschaften des Ausgleichsverpflichteten, die mit der Durchführung des Versorgungsausgleichs eingetreten sind, aber dann den Eigentumsschutz des Art. 14 I 1 GG tangieren würden, wenn der Verpflichtete Kürzungen seiner Rente hinnehmen müsste, obwohl sich der Versorgungsausgleich nicht angemessen für den Ausgleichsberechtigten ausgewirkt hat.
§ 4 I VAHRG bestimmt, dass „die Versorgung des Verpflichteten und seiner Hinterbliebenen nicht auf Grund des Versorgungsausgleichs gekürzt” wird. Der Wortlaut der Vorschrift hat vordergründig die Fallgestaltung im Auge, dass die Rente des Verpflichteten erst nach dem Tode des Berechtigten beginnt; er ist jedoch – nach dem oben Dargelegten – so zu verstehen, dass auch Rentenkürzungen vor diesem Zeitpunkt auszugleichen sind. Deshalb ist der Regelung zu entnehmen, dass der Gesetzgeber zur Vermeidung grundrechtswidriger Belastungen des Ausgleichsverpflichteten einen Ausgleichsanspruch auf eine einmalige Geldleistung geschaffen hat, mit dem die Folgen einer Rentenkürzung für die Vergangenheit – mit einer Zahlung – ausgeglichen werden sollen. Der Verpflichtete soll so gestellt werden, wie er gestanden hätte, wenn er von Anfang an eine Kürzung der Rente infolge des Versorgungsausgleichs nicht hätte hinnehmen müssen (BSG, SozR 3-5795 § 4 Nr. 7).
Bei diesem Verständnis des Anspruchs aus § 4 II i.V. mit Abs. 1 VAHRG kommt eine Leistungsbegrenzung i.S. des § 48 IV i.V. mit § 44 IV SGB X von vornherein nicht in Betracht.“ (BSG, Urteil vom 12. 12. 2006 - B 13 R 33/06 R, Rn. 15.18).
Nach dieser Rechtsprechung des BSG, der sich die Kammer anschließt, ist es der Beklagten von Rechts wegen möglich, ihren Beratungsfehler bei der Rentenantragstellung durch Nachzahlung in Höhe der bis seit Stellung des Rentenantrags aufgrund des Beratungsfehlers nicht an den Kläger gezahlten Altersrente zu korrigieren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.